HERAUSFORDERNDES VERHALTEN | «Die Person schätzen und ihr auf Augenhöhe begegnen»

06.11.2024 Elisabeth Seifert

Menschen mit Demenz zeigen Verhaltensauffälligkeiten, die gerade auch innerhalb eines Pflegeheims sehr belastend sein können. Franziska Zúñiga und Brigitte Benkert, Pflegewissenschaftlerinnen an der Uni Basel*, erörtern die Problematik – und zeigen auf, was die Politik und die ­Heime unternehmen können, um belastende Situationen möglichst zu reduzieren.

Frau Zúñiga, Frau Benkert: Heraus­forderndes Verhalten kommt bei Menschen mit Demenz häufig vor. Warum eigentlich?

Franziska Zúñiga: Demenz ist eine chronisch fortschreitende Hirnerkrankung. Es können verschiedene Bereiche im zentralen Nervensystem betroffen sind. Je nach betroffener Hirnregion kann neben den kogni­tiven Symptomen eine Vielfalt von Begleitsymptomen auftreten. Man spricht hier von den BPSD-Symptomen, den Behavioural and Psychological Symptoms of Dementia.


Können Sie diese Symptome ­näher erläutern?

Zúñiga: Es geht um Symptome im Bereich des Verhaltens und der Psyche. Zu den BPSD-Symptomen auf der Seite des Verhaltens gehören unter anderem Agitation, Aggression, sozialer Rückzug, Apathie, Herumwandern oder sexuelle Enthemmung. Bei den psychologischen Symptomen handelt es sich zum Beispiel um Depression, Euphorie, Angst, Wahn und Halluzinationen.

Brigitte Benkert: Man spricht beispielsweise auch von affektiv bedingten BPSD-Symptomen wie Depression, Apathie, Angst, Affektlabilität und Reizbarkeit; von psychotischen Symptomen, wozu Wahn und Halluzination gehören; von psychomotorischen Symp­­tomen, wie Bewegungsdrang, Agita­tion und Aggressivität; und von Schlafveränderungen, wie der zirkadian bedingten Tag-Nacht-Umkehr, sowie dem Sun­downing Syndrom.


Etliche dieser Symptome können gerade auch innerhalb eines ­Pflegeheims zu einer grossen Herausforderung führen.

Benkert: Ein Stressfaktor für das Pflegepersonal ist gerade auch die Tag-Nacht-Umkehr. In der Nacht ist der Personalspiegel tiefer. Die Nachtwachen auf den Stationen können keine Beschäftigung und Eins-zu-eins-Betreuung wie am Tag anbieten. In der Folge löst dies oft aggressives Verhalten aus.

Zúñiga: Belastend ist es auch, wenn jemand dauernd ruft oder schreit. Oder wenn jemand sehr unruhig ist, ständig herumwandert und auch in die Zimmer anderer Bewohnenden geht. Auch aggressives Verhalten wie Kneifen, Zwicken oder Schlagen sowie die sexuelle Enthemmung bedeuten eine grosse Herausforderung.


Wie oft kommen die BPSD-­Symptome vor?

Zúñiga: Apathie und Depression kommen am häufigsten vor. Im Vordergrund stehen damit oft gar nicht unbedingt die für ein Heim besonders belastenden Symptome wie das Herumwandern oder Aggressionen.

Benkert: Je nach Krankheit und je nach dem Stadium der Krankheit verändern sich die Symptome. Bei einer leichteren Demenz treten weniger Verhaltensauffälligkeiten auf als bei einer mittleren Demenz. Und bei einem ganz schweren Verlauf respektive im Endstadium der Erkrankung tritt zum Beispiel der Bewegungsdrang wiederum in den Hintergrund, im Vordergrund stehen dann oft Depression und Apathie.


Was lässt sich gerade bei den für das Pflegepersonal und auch die anderen Bewohnenden ­besonders belastenden Symptomen unternehmen?

Zúñiga: Es ist zunächst sehr wichtig, sich zu fragen, wo die Auslöser für solche Verhaltensweisen liegen. Auslöser für BPSD-­Symptome sind einerseits hirnorganisch bedingt und lassen sich nicht beeinflussen. Zum anderen aber sind die Auslöser abhängig vom Kontext und können durch die Pflege beeinflusst werden.


