SELBSTBESTIMMUNG | Pionierarbeit fürs Leben

12.06.2024 Salomé Zimmermann

Natascha Oberholzer und Donato Lorusso leben seit über zwanzig Jahren selbständig in einer gemeinsamen Wohnung. Sie gehörten zudem zu den ersten Mitarbeitenden des ersten inklusiven Hotels in der Schweiz. Die beiden erzählen von ihren Erfahrungen damals und heute und wie sie ihre Selbständigkeit im Alltag einschätzen.

Mitten in der Stadt St. Gallen an zentralster Lage steht das Hotel Dom. Es bietet eine Arbeitsstätte für Menschen mit Beeinträchtigungen – und das seit 26 Jahren. Während das Konzept heutzutage auch andernorts verbreitet ist, war das Hotel Dom in den 90er-Jahren das erste Hotel der Schweiz mit inklusiver Belegschaft. «Es brauchte den Mut der ersten Mitarbeitenden, dieses Experiment zu wagen – ohne zu wissen, ob das Konzept funktioniert», sagt Ruth Kulcsar Meienberger, die das Hotel 1998 gründete und zusammen mit Gaby Heeb während der ersten Jahre leitete. Zwei dieser Mitarbeitenden, Donato Lorusso und Natascha Oberholzer, die zum Ursprungsteam gehörten, erzählen, wie es damals war und wie es ihnen heute geht. Ein Besuch beim Paar zuhause im Quartier Wolfganghof in St. Gallen gibt Aufschluss.

«Es war eine riesige Chance, wir leisteten Pionierarbeit im Hotel Dom und kamen deswegen sogar im Fernsehen.» Natascha Oberholzer

Die beiden leben in einer Wohnung zusammen mit ihren beiden Wellensittichen und erzählen gern von ihren Erfahrungen. «Lustig, dass wir uns ausgerechnet heute sehen, am Abend findet nämlich wieder einmal ein Treffen der ehemaligen Mitarbeitenden vom Hotel Dom statt», merkt Natascha Oberholzer an. Sie ist sehr offen und interessiert am Weltgeschehen, denn «bei uns zuhause wurde auch viel diskutiert, mit einem Vater, der Politiker war». Sie hat auch heute noch ein gutes Verhältnis zu ihm und den Geschwistern. «Meine Eltern haben mich immer gut verstanden und mich nicht zurückgebunden», zeigt sie sich dankbar.

Prominenz zu Besuch

Natascha Oberholzer und Donato Lorusso sind zur Zeit ihrer Tätigkeit im Hotel Dom noch kein Paar, sie wurden beide direkt von Ruth Kulcsar Meienberger und Gaby Heeb angefragt, ob sie Interesse hätten. Ruth Kulcsar Meienberger hatte ein ähnliches Hotelprojekt in Hamburg besucht und war motiviert, das Gleiche in der Schweiz auszuprobieren. «Wir waren etwa dreissig Jahre alt damals», sagt Donato Lorusso, der aus dem Thurgau stammt. «Es war meine erste Stelle im ersten Arbeitsmarkt, vorher habe ich in einer geschützten Werkstatt in der Reinigung und in der Küche gearbeitet», erzählt Natascha Oberholzer, die im Kanton St. Gallen aufwuchs. Im Hotel Dom wirkte sie im Restaurant im Service. Donato Lorusso arbeitete als Portier im Hotel und auch bei der Zimmerreinigung. Vorher sei er bei einer Institution für Hirnverletzte tätig gewesen. «Ich hatte auch mit Prominenz zu tun, die ich bediente», sagt Natascha Oberholzer stolz, «beispielsweise war Paul Rechsteiner, der ehemalige National- und Ständerat, bei uns zu Gast.»

«Wir können heute selbständiger leben, früher wurde mehr über mich entschieden.» Donato Lorusso

Ihr gefiel die Vielseitigkeit der Arbeit, die Bestellungen für Kaffee und Tee etwa liefen auch über sie. Als besonders anspruchsvoll hat sie in Erinnerung, dass man im Kontakt mit den Gästen gut drauf sein musste, auch wenn es einem grad nicht so gut ging. «Es war eine riesige Chance, diese Arbeit, wir leisteten Pionierarbeit und kamen deswegen sogar im Fernsehen», so Natascha Oberholzer. «Mit der Zeit und zunehmendem Erfolg wurde die Arbeit immer strenger», sagt Donato Lorusso, das war sein Grund für einen Wechsel der Stelle. Natascha Oberholzer musste mit der Arbeit im Hotel Dom aufhören, nachdem sie einen Epilepsieanfall hatte und in der Küche auf den harten Steinboden gefallen war. Zum Glück hörten die Anfälle an der neuen Arbeitsstelle wieder auf.

Wohntraining und Selbständigkeit

Und wo sind sie jetzt beschäftigt? Donato Lorusso ist beim Verein «mensch-zuerst» tätig, während Natascha Oberholzer mittlerweile beim sozialen Unternehmen «dreischiiebe» beim Versand von Produkten, vor allem für die Bäckerei, mitarbeitet. «Ich muss dort sehr genau arbeiten, ich erstelle unter anderem Geschenkpakete», sagt sie.

