HERAUSFORDERNDES VERHALTEN | «Halt die Fresse – halt mich fest»

06.11.2024 Barbara Lauber

Gewalt, Missbrauch, Vernachlässigung: Die Jugendlichen, die im Schlupfhuus Zürich einen sicheren Ort auf Zeit finden, sind oft komplex traumatisiert. Damit Beziehung überhaupt möglich wird, arbeitet das Schlupfhuus nach traumapädagogischen Grundsätzen. Das Ziel: Sicherheit geben, verlässliche Beziehungen anbieten und Hoffnung vermitteln – damit die Jugendlichen mit mehr Boden unter den Füssen weiterziehen können.

Gratwanderungen, Abgründe, Chaos. Immer wieder Schuld und Scham, die wie Ohrfeigen brennen. Wut, die wild um sich schlägt. Traurigkeit, Verzweiflung oder Leere, die alles verschlingt. Dazwischen Lachen, Necken, Aufatmen, Hoffen, Alltag.

Die Emotionen, die sich auf den fünf Stockwerken des Schlupfhuus Zürich immer wieder aufbäumen, scheinen manchmal in jede Hausritze zu sickern. So versucht Institu­tionsleiter und Psychologe Lucas Maissen jeweils offen und neugierig zu spüren, wie die Stimmung im Haus ist, wenn er die Eingangstür zum Schlupfhuus aufstösst. «Du weisst nie, was dich erwartet», sagt er.

Sicherer Wohnort auf Zeit

Das Schlupfhuus Zürich bietet jedes Jahr rund 65 Jugendlichen in schwierigen Lebenssituationen Krisencoachings und einen sicheren Wohnort auf Zeit an. Für die einen ist das Schlupfhuus ein Hafen im chaotischen Alltag, eine entlastende Auszeit von Familie, Institution oder Strasse. Für andere ist es ein Durchgangsort auf der Achterbahn zum Erwachsenwerden. Ein Drittel der zwölf- bis neunzehnjährigen Bewohner:innen verlässt das Schlupfhuus bereits in den ersten Wochen wieder. Rund die Hälfte jedoch bleibt – ein, zwei, drei Monate und länger. Die Mädchen sind im Schlupfhuus in der Mehrheit.

Im Schlupfhuus erwartet die Jugendlichen ein gemeinsam gestalteter Alltag und ein gemeinsames Unterwegs- und In-Beziehung-Sein. Kurz: Tagesstruktur, psychotherapeutische Begleitung, Einzel- und Gruppengespräche, Sitzungen mit Eltern, Schule, Lehrbetrieb und Behörden, Freizeitgestaltung. Nach ihrem Eintritt durchlaufen sie die drei Phasen «Ankommen», «Weiterkommen» und «Weitergehen». «Zu Beginn steht immer die psychosoziale Stabilisierung der Jugendlichen im Zentrum», erklärt Lucas Maissen. «Die Klärung ihrer Situation erfolgt erst in einem zweiten Schritt.» Diese klare Trennung zwischen den beiden Schritten, für die auch zwei unterschiedliche Teams verantwortlich sind, habe sich bewährt: «Die Jugendlichen brauchen eine gewisse Stabilität und Sicherheit, um überhaupt in der Lage zu sein, über ihre Situation, über nächste Schritte und mögliche Anschlusslösungen nachzudenken.»

Chronische Traumatisierungen

«Die meisten Jugendlichen im Schlupfhuus haben chronische Traumatisierungen erlebt», sagt Maissen. «Viele sind beim Eintritt emotional in Aufruhr, kämpfen mit Scham- und Schuldgefühlen und haben Mühe, von sich zu erzählen. Andere wiederum wirken funktional und können sich klar artikulieren.» Ihnen allen gemeinsam ist, dass sie entweder mit ihrer aktuellen Lebenssituation nicht mehr zurechtkommen oder körperliche, psychische oder sexuelle Gewalt erlebt haben. Viele sind zu Hause geschlagen, beschämt, fertiggemacht, misshandelt oder vernachlässigt worden. Nicht selten von Eltern, die selbst psychisch belastet sind.