Welches sind die veränderbaren respektive beeinflussbaren ­Auslöser?

Zúñiga: Akute medizinische Probleme, wie etwa Schmerzen, können herausforderndes Verhalten auslösen, weil ein Bewohner oder eine Bewohnerin sich nicht anders ausdrücken kann. Es können aber auch unbefriedigte physische Bedürfnisse sein, zum Beispiel Durst oder Hunger. Weiter können sich hinter einem herausfordernden Verhalten auch bestimmte psychische, emotionale oder soziale Bedürfnisse verbergen. Jemand fühlt sich womöglich zu wenig wahrgenommen. Vielleicht gehen diese auch zurück auf bestimmte sensorische Beeinträchtigungen, also wenn Bewohnende nicht mehr gut hören oder sehen. In all diesen Fällen können die Pflegenden einiges unternehmen, damit es den Bewohnenden besser geht.


Die veränderbaren Auslöser sind sehr breit gefächert. Es ist für die Pflege wohl eine recht schwierige Aufgabe herauszufinden, was es ist?

Zúñiga: Es gibt gute Hilfsmittel, um bei der Abklärung der Auslöser behilflich zu sein; zum Beispiel das Instrument «Serial Trial Intervention». Dabei geht es in einem ersten wichtigen Schritt darum, das Verhalten genau zu analysieren, um die auslösenden Faktoren zu verstehen. In weiteren Schritten geht es dann darum, Massnahmen zu planen, umzusetzen und zu evaluieren.


Können Sie das konkretisieren?

Zúñiga: In einem ersten Schritt gilt es zu klären, ob akute medizinische und physische Probleme der Auslöser sind, und diese dann entsprechend anzugehen. Sollte dies nicht helfen, werden in einem zweiten Schritt affektive Themen angeschaut: Hier sind dann ganz besonders Massnahmen auf Seiten der Pflegenden und Betreuenden gefragt, damit es den Bewohnenden besser geht. Es werden nicht-pharmakologische Massnahmen ausprobiert oder, in einem weiteren Schritt, versuchsweise Schmerzmittel gegeben. Erst ganz am Schluss, wenn all diese Massnahmen nichts nützen, können Antipsychotika eingesetzt werden.


Setzen die Pflegeheime Medikamente wie Antipsychotika erst dann ein, wenn alle anderen Massnahmen nichts nützen?

Zúñiga: In den Gesprächen mit Pflege­heimen sehe ich immer wieder, dass die Priorität der nicht-pharmakologischen Massnahmen eigentlich klar ist. Es fehlt meines Erachtens weniger das Wissen. Die Herausforderung im Alltag ist vielmehr, dass oft das Personal für die nötige Betreuung und Begleitung fehlt.
 

Antipsychotika werden also öfter verabreicht, als dies an­ge­zeigt wäre?

Zúñiga: Es gibt Situationen, in denen Antipsychotika vorübergehend gut sind. Und zwar in Extremsituationen, in denen jemand sich selbst oder andere gefährdet. Bis man herausgefunden hat, wie man mit einer solchen Situation umgehen soll, können Antipsychotika vorübergehend Sinn machen. Dann muss man diese aber auch wieder absetzen. Aber ja, wenn man die Antipsychotika-Rate in der Schweiz anschaut, dann ist diese hoch. Wir haben hier ein Thema, die Heime können dieses aber nicht allein angehen.

Benkert: Um Antipsychotika reduzieren zu können, ist die Pflege ganz besonders auf Ärztinnen und Ärzte angewiesen, die das nötige Wissen darüber haben, welche Antipsychotika in welchen Situationen eingesetzt werden können und welche nicht. Wir stellen fest, dass oft das Hausarztsystem ein Problem darstellt und dass weniger Antipsychotika zum Einsatz kommen, wenn ein Heim Zugang hat zu Heimärztinnen und Heimärzten, die ein vertieftes geriatrisches Wissen mitbringen. Wichtig ist auch der Zugang zu spezialisierten Ärzten und Ärztinnen der Geriatrie, der Gerontopsychiatrie.


