DIGITALISIERUNG | Vergleiche über die Kantone hinweg

Institutionen für Menschen mit Behinderung sollen künftig ein Set an standardisierten Daten auf einer kantonsübergreifenden Plattform einspeisen können. Im Verlauf dieses Jahres wird diese digitale Plattform, das Reporting-Tool, entwickelt: Rahel Jakovina, Projektleiterin von ARTISET / INSOS, sowie die Praxisvertreter Thomas Kenel und Alain Thomann, Geschäftsführer von zwei grossen Behinderteninstitutionen, erläutern das Potenzial.
Die Finanzierung der Arbeit von Leistungserbringern im Gesundheits- und Sozialbereich ist eine ständige Herausforderung, heute und in den nächsten Jahrzehnten. Viele Menschen mit oder ohne Behinderung werden aufgrund ihres Alters auf professionelle Unterstützung angewiesen sein. Dies erfordert entsprechende finanzielle Mittel. Hinzu kommt, dass sich die Bedürfnisse der Menschen mit Unterstützungsbedarf verändern, womit neue Angebotsstrukturen gefragt sind. Vor diesem Hintergrund steigt sowohl für die öffentliche Hand als auch für Dienstleister der Druck, die knappen Ressourcen möglichst effizient einzusetzen und in zukunftsfähige Angebote zu investieren.
Um effiziente Strukturen zu identifizieren und Entwicklungen innerhalb der Branche möglichst frühzeitig zu erkennen, kann eine kantonsübergreifende digitale Datenbank, die von den Leistungserbringern mit aussagekräftigen und standardisierten Kennzahlen gefüttert wird, wertvolle Unterstützung leisten. Für den Sozialbereich entwickelt ARTISET mit dem Branchenverband INSOS sowie drei Fachhochschulen ein solches Reporting-Tool. Im Fokus des Projekts stehen dabei insbesondere Einrichtungen im Bereich Behinderung. Das Tool basiert zurzeit auf einem kleinen Set von quantitativen, finanz- und personalbezogenen Daten, die in allen Kantonen in etwa gleich erhoben werden. Künftig sollen auch qualitative Daten wie die Zufriedenheit von Mitarbeitenden oder von Klientinnen und Klienten, integriert werden.
Institutionen können voneinander lernen
Für das Basismodell werde im laufenden Jahr mit der ARTISET-Tochter Besa Qsys AG eine IT-Umsetzungslösung erarbeitet, sagt Rahel Jakovina, Projektleiterin vonseiten des Branchenverbands INSOS. Das Reporting-Tool soll das vergleichende Lernen ermöglichen, benennt sie den Nutzen. «Die einzelnen Organisationen können die eigenen Kennzahlen mit dem Durchschnittswert des eigenen Kantons sowie der Region und der Schweiz vergleichen.» Mittels verschiedener Filter sei es zudem möglich, sich mit ähnlich grossen und in ähnlichen Bereichen tätigen Institutionen zu vergleichen.
«Mit klaren Daten hinterlegt, können wir unsere Angebotsstrategien längerfristig und auf Augenhöhe mit dem Kanton planen.» Thomas Kenel. Geschäftsführer der Stiftung Behindertenbetriebe Uri
Involviert in die Entwicklung des Tools sind neben ARTISET/ INSOS sowie der Fachhochschule Nordwestschweiz, der Fernfachhochschule Schweiz und der Hochschule Luzern auch Vertretungen aus der Praxis. Zu diesen gehören Thomas Kenel, Geschäftsführer der Stiftung Behindertenbetriebe Uri (SBU) und Alain Thomann, Geschäftsführer der Altra Schaffhausen. Bei beiden handelt es sich um grosse Organisationen, wo viele Menschen mit ganz unterschiedlichen Behinderungen leben und arbeiten und von Fachpersonen mit verschiedenen Spezialisierungen begleitet und betreut werden.
Kenel und Thomann betonen beide, dass es mit dem Reporting-Tool und den standardisiert erhobenen Daten erstmals möglich sein wird, den eigenen Betrieb mit anderen Organisationen zu vergleichen, innerhalb des Kantons und ganz besonders auch über die Kantonsgrenzen hinweg. «Solche Vergleiche mit anderen Institutionen sind wichtig, um uns als Institutionen verbessern und weiterentwickeln zu können», sagt etwa Thomas Kenel von den Behindertenbetrieben Uri. Gerade der kantonsübergreifende Vergleich helfe den Institutionen zudem in der Argumentation mit den kantonalen Behörden.
