PALLIATIVE CARE | Menschen mit Beeinträchtigungen bis zum Tod begleiten

06.11.2024 Daniela Bernhardsgrütter, Katharina Linsi, Katja Leiggener, Nisha Andres

Studien zeigen, dass die Palliative-­Care-Versorgung von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung schwerwiegende Lücken aufweist. Die Fachgruppe Pflege Palliative Care (palliative ch) setzt sich für die Verbesserung der Palliative Care für Menschen mit Beeinträchtigungen ein und möchte in einem ersten Schritt relevante Akteure identifizieren und sensibilisieren.

Eine Sozialpädagogin, die in einem Heim für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung arbeitet, erzählt folgende eindrückliche Geschichte:

«Ein älterer Herr mit kognitiver Beeinträchtigung, nennen wir ihn Michael B., litt an Speiseröhrenkrebs. 27 Bestrahlungen und fünf Chemotherapien konnten das Krebsgeschehen über mehrere Monate stabilisieren. Bald nahmen die Beschwerden jedoch zu, und man stellte Meta­stasen in seinem Körper fest. Wie sollte es nun weitergehen? Es wurde klar, dass das Leiden für Michael B. bei einer weiteren Therapie gross wäre. Er hat sich nach Gesprächen mit dem Onkologen schliesslich gegen weitere lebensverlängernde Massnahmen entschieden. Die weitere Begleitung wurde auf das Schmerzmanagement ausgerichtet. Michael B. erstellte eine Bucketlist mit letzten Wünschen. Ab diesem Zeitpunkt haben wir die palliative Pflege noch intensiver umgesetzt, und die Bezugsperson unterstützte ihn bei der Umsetzung seiner Bucketlist. So gingen wir beispielsweise mit ihm in seinem Lieblingsrestaurant ein Eiscafé essen, und dort am Fluss konnte er einen Stumpen rauchen.

Sein Zustand verschlechterte sich jedoch zusehends. Zur Linderung seines physischen Leidens kam eine Morphinpumpe zum Einsatz. Der Mobile Palliative Care Dienst leistete hier professionelle und lehrreiche Begleitarbeit. Ein paar Wochen später verschlechterte sich sein Zustand markant. Michael B. realisierte klar, dass er unheilbar krank war. Er sagte pragmatisch ‹es ist halt jetzt so›, äusserte jedoch auch Angst vor dem Alleinsein. Während eine Person Sitzwache leistete, schlief er ruhig für immer ein.

Die Trauerfeier, welche in der Institution stattfand, wurde durch eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen der Bezugsperson, dem WG-Team und der Seelsorgerin würdig und im Sinn von Michael B. gestaltet. So durften alle Mitbewohnenden, Mitarbeitenden und Angehörige auf eine wunderbare Art Abschied nehmen.

Die Bezugsperson fragte sich oft, ob das Setting einer Betreuungs-WG dem nun palliativen Zustand von Herrn B. noch gerecht werden konnte. Dank der Zusammenarbeit mit der Heimärztin und dem Mobilen Palliative Care Dienst konnte jedoch ein stimmiges Setting zur Förderung der Lebensqualität von Michael B. geschaffen werden.

Erschwerter Zugang zu Palliative Care

Erhebungen in verschiedenen Kantonen der Schweiz zeigen insbesondere in der stationären Langzeitbetreuung eine deutliche prozentuale Zunahme von Personen ab 55 Jahren mit kognitiven und / oder physischen oder psychischen Beeinträchtigungen. Damit einher gehen die steigende Prävalenz von chronischen und altersbedingten Erkrankungen und der Bedarf an Palliative Care. Unter Palliative Care versteht man alle Massnahmen, die das Leiden eines unheilbar kranken Menschen lindern und ihm so eine bestmög­liche Lebensqualität bis zum Ende verschaffen. Das einleitende Fallbeispiel zeigt vorbildlich auf, wie Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung mit entsprechender Unterstützung bis zum Tod im vertrauten Wohnumfeld begleitet werden können.

Erhebungen zeigen vor allem in der stationären Lang­zeitbetreuung eine deutliche Zunahme von Personen ab
55 Jahren mit kognitiven Beeinträchtigungen. Damit einher gehen die steigende Prävalenz von altersbedingten
Erkrankungen und der Bedarf an Palliative Care.

Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung weisen komplexe Palliative-Care-Bedürfnisse auf körperlicher, psychosozialer, spiritueller, informations- und kommunikations­bezogener Ebene auf und benötigen deshalb eine professionelle Begleitung. Nationale und internationale Studien zeigen jedoch, dass die Palliative-Care-Versorgung dieser Personengruppe nach wie vor schwerwiegende ­Lücken aufweist. Vorhandene Leitlinien und Handlung­sanweisungen zur Verbesserung von Palliative Care für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung basieren auf Theorien, auf Meinungen von Expertinnen und Experten sowie auf Fallberichten. Die Perspektive von Betroffenen und Angehörigen bleibt oftmals unberücksichtigt. Eine Studie aus dem Vereinigten Königreich zeigt, dass diese Menschen am Lebensende weniger Zugang zu spezialisierter Palliative Care haben und weniger Opioide zur Schmerzlinderung bekommen als Menschen ohne Beeinträchtigung. Problematisch erscheint der erschwerte Zugang zu Palliative Care insbesondere bei der Betrachtung des 2008 in Kraft getretenen Übereinkommens der UNO über die Rechte von Menschen mit Behinderungen.