Die Arbeit im Hotel Dom half den beiden, selbständiger zu werden. In der Zeit vor ihrer Tätigkeit waren beide zudem bereits in einer Wohntrainingsgruppe, um zu lernen, was es braucht für das selbständige Wohnen ausserhalb von Institutionen – ein grosser Schritt für beide. Bei der Arbeit im Hotel Dom verliebten sich die beiden ineinander. Nachdem sie das Haushalten und das Finanzielle beherrschten, zogen sie in eine gemeinsame Wohnung und heirateten vor ungefähr 20 Jahren. Und wie selbständig leben sie heute? «Wir machen alles selber, haben aber beide schon lange einen Beistand, seit 2020 genügt jedoch eine Begleitbeistandschaft – wir machen nun auch unsere Finanzen selber», ist Donato Lorusso sichtlich stolz. Einmal pro Monat erhalten sie Besuch von der Wohnbegleitung, die bei Fragen hilft, auch bei Bedarf kommt sie. Und dieser Bedarf ist im Moment gegeben, denn das Internet funktioniert nicht mehr und die Telekommunikationsgesellschaft konnte nicht helfen. Natascha Oberholzer erzählt auch von einem Schein-Wettbewerbsgewinn, der mit einem Besuch von einem Vertreter verbunden war. Der habe ihr trotz ihres Widerstands ein teures technisches Gerät aufgedrängt, mit Hilfe des Beistands konnte der schlechte Handel rückgängig gemacht werden. Es wird klar, die beiden wissen sich zu helfen, auch als es etwa darum ging, einmal nach Mallorca in die Ferien zu gehen – noch heute erzählen sie ganz begeistert davon.

Sich gegen doofe Sprüche wehren

Was hat sich verändert in all den Jahren, im Vergleich zur Zeit, als sie im Hotel Dom tätig waren? «Wir können heute selbständiger leben», so Donato Lorusso, «früher wurde mehr über mich entschieden.» Insgesamt hätten Menschen mit Beeinträchtigungen mehr Möglichkeiten, ist Lorusso überzeugt, er selber konnte beispielsweise noch keine Lehre machen damals. Darunter leide dann auch der Lohn, wie Donato Lorusso anmerkt. Natascha Oberholzer meint in Bezug aufs liebe Geld: «Wir können uns und unsere finanziellen Möglichkeiten recht gut einschätzen. Schön wäre, wenn wir uns ab und zu Ferien leisten könnten, die etwas mehr kosten dürfen.»

Die Gesellschaft empfinden sie nicht als offener gegenüber Menschen mit Einschränkungen. Sie hören nach wie vor regelmässig doofe Sprüche von meist jungen Menschen. «Wir Personen mit Handicap können uns meistens nicht gut wehren, wir trauen uns nicht», meint Natascha Oberholzer. Einmal an der Olma habe sie jedoch ihren ganzen Mut zusammengenommen und eine Gruppe junger Männer, die sich breitmachten, beiseite geschoben. Sie engagiert sich auch im INSOS-Rat als Selbstvertreterin, um sich und anderen mehr Gehör zu verschaffen. Zudem mag sie es, mit Menschen im Austausch zu sein, und besucht so viele Kurse und Weiterbildungen wie möglich. Sie geht auch gerne an Freizeittreffs, denn «für Personen mit Handicap ist es nicht so einfach, in den Ausgang zu gehen».
 


Hotel Dom

Das Dreisternehotel Dom mit 40 Zimmern liegt mitten im zentralen Klosterviertel und bietet Raum zum Schlafen, zum Essen und für Sitzungen und Bankette. Menschen mit erhöhtem Unterstützungsbedarf können im Hotel mit Anleitung zu Selbstverantwortung und Selbstständigkeit ihre beruflichen, sozialen und intellektuellen Fähigkeiten weiterentwickeln. Vor 26 Jahren wurde das inklusive Hotel als erstes seiner Art gegründet. Heute sind rund 55 Personen an unterschiedlichen Arbeit- und Ausbildungsplätzen tätig. Die Mitarbeitenden wirken in der Küche, im Service, an der Réception, in der Etagenreinigung sowie in der Wäscherei und ihm Nähatelier. Die Lernenden absolvieren eine Ausbildung als Hotelfach-Person, Koch, Kauffrau, Restaurations-, Küchen- oder Hotellerie-Angestellte. Sie werden von qualifizierten Fachpersonen aus Hotellerie und Agogik begleitet. Das Hotel unterstützt seine Mitarbeitenden und Lernenden auch bei der Suche nach Praktikums- und Ausbildungsplätzen. Dank Kooperationen mit unterschiedlichen Partnern aus dem ersten Arbeitsmarkt sind externe Praktika oder der Abschluss einem Betrieb im ersten Arbeitsmarkt möglich. Die Zusammenarbeit mit dem Open Art Museum für schweizerische Naive Kunst und Art Brut führt zu Bildern und Skulpturen aus dessen Sammlung in den Räumlichkeiten des Hotels.

www.hoteldom.ch

 


 


Foto: Anna-Tina Eberhard