OHNE MEDIKAMENTE | Zum Erfreulichen des Lebens zurückführen

01.05.2024 Christian Bernhart

Wie ein Elixier wirkt die hypnotische Kommunikation bei der Betreuung von Betagten. Das zeigen Beispiele aus dem Altersheim St. Urban in Winterthur. In Krisen­situationen werden die betreuten Personen behutsam ­abgeholt und zu positiven Momenten in ihrem Leben ­geführt. Ab und zu auch mit einem Schwebevogel.

Den Zeigefinger seiner rechten Hand hält Roland Krattiger unter die Schnabelspitze der Möwe, auf die man gespannt blickt, weil sie, nur punktuell gestützt, seitlich, mal links, mal rechts, zu kippen droht. Passiert aber nicht. Balance-Bird, so der Name dieses Kinder-Schwebevogels, zieht alle Aufmerksamkeit auf sich. Die Möwe dient Krattiger, dem Pflegefachmann und Teamleiter Alterswohngruppen im Altersheim St. Urban in Winterthur, in Krisensituationen für die hypnotische Kommunikation, wie er im folgenden Beispiel ausführt.

Der Betagte hatte an diesem Morgen einmal mehr gar keinen guten Tag. Er zeigte Angst, die in Aggression überging, wie Krattiger erzählt: «Als ich in sein Zimmer für die Grundpflege kam, fing er an zu fluchen und zu schimpfen, sodass ich mich so nicht zu ihm traute. Darauf holte ich die magische Möwe, betrat erneut das Zimmer, hielt sie ihm hin und sagte ruhig: ‹Schauen Sie mal, was ich hier habe.› Der Betagte fixierte den in Balance gehaltenen Vogel, den ich ihm übergab. Ich fragte ihn ruhig: ‹Wenn Sie jetzt ein Vogel wären, wohin würden Sie fliegen?› Er sagte, zu meinen Katzen. Wir fingen an, über seine Katzen zu sprechen; er erzählte von ihren Eigenarten und nannte ihre Namen. So traten sie vor seine Augen, er fing an, sich wohlzufühlen, und liess sich in dieser Situation problemlos pflegen.»

«Der Vogel ist für uns ein Hilfsmittel», präzisiert die Bereichsleiterin Pflege Andrea Ott, denn: «Er richtet den Fokus auf etwas anderes, und während sich die Leute auf ihn konzentrieren, kommen sie ein bisschen in Trance.» Die Ablenkung hin zur Trance ist ein wichtiger Einstieg in die Hypnose. Die Pflegefachleute im Altersheim St. Urban in Winterthur verwenden Hypnose nicht als Therapie, sondern als hypnotische Kommunikation in der Betreuung ihrer Heimbewohnerinnen und -bewohner. Hier leben 60 Personen in der Alterswohngruppe, 24 in der Pflegewohngruppe und 36 betagte Personen in zwei Demenzhäusern.

Mit Empathie zu den lichten Momenten

In der hypnotischen Kommunikation gehe es darum, auf die Person in ihrer Krise oder Trauer einzugehen und sie im Gespräch empathisch auf die guten oder besseren Momente in ihrem Leben hinzusteuern, wie Andrea Ott erklärt und dies an der Begegnung einer Heimbewohnerin illustriert, deren Mann eben auf der Demenzabteilung verstorben war. «Ich traf sie weinend im Empfangsbereich unseres Altersheims und fragte sie, was sie so bedrücke. Sie meinte, es sei nun so schwierig für sie, alleine ohne ihren Mann weiterzuleben. Nach dem Zuhören fragte ich sie, ob es noch etwas gebe, das ihr guttun würde. ‹Ja, die Familie und die Söhne, die mir helfen und mich unterstützen.›» Diese Antwort öffnete die Tür für die hypnotische Kommunikation: Ott erkundigte sich nach der Familie, die sie am selben Abend noch besuchen komme, und erfuhr überdies, dass nochmals ein Enkelkind zur Welt gekommen sei. Nachdem sich das Gemüt der Frau wieder gelichtet hatte, erzählte sie ihr zudem bei einem gemeinsamen Kaffee eine passende, beruhigende Entspannungsgeschichte aus dem Buch: «Auf den Schultern des Windes schaukeln» von Daniel Link.

Vor einem Jahr führte Andrea Ott die hypnotische Kommunikation als Betreuungsinstrument in ihrem Altersheim ein. Den Grundkurs, angeboten von der Schweizerischen Ärztegesellschaft für Hypnose (SMSH), ist von den Teamleitenden schon besucht worden, und 40 von den insgesamt 120 festangestellten Pflegenden hatten eine halbtägige Einführung. In jeder Abteilung haben dadurch mindestens sechs Mitarbeitende diese Kenntnisse erworben. Halbjährlich können weitere Mitarbeitende Kurse besuchen, und jedes Jahr besucht eine Anästhesistin als Hypnosefachfrau das Altersheim und bringt die Mitarbeitenden auf den neusten Stand.

Eine Haltung, die Einfluss auf alle Mitarbeitenden hat

Andrea Ott betont, dass hinter der hypnotischen Kommunikation eine Haltung steht, welche bei jeder Begegnung auch die Wortwahl beim Gespräch beeinflusst, denn: «‹Haben Sie keine Angst› als Einleitung zu einer Behandlung bewirkt, dass das Gegenüber auf Angst hingesteuert wird. Sage ich jedoch: ‹Sie können sich wohlfühlen, ich höre ihnen zu›, so wird mein Gegenüber die Situation eher positiv erleben.» Krattiger geht aufgrund seiner Kurs­erfahrung anders auf die betagten Personen zu: «Habe ich früher gesagt: ‹Jetzt gibt’s das Morgenessen, ich helfe ihnen beim Waschen›, so frage ich heute: ‹Sind Sie schon bereit, um gewaschen zu werden, oder brauchen Sie noch Zeit?›»

Diese Haltung schlägt sich auch auf die Gespräche mit den Mitarbeitenden und den Umgang der Pflegenden untereinander nieder, sagt Ott: «Wir schauen zwar die Probleme an, verharren aber nicht darin, sondern fragen nach dem, was gut läuft, weil sich daraus Lösungsansätze ergeben und Projekte, die auf ein neues Gesundheitswesen zielen.»

