«Nachbarschaft: Eine wichtige Quelle der Unterstützung und Solidarität»

Die fünfte Ausgabe des Age Reports ist im November 2024 erschienen und setzt sich mit dem Thema Nachbarschaft und Wohnumgebung im Alter auseinander. Die von Valérie Hugentobler und Alexander Seifert herausgegebene Studie, die auf einer repräsentativen Befragung von Seniorinnen und Senioren beruht, liefert neue Einblicke in diese Thematik. Ein Gespräch mit Valérie Hugentobler zu den Erkenntnissen aus der Befragung.
Frau Hugentobler: Welche Bestätigungen und Überraschungen hat die Befragung offenbart?
Die Befragung zeigt eine Kontinuität bei mehreren beobachteten Trends. Die Mehrheit der Menschen im Alter lebt weiterhin zu Hause, ohne dass sich ihre Situation insgesamt verschlechtert. Bei verschiedenen Faktoren wie Einkommen, Gesundheit und Bildungsstatus bestehen jedoch grosse Unterschiede. So berichten 15 Prozent der Befragten von finanziellen Problemen, insbesondere allein lebende Frauen und solche mit einem geringeren Bildungsstatus. Eine weitere Konstante: Menschen im Alter haben eine emotionale Bindung an den Wohnort und die Gemeinde. Viele leben seit 25 Jahren oder mehr im gleichen Wohnraum, selbst wenn dieser nicht immer altersgerecht ist, und wollen nicht umziehen. In Bezug auf gewünschte Massnahmen zur Verbesserung ihrer Lebenssituation finden die Befragten die soziale Unterstützung zu Hause oft wichtiger als bauliche Anpassungen. Die Seniorinnen und Senioren wünschen sich, vermehrt Besuche zu erhalten, sei es von Angehörigen oder von Fachpersonen.
Gibt es Unterschiede zwischen den Sprachregionen?
Es lassen sich tatsächlich deutliche Unterschiede zwischen den Sprachregionen erkennen, auch wenn sie zwischen Stadt und Land oft am grössten sind. Besonders auffallend ist, dass in einigen Westschweizer Kantonen mehr Zwischenformen wie altersgerechte Wohnungen mit Begleitung angeboten werden. Solche Lösungen werden immer beliebter. Sie ermöglichen den Seniorinnen und Senioren, in einer gewohnten Umgebung zu bleiben und gleichzeitig von Dienstleistungen zu profitieren. In der Deutschschweiz hingegen ist dieses Angebot eher begrenzt und das Wohnen im Pflegeheim ist dort verbreiteter. Die Inanspruchnahme der Spitex ist vor allem in der französisch- und italienischsprachigen Schweiz gut verankert. Dieser Gegensatz spiegelt auch strukturelle Unterschiede wider: Altersheime sind in der Westschweiz schrittweise verschwunden, während sie in der Deutschschweiz weiterbestehen. Die Seniorinnen und Senioren aus der französisch- und italienischsprachigen Schweiz berichten über einen engeren Kontakt zu ihren Nachbarinnen und Nachbarn als jene in der Deutschschweiz.
«Es lassen sich deutliche Unterschiede zwischen den Sprachregionen erkennen.Besonders auffallend ist, dass in einigen Westschweizer Kantonen mehr Zwischenformen wie altersgerechte Wohnungen mit Begleitung angeboten werden. Solche Lösungen werden immer beliebter.» Valérie Hugentobler, Professorin an der Fachhochschule Westschweiz, Soziale Arbeit (HETSL HES-SO)
Warum haben Sie sich für das Thema Nachbarschaft entschieden?
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, das Thema Wohnen im Alter anzugehen, zum Beispiel indem man sich mit dem Lebens- und dem sozialen Umfeld befasst. Immer mehr Personen leben allein, oft ohne direkte Unterstützung ihrer Familie. Aus diesem Grund erschien uns die Thematik interessant. Angesichts dieser Entwicklung wird die Nachbarschaft zu einem wichtigen Anker, um sozialer Isolation vorzubeugen: Einfache Gesten, wie das Wahrnehmen offener oder geschlossener Fensterläden, können helfen, Notfallsituationen zu erkennen und schnell Hilfe in der näheren Umgebung zu aktivieren. Diese Dynamik trägt dazu bei, die sozialen Beziehungen zu stärken und ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft zu erzeugen.
Wie beeinflusst die Wohnform die Nachbarschaftskontakte?
Der Zusammenhang zwischen Wohnform und Nachbarschaftskontakten zeigt sich darin, wie das Lebensumfeld den Austausch zwischen den Bewohnerinnen und Bewohnern fördert (oder eben nicht). Personen, die in einem Einfamilienhaus oder einem kleinen Mehrfamilienhaus leben, pflegen tendenziell engere und bessere nachbarschaftliche Kontakte. Die meisten von ihnen sind Wohneigentümer und leben schon lange am selben Ort. Sie pflegen dauerhafte Bindungen und unterstützen sich gegenseitig. Diese Dynamik ist besonders im ländlichen Raum zu beobachten. Im Gegensatz dazu erschweren die Anonymität und die hohe Bevölkerungsdichte in grossen Wohnhäusern und städtischen Gebieten den Aufbau von Beziehungen. Nachbarschaftlicher Kontakt entsteht daher langsamer. Es ist jedoch zu betonen, dass diese Feststellungen statistische Tendenzen darstellen und variieren können. Letztlich hängen Qualität und Häufigkeit des Kontakts zur Nachbarschaft eng mit der Gestaltung des Wohn- und Lebensumfelds, der Ortsgebundenheit und den eingesetzten Ressourcen zur Pflege dieser Beziehungen zusammen.
