SOZIALE UNTERNEHMEN | «Willkommen in einem einzig­artigen Hotel!»

20.09.2023 Anne-Marie Nicole

Zwei Drittel der Belegschaft des Martigny Boutique-Hotels im Wallis sind Menschen mit einer kognitiven Beeinträch­tigung. Sie arbeiten im Service, in der Küche und in der Verwaltung. Hinter dieser Integrationsinitiative steht die Walliser «Fondation valaisanne en faveur des personnes avec une déficience intellectuelle», die sich insbesondere in arbeitsagogischer Begleitung engagiert.

«Lassen wir uns im Restaurant von Menschen mit Behinderung bedienen?», wunderte sich jüngst Peter Saxenhofer, Geschäftsführer des Branchenverbands INSOS, über die Bedeutung, die wir als Gesellschaft der Integration von Menschen mit Behinderung beimessen. Im Martigny Boutique-Hotel, wo zwei Drittel der Mitarbeitenden Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung sind, stellt sich diese Frage nicht. An der Rezeption begrüsst das Team die Gäste, welche zum ersten Mal im Walliser Hotel verweilen, mit einem fröhlichen «Willkommen in einem einzigartigen Schweizer Hotel!», bevor es ihnen die Besonderheiten dieses Orts erklärt. Das Restaurant La Cordillère besuchen vorwiegend einheimische Geschäftsleute. Sie kommen aus Neugier, Solidarität oder auch aus Bequemlichkeit. Es komme vor, dass Gäste ungeduldig, fordernd und schroff reagierten, bemerkt Raphaël, der seit der Eröffnung des Hotels vor acht Jahren im Service tätig ist. Er ergänzt jedoch sofort, die meisten Leute seien angenehm und wohlwollend. 

Derselben Meinung ist auch seine Kollegin Claire-Lise. Sie gehört ebenfalls zum Servicepersonal der Bar und des Restaurants und entdeckte diesen Beruf vor drei Jahren. «Der Kontakt mit den Menschen gefällt mir.» Und das sei gut so, denn an diesem Morgen seien viele Gäste beim Frühstück da gewesen, erzählt sie. Inzwischen ist es wieder ruhiger geworden. Während die junge Frau das Frühstücksbuffet abräumt, beschäftigt sich ihre Kollegin Mégane in der Küche unter dem wachsamen Auge des Arbeitsagogen Pascal bereits mit den Käseplatten für das morgige Frühstück. Mégane absolvierte eine von der Westschweizer Organisation für berufliche Eingliederung und Ausbildung (Orif) angebotene Ausbildung in der Küche. Sie versuchte es auch im Service, bevorzugt aber klar die Atmosphäre in der Küche und das Vorbereiten der kalten Buffets für die Vorspeisen und Desserts. 
 

Vielfältige Strukturen

Das Martigny Boutique-Hotel ist ein Pionierprojekt für soziale Integration und eine Initiative der Fondation valaisanne en faveur des personnes avec une déficience intellectuelle (FOVAHM). Die Stiftung ist seit über einem halben Jahrhundert im französischsprachigen Wallis tätig, wo sie mehr als 400 Personen ab 18 Jahren aufnimmt, betreut und ausbildet. Ihr beruflicher und sozialer Bereich zeichnet sich durch seine vielfältigen Strukturen aus: ein Ausbildungszentrum für junge Erwachsene, 21 geschützte Werkstätten, 14 integrierte Werkstätten in Walliser Betrieben (Gruppenintegration), 8 Tageszentren und arbeitsagogische Unterstützungsmassnahmen in Betrieben (Einzelintegration). «Menschen mit Behinderung verfügen über Fähigkeiten», erklärt Daniel Zufferey, Geschäftsführer der Stiftung. «Aber nicht alle haben die Fähigkeit oder Lust zur betrieblichen Integration», fährt er fort: «Manche Menschen fühlen sich in einer geschützten Werkstatt besser aufgehoben, selbst wenn sie fähig wären, in einem Betrieb zu arbeiten. Die Hauptsache ist, dass sie die Wahl haben und am richtigen Platz sind.» 
Der Wunsch nach einem breiteren Berufsangebot stand am Anfang des Projekts Martigny Boutique-Hotel.

Die ganze Geschichte geht auf Anfang der 2000er-Jahre zurück. «Damals stellten wir fest, dass wir nur wenig Anstellungsmöglichkeiten in Gastgewerbe und Hotellerie anboten, obwohl die betreuten Personen in diesen Bereichen über viele Kompetenzen verfügten», erinnert sich Daniel Zufferey. In den 2010er-Jahren nahm das Hotel endlich Gestalt an. Und da man nur gut bedient ist, wenn man sich selbst bedient, entschied sich die FOVAHM zum Bau eines eigenen Hotels. Seit Herbst 2015 steht das Hotel in einem Geschäftsquartier der Stadt Martigny, nur wenige Minuten Fussweg vom Bahnhof entfernt. Alle 52 Zimmer tragen Namen von Kunstmalerinnen und Kunstmalern, deren Werke in der Fondation Pierre Gianadda ausgestellt wurden. Die Stiftung ist Partnerin des Projekts. 