«Mit dem Reporting-Tool können wir als soziale Institutionen den Kantonen etwas entgegenhalten», unterstreicht Alain Thomann, Geschäftsführer der Altra Schaffhausen. Die Kantone vergleichen sich nämlich heute schon untereinander – und zwar über den nicht-öffentlichen Kennzahlenvergleich (Keve), der sich auf die kantonalen Tarife für die jeweiligen Stufen des Bedarfserhebungsinstruments IBB (=individueller Betreuungsbedarf) bezieht.
Eine Schwierigkeit des praktisch in der ganzen Deutschschweiz eingeführten IBB bestehe, so Thomann, etwa darin, dass die verschiedenen Institutionen unterschiedliche Traditionen haben. So ist es wichtig zu verstehen, ob eine Institution zum Beispiel eigene oder gemietete Liegenschaften betreibt und bei eigenen Liegenschaften, wie diese finanziert wurden oder werden. Dadurch sind die einen auf weniger öffentliche Gelder angewiesen als andere. Thomann: «Dann heisst es schnell einmal an die Adresse von Institutionen, die ohne eigene Liegenschaften klarkommen: Ihr bekommt künftig auch weniger Geld.» Thomas Kenel sieht das Problem darin, dass der IBB in den Kantonen nicht überall gleich umgesetzt wird. So gebe es allein in den sechs Kantonen der Zentralschweiz sechs Umsetzungslösungen, was einen kantonsübergreifenden Vergleich erschwere.
«Der Vergleich mit anderen Institutionen hilft dabei, blinde Flecken zu erkennen und sich selbst kritische Fragen zu stellen.» Alain Thomann, Geschäftsführer der Altra Schaffhausen
Branche nimmt sich selbst in die Pflicht
Das von der Branche selbst ins Leben gerufene Reporting-Tool soll auf der Grundlage standardisierter Kennzahlen verhindern, dass Äpfel mit Birnen verglichen werden. Zudem nimmt sich die Branche damit selbst in die Pflicht – ohne von den Behörden auf nationaler oder kantonaler Ebene dazu angehalten zu sein. Das bedeutet wiederum, dass die Datenhoheit bei der Branche respektive den sozialen Institutionen liegt. Ein Faktum, das für Thomas Kenel besonders wertvoll ist, weil die Institutionen damit selbst steuern können, aufgrund welcher Daten sie sich vergleichen.
Bereits das Basismodell mit betriebswirtschaftlich ausgerichteten Kennzahlen wird gemäss Kenel und Thomann durchaus interessante Unterschiede zwischen den Institutionen zutage fördern: Sichtbar gemacht werde etwa, wie hoch in den Institutionen die Personalkosten ausfallen. Kenel: «Die Institutionen müssen sich dann überlegen, wie sich die Unterschiede erklären.» Diese können, so Kenel, drauf zurückzuführen sein, dass eine Institution weniger effizient arbeitet als eine andere. Die Unterschiede haben womöglich auch mit der Art der Klientel zu tun: «Bei den Behindertenbetrieben Uri benötigen wir aufgrund einer sehr breiten Vielfalt von Behinderungen viele speziell ausgebildete Fachpersonen.»
Besonders interessant ist für die beiden Geschäftsführer der Vergleich über die Zeit hinweg. Kenel: «Als Behindertenbetriebe Uri kommen wir dann vielleicht zum Schluss, dass Menschen mit sehr komplexen Behinderungen besser und auch effizienter in einer entsprechend spezialisierten Institution im Nachbarkanton begleitet werden können.»
«Ein enormes Potenzial»
Thomas Kenel erkennt im Reporting-Tool ein «enormes Potenzial», auch um schweizweite Entwicklungen frühzeitig zu erkennen und darauf adäquat zu reagieren. «Mit klaren Daten hinterlegt, können wir unsere Angebotsstrategien längerfristig und auf Augenhöhe mit dem Kanton planen.» Er spricht damit die derzeit vor allem in den Nachbarkantonen von Uri zu beobachtende Tendenz hin zu ambulanten Wohnbegleitungen an. «Gemeinsam mit dem Kanton müssen wir uns dann überlegen, wie wir mit dieser Entwicklung, die auch uns betreffen wird, umgehen wollen.»
Alain Thomann sieht in seiner eigenen Institution etwa einen klaren Trend weg von der Tagesstruktur mit Lohn hin zu Jobcoaching-Modellen einerseits und zu Tagesstrukturen ohne Lohn andererseits. «Wenn wir solche Bewegungen auch in anderen Kantonen mit konkreten Daten belegen können, dann haben wir eine bessere Argumentationsgrundlage gegenüber den Behörden.»