Wie kann die Stärkung der Nachbarschaftsbeziehungen die traditionellen Modelle für die Betreuung von Menschen im Alter ergänzen und verbessern?
Bisher hat die Politik den Fokus auf die Betreuung von Seniorinnen und Senioren in sozialmedizinischen Institutionen gelegt. Es wird jedoch immer dringlicher, auch andere Herausforderungen anzugehen, insbesondere die Unterstützung zu Hause durch vielfältige soziale Leistungen, die über die reine Pflege hinausgehen. Obwohl der Bedarf spürbar ist, sind Angebote für Betreuungsleistungen zu Hause noch wenig entwickelt (und werden von den Sozialversicherungen auch nicht finanziert). Die Schaffung von Gemeinschaftsstrukturen und die Förderung von Nachbarschaftsbeziehungen spielen eine wichtige Rolle in der Bekämpfung von Isolation. Diese zwischenmenschlichen Dynamiken entstehen nicht wie von Zauberhand. Sie erfordern den Einbezug von Fachleuten, wie zum Beispiel Sozialreferentinnen, um entsprechende Initiativen zu begleiten und zu moderieren. Eine vielversprechende Lösung könnte sein, lokale Begegnungsmöglichkeiten wie einladende Räumlichkeiten oder Cafés zu schaffen und regelmässige Aktivitäten im Quartier zu organisieren.
Laut der Befragung wünschen sich 23 Prozent der Befragten mehr Kontakt zu ihren Nachbarn. Wie kann man diesen fördern und aufrechterhalten?
Es sind Massnahmen auf verschiedenen Ebenen erforderlich. Zunächst einmal braucht es unbedingt Räumlichkeiten, wo sich die Menschen treffen und austauschen können. Und in Bezug auf das Wohnen im engeren Sinn muss auch das Wohn- und Lebensumfeld angepasst werden. Es geht um Umgestaltungen und Anpassungen an den Orten, wo die Menschen aktuell leben. Für die Gemeinwesen und Hauseigentümer stellt dies eine grosse Herausforderung dar, denn sie sind für diese Themen wenig sensibilisiert und es fehlt an Unterstützung. Die erfolgreiche Umsetzung dieser Massnahmen setzt daher eine koordinierte Mobilisierung der Politik und eine verstärkte Förderung lokaler Initiativen voraus, die ohne eine angemessene institutionelle und finanzielle Unterstützung schnell erlahmen könnten.
Welches sind die wichtigsten Erkenntnisse aus dieser Befragung?
Die Befragung zeigt, wie wichtig Nachbarschaftsbeziehungen als Quelle der Unterstützung und Solidarität für die älteren Menschen sind. Sie bieten eine wichtige Ergänzung zur Familie, die nach wie vor die primäre Stütze ist. Dank der Diversifizierung der Wohnformen verfügen die Bewohnenden heute über Umgebungen, die besser auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind. Zudem sind Seniorinnen und Senioren immer besser über diese vielfältigen Wohnoptionen informiert und können sich einen Wechsel auch besser vorstellen. Es ist unerlässlich, attraktive Gemeinschaftsräume zu schaffen, soziale Wohnbauträger zu mobilisieren und auf Fachpersonen wie Sozialarbeitende im Quartier oder Sozialreferentinnen im Wohn- und Lebensumfeld zu setzen, um soziale Beziehungen zu fördern.
Wie sehen Sie den Age Report in Zukunft, insbesondere im Hinblick auf die öffentliche Politik?
Wie es mit dem Age Report weitergeht, wird derzeit von den Stiftungen, die ihn finanzieren, diskutiert. Es ist noch zu früh, um einen konkreten Rahmen festzulegen. Auch auf Bundesebene wird darüber diskutiert: Derzeit ist ein Bericht unter der Leitung des Bundesamtes für Wohnungswesen, des Bundesamtes für Raumentwicklung und des Bundesamtes für Sozialversicherungen in Arbeit, der dem Bundesrat im Rahmen der Massnahmen des Aktionsplans gegen die Wohnungsknappheit vorgelegt wird. Vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung und der Notwendigkeit, altersgerechte Wohnformen zu schaffen, könnte dieser Bericht einen wertvollen Beitrag leisten. Heute fehlen qualitative Erhebungen, insbesondere zu Fragen im Zusammenhang mit den Themen Umzug und soziale Begleitung bei Übergängen. Angesichts der Herausforderungen in Verbindung mit der alternden Bevölkerung ist es äusserst wichtig, Projekte zu entwickeln, einen innovativen Ansatz zu verfolgen und die qualitative Dokumentation zu stärken, um im Hinblick auf die öffentliche Politik einen systematischeren und kohärenteren Überblick bieten zu können.
Age Report V: Wohnen und Nachbarschaft im Alter
Die fünfte Ausgabe des Age Reports, herausgegeben von Valérie Hugentobler und Alexander Seifert, ist auf Deutsch und Französisch erhältlich und legt den Fokus auf das Thema Nachbarschaft. Das Werk stützt sich auf eine repräsentative Befragung von 2644 Seniorinnen und Senioren in der ganzen Schweiz und gibt einen Einblick in das aktuelle Wohn- und Lebensumfeld von Menschen im Alter. 19 Forschende aus unterschiedlichen Disziplinen und Landesteilen untersuchen darin den Einfluss der sozialen und räumlichen Dimensionen des Lebensumfelds. Sie beschäftigen sich mit der Rolle der Nachbarschaft im Alltag der Senioren und damit, wie Letztere ihre Wohnumgebung mitgestalten.
Foto: zvg