Sinnvolle und wertschätzende Arbeitsplätze

Das Hotel ist wie die im Jahr 2018 eröffnete Galerie Oblique in Saint-Maurice eine Firma, welche die Stiftung unabhängig von den sozio-edukativen und arbeitsagogischen Aufträgen betreibt und die in keinem Zusammenhang mit dem Leistungsauftrag des Kanton Wallis steht. Das Hotel bietet vor allem hervorragende Möglichkeiten zur Schaffung von sinnvollen und wertschätzenden Arbeitsplätzen. Neben den rund zwanzig Gastronomie- und Hotelfachleuten arbeiten dreissig Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung in integrierten Werkstätten in den Bereichen Küche, Service und Verwaltung, wo sie von Fachpersonen der Arbeitsagogik begleitet werden. 
«Es ist schwierig, ein bestehendes Hotel zu finden, das so viele Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung anbietet», erklärt Daniel Zufferey. Das Interesse an einem eigenen Hotel liegt für die Stiftung aber auch noch anderswo: Es bietet nämlich die Gelegenheit, die in den geschützten Werkstätten der Stiftung hergestellten Produkte zu bewerben und aufzuwerten. Man findet die Holzarbeiten, Kosmetikartikel und Delikatessen auf den Zimmern und Tischen des Restaurants sowie im Shop gegenüber der Rezeption. 

«Anders, aber alle zusammen»

Die Leitung der Einrichtung wurde Mathias Munoz, einem Fachmann aus der Branche, anvertraut. Wie bei allen Privat­unternehmen ist der Geschäftsführer verantwortlich für die personellen und finanziellen Ressourcen und wacht über Geschäftsentwicklung und Qualität der Dienstleistungen.

Laut Einschätzung von Mathias Munoz sind die Herausforderungen, mit denen die Hotellerie im Allgemeinen konfrontiert wird, auch hier nicht viel anders. Nach dem Motto «Anders, aber alle zusammen» stellt er hinsichtlich Arbeitsqualität an die Berufsfachleute die gleichen Anforderungen wie an die Mitarbeitenden mit einer Behinderung – auch wenn Letztere bei der Stiftung angestellt sind und nicht auf der Lohnliste des Hotels stehen. Einzig die Kommunikation und der Arbeitsrhythmus unterscheiden sich. Denn: «Wird ein Gast unfreundlich empfangen, ist das Essen schlecht oder das Zimmer nicht sauber, kommt er nicht mehr. Und ohne Gäste gibt es keine Arbeit und folglich auch keine integrierten Werkstätten mehr!» 

Das Martigny Boutique-Hotel ist ein Win-win-Projekt: Es wertet die Fähigkeiten der Menschen mit einer kognitiven Behinderung auf und reduziert gemäss Erfahrung von Mathias Munoz gleichzeitig die Personalfluktuation und die krankheitsbedingten Absenzen bei Berufsfachleuten. «Die betriebliche Integration verleiht der Alltagsarbeit ein anderes Gesicht: Durch ihre Spontaneität, ihren Enthusiasmus, ihr Engagement und ihre Kompetenzen verstärken die integrierten Menschen Empathie, Verantwortungsbewusstsein und Zusammengehörigkeitsgefühl in den Teams», stellt der Hotelmanager fest.

Daniel Zufferey freut sich darüber. Umso mehr, weil weitere integrierte Werkstätten mit lokalen Partnern in Planung sind. «Vor zwanzig Jahren hatten wir zwei betrieblich integrierte Personen, heute sind es bereits rund hundert, die eine Stelle in einer Gruppenintegration haben und fünfzig in Einzelintegration.» Abschliessend findet er: «Integration muss unterschiedliche Formen annehmen. Und unsere Aufgabe als Institution ist es, ein breites Spektrum an beruflichen Möglichkeiten anzubieten.» 
 


Jede Arbeit verdient einen Lohn

Anfang Jahr sorgte der Monatslohn eines jungen Mannes mit Behinderung für Schlagzeilen. Fünf Franken erhielt er für seine Arbeit in einer geschützten Werkstatt. Wie sieht es diesbezüglich im Martigny Boutique-Hotel aus?
«Der Lohn von Menschen mit Behinderung, die bei uns arbeiten, muss global betrachtet werden», erklärt Daniel Zufferey, Geschäftsführer der Stiftung FOVAHM. Er besteht aus einer IV-Vollrente, was für nahezu alle begleiteten Personen bei der FOVAHM gilt, sowie einer Entschädigung der Stiftung für die Arbeit in der Werkstatt. Die Werkstätten der Stiftung erwirtschaften einen Gesamtumsatz von drei Millionen Franken, wovon eine Million in die Finanzierung der Rohstoffe fliesst. Von den restlichen zwei Millionen Bruttomarge wird die Hälfte als Entschädigungen verteilt. «Wir erachten es als richtig, dass der Umsatz die Rohstoffkosten und Entschädigungen der begleiteten Personen deckt und dass ein Teil den Unterhalt der Werkzeuge und Maschinen sowie das Funktionieren der Werkstätten mitfinanziert», präzisiert Daniel Zufferey.
Die Beschäftigten in den integrierten Werkstätten (Küche, Service, Verwaltung) des Martigny Boutique-Hotels erhalten bei einer durchschnittlichen Arbeitszeit von 27,5 Stunden pro Woche (mit ständiger Begleitung) 490 Franken pro Monat. Dies entspricht einem durchschnittlichen Stundenlohn von rund 4.10 Franken.
 


 

Foto: amn