Wo liegt die Problematik des ­Einsatzes von Antipsychotika?

Zúñiga: Antipsychotika erhöhen die Mortalität der Bewohnenden, sie erhöhen auch das Risiko für cerebrovaskuläre Ereignisse, etwa Hirnschlag, Pneumonie und Stürze. Und zudem: Antipsychotika haben einen starken Effekt auf die Psyche, sie verändern das Denken, und der kognitive Abbau wird verstärkt.

Benkert: Aus diesen Gründen wird in den Richtlinien die Verabreichung sehr genau definiert. Es braucht unter anderem eine gesicherte und differen­zierte Diagnostik. Und zudem, wie wir bereits gesagt haben, dürfen diese Medikamente erst dann eingesetzt werden, wenn alle nicht-medikamentösen Massnahmen nichts nützen. Und ganz wichtig ist es auch, die Verabreichung zu evaluieren und die Medikamente wieder abzusetzen.


Was ist zu tun?

Zúñiga: Auf der politischen Ebene könnte man sich überlegen, Anreizsysteme einführen, um die Antipsycho­tika-Rate zu reduzieren. Dies würde beinhalten, dass man zunächst einmal überhaupt misst, wie viele Antipsychotika verabreicht werden. Gewisse Kantone, zum Beispiel Basel-Stadt und Freiburg, machen das bereits.


Hat eine solche Messung dann zur Folge, dass mehr ­Ressourcen gesprochen werden?

Zúñiga: Mit einer solchen Messung schafft man zunächst Transparenz als Basis für Anreize. Die Kantone könnten dann Zuschläge zusprechen für Abteilungen, die sich auf Menschen mit Demenz und BPSD konzentrieren und dies belegen können. Die Kantone könnten also etwas unternehmen, damit Menschen mit Demenz die Betreuung bekommen, die sie brauchen. Und zudem müssen wir den Zugang zur Fachexpertise verbessern.

Benkert: Die Finanzierung ist gerade auch in der Betreuung von Menschen mit Demenz ein grosses Thema. Sie hat einen direkten Einfluss auf den Stellenschlüssel und auch darauf, ob ein Heim einen Fachexperten oder eine Fach­expertin anstellen kann.


Es braucht einen verbesserten Zugang zur Fachexpertise, besonders zu einem spezialisierten Heimarzt oder einer Heimärztin. Wie wird das möglich?

Zúñiga: Neben der Finanzierung besteht ein weiteres Problem darin, dass der Fachkräftemangel auch die Gerontopsychiatrie betrifft. Auf diesem Gebiet fehlt der Nachwuchs. Wir müssen zum einen dafür sorgen, dass es wieder vermehrt entsprechende Fachärztinnen und Fachärzte gibt. Und zum anderen müssen wir regionale Netzwerke schaffen, die einen Zugang zur Gerontopsychiatrie ermöglichen. Solche regionalen Organisationen könnten die Kantone an die Hand nehmen, eventuell in Zusammenarbeit mit Kantonalverbänden.


Um die Pflegeheime zu unter­stützen, überarbeiten Sie derzeit gemeinsam mit dem Branchenverband Curaviva einen Leitfaden, der den Pflegenden vor Ort ­helfen soll, herausforderndem Verhalten zu begegnen. Was gibt es hier für Möglichkeiten?

Zúñiga: Wie ich bereits erwähnt habe, werden wir in diesem Leitfaden aufzeigen, wie wichtig ein strukturiertes Vorgehen ist, um eine Situation zuerst zu analysieren und dann die zielführenden Massnahmen zu definieren. Zum Beispiel mit dem genannten Instrument «Serial Trial Intervention». Zudem wollen wir ansprechen, dass der Umgang mit BPSD ein interprofessionelles Thema ist. Die Pflegenden haben eine wichtige Rolle. Je nach Situation braucht es eine zusätzliche Fachexpertise, den Zugang zu einer Pflegeexpertin zum Beispiel oder zu einem Geronto­psychiater. Weiter ist entscheidend, dass die Behandlung von BPSD-Symp­tomen eingebettet ist in eine personenzentrierte Pflege.


