DIGITALISIERUNG | «Grosses Potenzial für Inklusion»
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Die vielen kleineren Organisationen im Sozialbereich haben bei der Umsetzung digitaler Projekte besondere Herausforderungen zu meistern. Christoph Collins, Geschäftsführer einer kleinen Institution im Kinder- und Jugendbereich, sowie Sarah Bestgen, Dozentin an der FHNW, erläutern im Gespräch, wie man diesen begegnen kann, und erörtern die Chancen der Digitalisierung.
Herr Collins, Sie leiten mit Skills2Go eine kleine Kinder- und Jugendinstitution in Therwil BL. Welche Vorteile bietet die Digitalisierung in Ihrem Betrieb?
Christoph Collins: Als sehr nützlich empfinde ich die Möglichkeiten, welche uns die Digitalisierung beim Austausch von Informationen eröffnet. Über die digitalen Kanäle kommen wir rasch an Informationen heran und können diese auch unkompliziert mit anderen teilen. Das führt dann dazu, dass die Mitarbeitenden mehr Zeit für die Betreuungsarbeit einsetzen können. Die digitalen Kanäle haben ganz besonders auch im Austausch mit Mitarbeitenden eine grosse Bedeutung, die ausser Haus in der Familienbegleitung tätig sind. Wir stärken damit das Teamgefühl.
Sie betonen die Möglichkeiten für den Informationsaustausch – zwischen den Mitarbeitenden. Wo sehen Sie weitere Chancen?
Collins: Dank digitalen Ablagesystemen sind die relevanten Dokumente und Weisungen für die Einarbeitung und Weiterbildung von Mitarbeitenden immer sofort verfügbar. Ein grosser Vorteil sehe ich weiter in der Einrichtung spezifischer Kanäle, zum Beispiel für die Geschäftsleitung oder die verschiedenen Gruppen von Mitarbeitenden, die auf diese Weise sie betreffende Dokumente und Angelegenheiten gemeinsam bearbeiten können. Zurzeit interessiere ich mich sehr für die Möglichkeiten, welche die Künstliche Intelligenz, die KI, bietet.
Welche Einsatzbereiche sehen Sie für KI-Anwendungen?
Collins: Auf WhatsApp habe ich ChatGPT integriert und kann damit auch chatten. Ich kann ChatGPT zum Beispiel mit bestimmen Vorgaben füttern und so die Tagesstruktur für einen Jugendlichen erarbeiten. Ich erhalte auf diese Weise sehr schnell einen ersten Vorschlag und kann diesen bei Bedarf mit weiteren Eingaben präzisieren. Wichtig ist, dass ich selbst fachlich kompetent bin. ChatGPT ermöglicht mir aber eine grosse Zeitersparnis. Neben solch klassischen KI-Anwendungen würde mich auch die Programmierung einer internen KI sehr interessieren: Auf diese Weise liessen sich sehr rasch Antworten auch Fragen finden, die sich uns intern immer wieder stellen.
«Bei Software-Lösungen für die Digitalisierung betrieblicher Prozesse vermisse ich eine Vergleichsplattform, über die ich mich rasch informieren kann, was es alles gibt und welche Lösung am besten zu mir passt.» Christoph Collins, Geschäftsführer Skills2Go in Therwil BL
Noch nicht erwähnt haben Sie, wie die Digitalisierung zu mehr Effizienz bei sämtlichen betrieblichen Prozessen beitragen kann. Wie steht es damit?
Collins: Alles, was ich bis jetzt erwähnt habe, lässt sich – mit Ausnahme der Programmierung einer internen KI – in einer kleinen Institution rasch umsetzen, wenn auch mit gewissen Abstrichen. Der Kauf und die Implementierung von Software-Lösungen für die Digitalisierung betrieblicher Prozesse, von der Buchhaltung über die Personaladministration bis hin zur Einsatzplanung, werden schnell einmal teuer und zeitaufwendig. Es gibt hier zudem auch viele verschiedenen Anbieter. Ich vermisse eine Vergleichsplattform, über die ich mich rasch informieren kann, was es alles gibt und welche Lösung am besten zu mir passt.