Einige der Jugendlichen haben auf die erlebte Gewalt ebenfalls mit Gewalt reagiert. Andere haben still gelitten und weiterfunktioniert, sich selbst verletzt oder versucht, ihre Probleme mit Suchtmitteln und Drogen zu lösen. «Jede Geschichte ist anders», sagt Maissen. So gebe es auch hinsichtlich Herkunft nicht die typischen Schlupfhuus-Jugendlichen. «Sie kommen aus allen sozialen Schichten: aus bildungsfernen wie bildungsnahen Milieus, aus prekären wie aus gutsituierten Verhältnissen.»

Sicherheit vermitteln, immer wieder neu

Der Umgang mit komplex traumatisierten Jugendlichen erfordert von den 24 Mitarbeitenden des Schlupfhuus grosse Sorgfalt, kontinuierliche Selbstreflexion und hohe Fachlichkeit. Oft begegnen sie doppelten Botschaften, die Lucas Maissen mit den Worten «Halt die Fresse – halt mich fest!» auf den Punkt bringt. «Diese Jugendlichen haben wenig echte Sicherheit oder verlässliche Beziehungen erlebt. Entsprechend anspruchsvoll ist es, ihr Vertrauen zu gewinnen und mit ihnen in Beziehung zu kommen.»

Viele Jugendliche mussten in ihrem Leben früh lernen, stets sorgfältig abzuchecken, in welcher Stimmung ihr Gegenüber gerade ist und ob ihnen in diesem Moment Gefahr droht. «Sie haben dadurch ein feines Sensorium für Worte, Bewegungen oder Blicke entwickelt», erklärt Maissen. Deshalb sei es im Schlupfhuus zentral, keine entsprechenden Trigger zu setzen, sondern traumasensibel zu arbeiten.

Traumasensibel arbeiten

Das Schlupfhuus, gegründet 1980, erkannte schon früh, dass klassische pädagogische Konzepte nicht ausreichten, um komplex traumatisierte Jugendliche zu erreichen und Mitarbeitende vor dem Ausbrennen zu schützen. Das Schlupfhuus entschied sich deshalb für einen traumapädagogischen Ansatz und setzte diesen mit Unterstützung der UPK Basel als erste Institution im deutschsprachigen Raum im Kurzzeit-Setting um. «Die Traumpädagogik hilft uns, der individuellen Situation hochbelasteter Jugendlicher Rechnung zu tragen. Die entsprechende Haltung ist dabei wichtiger als die richtigen Techniken oder Methoden», betont Maissen.

Im Zentrum steht das Ziel, das Schlupfhuus als «möglichst sicheren Ort» zu gestalten – in einem äusseren wie inneren Sinn. Dazu gehört auch, dass die Jugendlichen wieder Kontrolle, Selbstwirksamkeit sowie Verlässlichkeit und Wertschätzung in Beziehungen erfahren können. «Sie sollen Beziehungen (wieder) als sicheren Ort erleben und bei uns neue, korrigierende Beziehungserfahrungen machen können», so Maissen.

In Beziehung bleiben: «simple but not easy»

Das Schlupfhuus hat sieben traumapädagogische Prinzipien formuliert, die sich an traumapädagogischen Standards orientieren und die tägliche Arbeit durchdringen. «Sie sind konzeptuell in allen Schlüsselprozessen auf allen Ebenen implementiert», erklärt Lucas Maissen. Diese sieben Prinzipien sind: Möglichst transparent informieren. Wertschätzend sein. Die Jugendlichen als Expert:innen ihres Lebens verstehen. Stets einen guten Grund für ihr Verhalten annehmen. Partizipation ermöglichen. In ein Verstehen kommen, ohne einverstanden sein zu müssen. Und immer wieder Freude, Humor und Leichtigkeit in den Alltag bringen.