Weshalb ist eine solche personenzentrierte Pflege und Betreuung gerade bei Menschen mit Demenz so wichtig?

Zúñiga: Personenzentriertheit hat neben einem bestimmten Fachwissen vor allem mit einer Grundhaltung zu tun. Man geht dann davon aus, dass ein Mensch mit Demenz, der mich schlägt, mir nicht einfach etwas Böses tun will. Sondern ich weiss, dass es einen bestimmten Auslöser für sein Verhalten gibt. Personenzentriertheit heisst, dass ich interessiert bin an der Person und seiner Geschichte. Ich möchte herausfinden, was ihn oder sie beschäftigt. Und aus dieser Grundhaltung heraus eröffnen sich mir Handlungsmöglichkeiten.

Benkert: Es geht darum, einen Menschen mit Demenz als Person ernst zu nehmen, sie zu schätzen und ihr auf Augenhöhe zu begegnen. Im Umgang mit Menschen mit Demenz ist eine besonders wertschätzende Art der Kommunikation erforderlich, geeignet ist hier die Anwendung der Validation. Die Haltung und der Blickwinkel der Pflegenden verändern sich, wenn die Methode der Validation angewendet wird. Der Blick richtet sich auf die Persönlichkeit und ihre Ressourcen und ist weniger auf bestimmte Symptome und Defizite fokussiert. Die Pflegenden erkennen Bedürfnisse besser und können entsprechend handeln.


Welche Rolle spielen neben einer personenzentrierten Pflege auch nicht-pharmakologische Therapien?

Benkert: Mit solchen Therapien lassen sich Emotionen regulieren. Musik hören, musizieren und sich zur Musik bewegen können Angebote sein, die helfen. Auf Demenzabteilungen hat man auch festgestellt, dass das gemeinsame Singen positive Gefühle auslöst. Erfahrungen und auch Studien belegen weiter den Wert der Aroma­pflege: Orange wirkt etwa schlaffördernd und Lavendel beruhigend. Im Leitfaden, den wir derzeit überarbeiten, kommen verschiedene solcher Therapien zur Sprache. Solche Therapien lassen sich gut im Alltag einbauen, ohne dass man dafür Therapeuten von aussen ins Haus holen muss.

Zúñiga: Wenn man dann doch zum Schluss kommt, dass man zumindest vorübergehend Antipsychotika einsetzen muss, gilt es, gewisse Grundregeln einzuhalten. Der Leitfaden wird auch hierzu Empfehlungen abgeben. Dazu gehört etwa, dass man die Medikamente langsam erhöht, aber immer bei einer möglichst tiefen Dosis bleibt. Zudem braucht es eine regelmässige Evaluation und es muss immer das Ziel sein, die Medikamente möglichst schnell wieder abzusetzen.
 


Behaviorale und psychische Symptome der Demenz – Das Buch

Das im September publizierte Manual «Behaviorale und psychische Symptome der Demenz (BPSD)» bietet einen umfassenden Einblick in die evidenzbasierten Interventionsmöglichkeiten für eine hochkomplexe und vulnerable Patientengruppe. Es dient als wertvolles Instrument für Fachkräfte aus verschiedenen Bereichen, um den aktuellen Stand der Behandlung von Verhaltens- und psychischen Symptomen bei Demenz darzustellen und die interprofessionelle Zusammenarbeit zu fördern sowie die Versorgung älterer Menschen mit psychischen Erkrankungen zu verbessern.

Egemen Savaskan, Dan Georgescu, Franziska Zúñiga (Hrsg.), Behaviorale und psychische Symptome der Demenz (BPSD). Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie. Hogrefe, 1. Aufl. 2024, 272 Seiten, 58.50 Franken


Unsere Gesprächspartnerinnen

Franziska Zúñiga, Prof. Dr., leitet den Bereich Lehre am Institut für Pflegewissenschaft der Medizinischen Fakultät der Universität Basel.

Brigitte Benkert, MScN in Pflegewissenschaft, ist Projektmitarbeitende am Institut für Pflegewissenschaft.