Sie sind im Vorstand des Fachverbands sozialpädagogischer Kleininstitutionen Schweiz: Decken sich Ihre Erfahrungen mit jenen Ihrer Kolleginnen und Kollegen?
Collins: Die Hauptprobleme sind die gleichen wie bei uns, gerade auch was den Kauf von Software-Lösungen betrifft. Dies führt dazu, dass bei einigen solche Projekte auf der Pendenzenliste nach hinten rutschen. Gerade auch kleine Institutionen müssen darauf achten, wie sie ihre zeitlichen und finanziellen Ressourcen einsetzen. In erster Linie besteht unsere Arbeit in der Betreuung und Begleitung.
«Eine Organisation, die Kinder und Jugendliche begleitet, muss sich mit Fragen der Medienkompetenz beschäftigen. Es gehört zum sozialpädagogischen Auftrag, die komplexe Lebenswelt der Zielgruppe adäquat zu erfassen und in die eigenen Kompetenzen zu integrieren.» Sarah Bestgen, Dozentin FHNW
Frau Bestgen, Sie erforschen den digitalen Transformationsprozess gerade auch in kleinen Institutionen der Sozialen Arbeit. Wo stehen diese Institutionen heute?
Sarah Bestgen: Grössere Institutionen sind finanziell besser ausgestattet. Bei jedem Transformationsprozess stellt sich die Frage nach den personellen und finanziellen Ressourcen. Dazu gehört auch, welche Expertise jemand schon im Haus hat: Habe ich Personen, die den Prozess vorantreiben können oder eben nicht? Zentral ist dabei die Leitungsebene. Digitalisierung wird in der Regel von oben nach unten eingeführt. Zentral sind weiter die Netzwerke, die einer Institution zur Verfügung stehen. Grössere Institutionen verfügen in der Regel über bessere Netzwerke. In unseren Forschungen interessiert uns ganz besonders, was im Bereich der Sozialen Arbeit unter Digitalisierung überhaupt zu verstehen ist.
Was schliesst Digitalisierung in der Sozialen Arbeit alles ein?
Bestgen: Im Nachgang zu einer Umfrage unter Organisationen der Sozialen Arbeit haben wir versucht, eine Ordnung in die Daten zu bringen und haben drei Digitalisierungsbereiche identifiziert: 1. Der Blick nach innen: Dieser betrifft zum Beispiel das Prozessmanagement und den Informationsfluss. 2. Angebote für Klientinnen und Klienten: Hier geht es etwa um Videoberatung und Chatberatung. 3. Die Aussenwirkung: Hier geht es um die digitale Sichtbarkeit, die Webpräsenz, die Kommunikation nach aussen. Ganz besonders auch, wie mich Zuweisende sowie Klientinnen und Klienten finden können.
Haben digitale Kanäle bezogen auf Klientinnen und Klienten ganz besonders im ambulanten Bereich eine wichtige Bedeutung?
Bestgen: Im stationären Bereich steht man in der Regel in einem engen physischen Kontakt mit den begleiteten Menschen. Im ambulanten Bereich ist die Erreichbarkeit nicht selbstverständlich gegeben, gerade bei Menschen, die nicht sehr mobil sind. Die Digitalisierung ist hier eine riesige Chance, um diese Menschen niederschwellig zu erreichen.
Sie sprechen hier Video- und Chatberatungen an?
Bestgen: Bereits vor Covid und ganz besonders in den letzten Jahren haben wir als Hochschule sehr viele Anfragen von unterschiedlichen Organisationen zu Video- und Chatberatungen
Unsere Gesprächspartner
- Christoph Collins, Jg. 1974, ist diplomierter Sozialpädagoge HF und arbeitet als Geschäftsführer von Skills2Go, einer Kinder und Jugendinstitution in Therwil BL.
- Sarah Bestgen, Jg. 1983, hat Sozialarbeit und Sozialpolitik an der Universität Fribourg studiert (MasterAbschluss).Sie ist Dozentin am Institut Beratung, Coaching und Sozialmanagement an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW. Sie leitet dort unter anderem einen MAS Studiengang in Sozialmanagement und forscht im Themenfeld Digitalisierung.