«It’s simple but not easy», so Maissen. «Gerade bei hochkonflikthaften Verläufen ringen auch wir als Fachpersonen und als Team immer wieder um diese Haltung.» Doch selbst dann sei es ihr Ziel, mit den Jugendlichen in Beziehung zu bleiben und ihnen aufrichtig sagen zu können: «Auch wenn du mir hundert Mal sagst, ‹halt die Fresse!› oder ‹hau ab!›: Ich bleibe – ich bin da, wenn du mich brauchst.»

Mitarbeitende sind stark herausgefordert

Die ehrliche Auseinandersetzung mit sich und dem eigenen lebensgeschichtlichen Rucksack, mit schwierigen Emotionen und Triggern, mit Nähe und Distanz fordert die Mitarbeitenden stark heraus. Grösste Stütze sei dabei das Team, betont Maissen. «Wir unterstützen und begleiten einander, diskutieren, was uns in Extremsituationen Sicherheit geben kann, und übernehmen, wenn jemand an seine Grenzen kommt.» Im Schlupfhuus bedeute Professionalität nicht, nie aus dem Stresstoleranzfenster zu fallen. Sie bedeute vielmehr, es rechtzeitig zu bemerken und sich Unterstützung zu holen. Aus diesem Grund will auch Maissen in herausfordernden Situationen stets von sich wissen: «Was löst die erlebte Situation bei mir selbst aus? Kann ich noch Leuchtturm für die Jugendlichen sein? Fühle ich mich noch handlungsfähig? Bin ich noch in meiner Sicherheit? Und wenn nicht, wie schaffe ich es dorthin zurück?»

Hoffnung vermitteln – und loslassen können

Schwierig ist für die Mitarbeitenden auch der Umgang mit Situationen, die sich bei den Jugendlichen zu Hause abspielen. Oft werden sie zwar beratend beigezogen, können aber nicht sofort in die Lösung gehen. «Das freiwillige Mitmachen der Jugendlichen ist uns sehr wichtig. Deshalb müssen wir manchmal auch aushalten, dass wir eine schwierige Situation nicht von heute auf morgen beenden können. Ab und zu braucht es kleine Schritte. Auch diese können Zuversicht und die Hoffnung vermitteln, dass sich die aktuelle Situation verändern lässt», sagt Lucas Maissen.

Genau um diese Hoffnung geht es auch, wenn die Jugend­lichen das Schlupfhuus wieder verlassen. «Uns ist bewusst, dass wir mit unserem Kurzzeit-Setting das Leben der Jugend­lichen nicht komplett verändern können», so Maissen. «Im besten Fall ist es ihnen jedoch möglich, mit mehr Klarheit, Zuversicht, Vertrauen und mit festerem Boden unter den Füssen weiterzugehen. Und sonst wissen sie: Wir sind für sie da, wenn sie uns wieder brauchen sollten.»
 


Die 7 traumapädagogischen Prinzipien des Schlupfhuus

  1. Transparenz: den Jugendlichen mit transparenter Information ein Stück Kontrolle zurückgeben
  2. Partizipation: die Jugendlichen aktiv in die Gestaltung von Prozessen, Regeln, Abmachungen etc. einbeziehen
  3. Expert:innenschaft: anerkennen, dass die Jugendlichen Expert:innen ihres eigenen Lebens sind
  4. Annahme des guten Grunds: für ein bestimmtes Verhalten Hypothesen für mögliche gute Gründe formulieren und Handlungsmöglichkeiten ableiten
  5. Verstehen, ohne einverstanden sein zu müssen: bisherige Bewältigungsstrategien verstehen und wertschätzen, ohne sie gutzuheissen
  6. Wertschätzung: den Blick auf Ressourcen und das Gelingende richten und bisherige (Über-)Lebensleistung würdigen
  7. Erleben von Freude: dem Schweren bewusst Humor und Erfahrungen von Freude und Leichtigkeit entgegensetzen


Foto: Schlupfhuus