Die mit dem Reporting-Tool einhergehende Transparenz bedeutet für die Institutionen gemäss Thomann und Kenel eine Herausforderung und Chance zugleich. Thomann: «Der Vergleich mit anderen Institutionen hilft dabei, blinde Flecken zu erkennen und sich selbst kritische Fragen zu stellen.» Jede Institution habe ja den Auftrag, ein Angebot zu schaffen, das finanzierbar ist und nachgefragt wird. Die beiden Geschäftsführer halten dabei fest, dass die Institutionen mit der Interpretation ihrer Zahlen nicht alleingelassen werden dürfen. Für die nötigen Hilfestellungen sehen sie den Verband und auch die Wissenschaft in der Pflicht.
Standardisierung – eine Herausforderung
Das Kernstück des Reporting-Tools ist das Kenngrössenmodell, also ein Set an Daten, mit denen das Tool zwecks Vergleichs gespeist wird. Auch wenn das Reporting-Tool zunächst nur mit einem kleinen Datenset an den Start gehen wird, sei bereits, wie Co-Projektleiterin Rahel Jakovina ausführt, ein umfassendes Kenngrössenmodell ausgearbeitet worden. «Wir haben in den letzten Jahren zu diesem Zweck mit den Kantonen und mit Praxisvertretenden viele Gespräche geführt, um herauszufinden, welche Kenngrössen für die Entwicklung der Branche wirklich relevant sind.»
Die Institutionen müssen heute, so Jakovina, den Kantonen zwar sehr viele Zahlen rapportieren, ohne aber immer den Sinn und Zweck davon zu kennen. Zudem haben die Institutionen keine Hoheit über die gesammelten Daten und oft auch keinen Zugang dazu, wodurch es nur schwer möglich ist, Vergleiche über längerer Zeit hinweg zu machen. Vor diesem Hintergrund sei die Idee für das Reporting-Tool entstanden.
Bei der Arbeit zur Identifizierung relevanter Kenngrössen ist gemäss Jakovina schnell klar geworden, dass innerhalb der Branche zwei grundlegende Probleme bestehen, die einen Vergleich der Daten über die Kantonsgrenzen hinaus stark erschwerten. So fehle zurzeit in vielen Themenbereichen sowohl eine inhaltliche als auch eine technische Standardisierung. Anders als etwa bei den medizinischen Qualitätsindikatoren im Pflegebereich gebe es bei den Kenngrössen im Sozialbereich kaum schweizweit einheitliche Definitionen. Und die Daten und Informationen werden in den Institutionen in sehr vielen verschiedenen Systemen auf unterschiedliche Art und Weise gespeichert.
Möglichst viele Institutionen an Bord holen
Die Startversion des Reporting-Tools soll bei der Lösung beider Probleme wichtige Pflöcke einschlagen. Das in Zusammenarbeit mit den Praxisvertretungen bereits definierte Startset an Kenngrössen umfasst Daten, bei denen über alle Kantone hinweg in etwa klar ist, was damit gemeint ist: Zahlen den Aufwand betreffend etwa, oder Zahlen zum Personalbestand und zur Fluktuation. «Aber auch bei solchen Zahlen werden wir wahrscheinlich feststellen müssen, dass nicht überall das Gleiche verstanden wird und wir auch diese Daten weiter verfeinern müssen.» Auf der technischen Seite, bei der in Entwicklung begriffenen IT-Umsetzungslösung, muss es darum gehen, ein möglichst anwenderfreundliches Tool zu entwickeln, das Importe aus unterschiedlichsten Systemen erlaubt.
«Bereits zu Beginn wird das Reporting-Tool einen Nutzen für die teilnehmenden Institutionen haben», unterstreicht Jakovina. Ganz besonders dann, wenn möglichst viele Organisationen mitmachen. Die Kosten für die Institutionen sollen so gestaltet sein, dass eine Teilnahme für diese gut möglich ist. Jakovina: «Zusätzlich zum eigenen Nutzen werden die teilnehmenden Institutionen die Weiterentwicklung der Branchen unterstützen.» Im Lauf der Zeit soll das Basismodell mit weiteren Daten angereichert werden. «In Zusammenarbeit mit der Praxis werden diese dann inhaltlich immer klarer definiert.» Auf diese Weise werden das Tool und damit auch der Nutzen vergrössert.
Daten gewinnen für die politische Steuerung immer mehr an Bedeutung. «Im Sozialbereich haben wir aber die Grundlagen dafür noch nicht.» Mit dem Reporting-Tool soll jetzt ein Anfang geschaffen werden.
Foto: Themenbild / Adobe Stock