Schliesslich könne man die Haltung auch im Sinn einer Selbsthypnose anwenden, ist Ott überzeugt: «Bin ich im Stress, dann setze ich mich, schliesse die Augen, atme ruhig und tief und stelle mir meinen paradiesischen Platz auf den Malediven vor.» Gerade in der Pflege, wo es an genügend Personen mangelt, sei es wichtig, wie man mit sich selbst umgehe.

Wissenschaftlich fundiert untersucht

Bei der hypnotischen Kommunikation handelt es sich nicht bloss um in Wort gefasste Gedankenspiele, die mal zufällig wirken, mal auch nicht. Die Burg­dorfer Anästhesistin und Schmerz­therapeutin Bettina Kleeb, die innerhalb der SMSH entsprechende Kurse leitet, erklärt, dass in der Pflege dazu einschlägige wissenschaftliche Erkenntnisse vorhanden sind. So stuften Probanden einen zugeführten Schmerzreiz mit Stärke 8 (Skala 1 bis 10) unterschiedlich ein, je nachdem, wie man ihnen dasselbe Medikament verabreicht hatte: mit Stärke 7 bei kommentarloser Abgabe, mit Stärke 5 beim Hinweis, das zurzeit beste Medikament zu erhalten, hingegen mit Stärke 8 beim Kommentar, man wisse nicht, wie es wirkt.

«In der hypnotischen Kommunikation geht es darum, auf die Person in ihrer Krise und Trauer einzugehen und sie im Gespräch auf die guten oder ­besseren Momente in ihrem Leben hinzusteuern.» Andrea Ott, Bereichsleiterin Pflege des Altersheims St. Urban in Winterthur

Bettina Kleeb betont, dass bei medizinischen Behandlungen die Hypnose unterschiedlich eingesetzt wird, einerseits um Patienten in die Narkose zu begleiten oder auch anstelle der Narkose, zur Behandlung von Schmerzen nach der Operation oder von chronischen Schmerzen oder für Zahnbehandlungen. Deren Wirksamkeit belegen klinische Studien. Eine Doppelblindstudie mit 241 Patienten deckte auf, wie die Hypnose im Gegensatz zur konventionellen Sedierung während der interventionellen Radiologie bei Gefässen und Nieren wirkt (Elvira V. Lang et al, Lancet 2000). Sie linderte die Schmerzen in der Stärke um 7 Punkte (1 statt 8) sowie in der Dauer (150 statt 195 Minuten) und reduzierte Angstempfinden um 6 Punkte (1 statt 7). Und die Eingriffe dauerten unter Hypnose im Schnitt nur 61 anstatt 78 Minuten.

Die Westschweiz nimmt eine Pionierrolle ein

In der Hypnose steuern die Hirnzellen das Empfinden neu. Diese Wirkungsweise hat insbesondere im belgischen Liège wirkende Anästhesistin Marie-­Elisabeth Faymonville anhand von bildgebenden Verfahren aufgezeigt. So finden unter Hypnose Veränderungen vor allem unter der Grosshirnrinde im mittleren cingulären Cortex statt, dort, wo autonome Prozesse wie Blutdruck und Herzfrequenz gesteuert werden und der bei der Angstregulierung mitbeteiligt ist (Faymonville, M. E. et al., 2003).

Die Einführung von Hypnose in der medizinischen Behandlung ging von der Westschweiz aus. Insbesondere die Internistin Chantal Berna Renella, die am Universitätsspital Lau­sanne die integrative und komplementäre Medizin leitet, wies in einer Vergleichsstudie nach, dass Hypnose bei Schmerzen auch wirkt, wenn das für die Schmerzregulierung wichtige Endogene Opioid-System medikamentös unterdrückt wird (Chantal Berna et al., Journal of Neuroscience, 2018). Und am Genfer Universitätsspital haben die Kinderärztin Claire-Anne Siegrist und Anästhesistin Adriana Wolff vor acht Jahren die hypnotische Kommunikation in der Pflege eingeführt. Die SMSH organisiert und führt heute deshalb auch Kurse für das Pflegepersonal durch. Das Akronym SMSH steht für La Société Médicale Suisse pour l’Hypnose. Für den klinischen Bereich wurde bereits 1985 die Gesellschaft für Hypnose und Hypnotherapie Schweiz (GHYPS) gegründet. Sie zählt heute gut 350 Mitglieder. Die SMSH ist gut vernetzt mit den europäischen sowie den internationalen Hypnosegesellschaften. 


Kurse in hypnotischer Kommunikation

Schweizerische Ärztegesellschaft für Hypnose SMSH: Sie bietet für Pflegefachleute einen viertägigen Grundkurs an und dazu noch Weiterbildungskurse zu besonderen Themen. Im viertägigen Grundkurs erfährt man die Unterschiede zwischen hypnotischer Kommunikation und medizinischer Hypnose sowie der Hypnotherapie, die in der Psychotherapie angewendet wird. Dazu gehören auch der technische Ablauf bei einer hypnotischen Kommunikation sowie die Selbsthypnose. Schliesslich erfährt man auch die Anwendung bei medizinischen Eingriffen. Kursort ist Balsthal (smsh.ch).




Foto: Christian Bernhart