Fehlende Leitlinien in Wohnheimen

Der Bericht «Palliative Care für vulnerable Patientengruppen» (Amstad, 2020), der im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) erstellt wurde, zeigt auch hierzulande eindrücklich die Handlungsfelder und Lücken in der allgemeinen und spezialisierten Palliative Care auf. Der Bericht bezieht sich unter anderem auf die Ergebnisse einer schweizweiten Untersuchung zur Palliativ-Versorgung bei Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung (Wicki & Meier, 2015). Gemäss den Ergebnissen dieser Untersuchung liegt das durchschnittliche Sterbealter von Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung in der Schweiz bei rund 57 Jahren. Damit sterben diese Menschen rund 25 Jahre früher als Personen, die die allgemeine Bevölkerung vertreten. Die Autorinnen und Autoren schliessen daraus, dass Palliative Care bei dieser Personengruppe bereits vor dem Erreichen des Pensionsalters ein Thema ist und auch Wohnheime betrifft, in denen Betroffene während des Berufs­lebens wohnen. Jedoch lagen bei der Mehrheit der Wohnheime keine Leitlinien zu Palliative Care oder Entscheidungen am Lebensende vor. Bei rund einem Drittel aller Wohnheime war zum Zeitpunkt der Befragung keine Begleitung bis zum Lebensende gewährleistet. Bei einem weiteren Drittel aller Wohnheime war eine solche Begleitung nur dann möglich, wenn keine nächtliche Betreuung oder kein hoher Pflegebedarf über längere Zeit nötig war.

Was fehlendes Wissen über Palliative Care bedeuten kann, macht folgendes Beispiel einer Sozialpädagogin deutlich:

«Frau Margrit S. war schwer kognitiv beeinträchtigt. Und dann bekamen wir die Diagnose, der Darm arbeite nicht mehr gut, wir sollten ihr nicht mehr viel zu essen geben. (…) Und dann ist das etwa drei bis vier ­Wochen so weitergegangen, bis das Team das Gefühl gehabt hat, Margrit S. erhole sich wieder. Man hat ihr dann auch wieder zu essen gegeben. Und dann ist sie gestorben. Und ich habe sie hergerichtet und auf die Seite drehen müssen, und dann ist (…) so viel Flüssigkeit rausgelaufen. Wir haben ihr als Team einfach zu essen und zu trinken gegeben und sie hat das nicht mehr verarbeiten können. Da hätte man Stopp sagen müssen (…) Wenn es da mehr Pflegefachleute gehabt hätte, hätte man das wahrscheinlich gewusst: Nein, das darf jetzt einfach nicht mehr passieren (…) Das war sehr schwierig für mich.

Entwicklung eines Versorgungskonzepts

Der Austausch mit Expertinnen und Experten aus der Praxis, der Forschung und mit den Behörden zeigt: In der Schweiz existieren keine institutions- und professionsübergreifende Versorgungskonzepte für die Palliative Care von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung. Sowohl das hauptsächlich agogische Personal in den Wohnheimen als auch das Pflegepersonal in Alters- und Pflegeheimen, in Spitälern und in der mobilen und stationären spezialisierten Palliative Care bekundet Unsicherheit und Überforderung mit der Begleitung dieser Personengruppe am Lebensende. Zudem liegen bislang keine Daten dazu vor, wie Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung und ihre Angehörigen die Palliativ-Versorgung in der Schweiz erleben.

Ein Projekt der OST – Ostschweizer Fachhochschule (PAL_LINK) zielt darauf ab, ein Palliative- und End-of-Life-­Care-Versorgungskonzept für erwachsene Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung in der Ostschweiz zu entwickeln. Das Projekt möchte zudem ein langfristiges, schweizweites Netzwerk aufbauen, das Betroffenen, Angehörigen und Fachpersonen den Austausch zum Thema Palliative- und End-of-Life-Care bei Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung ermöglicht. Interessierte sind herzlich eingeladen, sich dem Netzwerk anzuschliessen.

Neues Weiterbildungsangebot

Das Bildungszentrum für Gesundheit und Soziales im Kanton Thurgau lanciert auf Anfang 2025 für die Ostschweiz den Weiterbildungslehrgang «Palliative Care für Menschen mit Beeinträchtigung». Der Lehrgang richtet sich an Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen sowie Fachpersonen Betreuung und vermittelt Grundlagenwissen zu den Versorgungsstrukturen und der interprofessio­nellen Vernetzung in der Palliative Care, zur Entscheidungsfindung und gesundheitlichen Vorausplanung, zum Symptommanagement sowie zur Begleitung im Sterbe- und Trauerprozess.


Weitere Infos zum Projekt: 
st.ch / pal-link

 


Die Autorinnen

  • Daniela Bernhardsgrütter, MScN, wissenschaftliche Mitarbeiterin, IPW Institut für Angewandte Pflegewissenschaft, OST – Ostschweizer Fachhochschule.
  • Katharina Linsi, Bildungsbeauftragte und Leitung Weiterbildung Palliative Care, Bildungszentrum für Gesundheit und Soziales, BfGS Thurgau.
  • Katja Leiggener, MScN, Mitglied Steuerungs­gruppe Fachgruppe Pflege Palliative Care & Fachverantwortliche spezialisierte Palliative Care Abteilung, Spitalzentrum Oberwallis.
  • Nisha Andres, Sozialpädagogin, privat engagiert für Palliative Care und Menschen mit Beeinträchtigung.