Geborgen im Leben und Sterben
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Spiritualität ist mehr als Religion. Es handelt sich um eine Dimension des Lebens, die Kraft spendet und Sinn stiftet. In der Langzeitpflege gewinnt Spiritual Care an Bedeutung. Wie spirituelle Handlungen im Pflegealltag gelebt werden und warum sie Geborgenheit vermitteln, erfährt man im Alters- und Pflegeheim Erlenhaus in Engelberg OW.
Wenn sich eine Ortschaft Engelberg nennt, muss auf diesem Landstrich ein Hauch von Mystik liegen. Die Engel und der Berg stehen als Symbole für Spiritualität. Die einen versinnbildlichen Elemente der Religion, die anderen verkörpern die Übermacht der Natur. Aus diesen Kraftquellen schöpft man in Engelberg Lebensenergie. Nicht nur im barocken Benediktinerkloster, das seit dem 12. Jahrhundert am Fusse des Titlis steht, sondern auch im Erlenhaus, einem Alters- und Pflegeheim, das sich seit 40 Jahren im Ortskern der Obwaldner Gemeinde befindet: «Die Spiritualität nimmt in unserem Zusammenleben einen wichtigen Platz ein», sagt Theres Meierhofer, die den Betrieb seit 20 Jahren leitet. Sie sei schon immer offen gewesen gegenüber «dem, was über uns hinausgeht»– so ihre Definition von Spiritualität. Um diese Lebensdimension im Lauf der Zeit in der Organisation zu verankern, musste die Betriebsleiterin Worte dafür finden. Heute lautet das Motto: «Geborgen im Leben, Geborgen im Sterben». Diese Botschaft versteht man im Erlenhaus als eine Art Versprechen. «Wir bieten den Menschen Raum, um sich mit Lebensfragen auseinanderzusetzen», erklärt Theres Meierhofer – und stellt somit klar, dass Spiritualität weit mehr ist als Religiosität.
Existenzielle Themen
Sinnfragen gewinnen in der Langzeitpflege an Bedeutung. Deshalb ist Spiritual Care, so der Fachbegriff, derzeit in vielen Institutionen ein Thema, mit dem man sich auseinandersetzt. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) anerkennt spirituelles Wohlbefinden als Dimension von Gesundheit, die physischen, psychischen und sozialen Aspekten gleichkommt. Sie empfiehlt deshalb den Einbezug der spirituellen Ebene in die Behandlung und Betreuung. Auch die Schweizerische Gesellschaft palliative.ch macht mit einer neuen Broschüre auf das Thema aufmerksam. «Spiritualität wird verstanden als Verbundenheit einer Person mit dem, was ihr Leben trägt, inspiriert und integriert», ist unter anderem im Dokument zu lesen. Es gehe um existenzielle Überzeugungen, Werthaltungen, Erfahrungen und Praktiken. Der Theologe Pascal Mösli ist Mitglied der Arbeitsgruppe Spiritual Care bei palliative.ch und hat am Impulspapier mitgearbeitet. Er sagt: «Mit Spiritual Care sollen Menschen unterstützt werden, sodass sie ihr Leben auch im Alters- oder Pflegeheim individuell gestalten können und Zugang zu ihren Kraftquellen haben.»
Beten oder ein Lied singen
Die Spiritualität wird im Erlenhaus, das 50 Pflegebetten umfasst und dem 27 Alterswohnungen angeschlossen sind, auf vielseitige Art und Weise gelebt. Während bei den einen ein begleiteter Spaziergang in naturnaher Umgebung das Wohlbefinden stärkt, besuchen die anderen gerne die katholische Messe, die zweimal wöchentlich im Heim stattfindet. Manchmal löst auch das gemeinsame Singen eines Liedes oder das Betrachten eines Berges Emotionen aus, was häufig zu sinnstiftenden Gesprächen mit den Bewohnenden führe, erzählt Theres Meierhofer. Sie betont, dass Spiritual Care nicht als Angebot verstanden werden sollte, sondern als Grundhaltung, die in alle Bereiche des Alltags einfliesse. Deshalb sind im Erlenhaus alle Mitarbeitenden für das Thema sensibilisiert und in entsprechenden Weiterbildungen geschult worden. «Existenzielle Fragen lassen sich nicht auf eine Berufsgruppe reduzieren», betont die Betriebsleiterin. Das Wahrnehmen von spirituellen Bedürfnissen dürfe nicht separiert werden, sondern sei Teil einer umfassenden Betreuung. Ein wesentlicher Aspekt ist die interprofessionelle Zusammenarbeit mit Fachpersonen der Seelsorge. In Engelberg ist man gut versorgt: «Wir arbeiten eng mit den Pfarrpersonen beider Konfessionen zusammen und pflegen einen unkomplizierten Kontakt», freut sich Theres Meierhofer.
Die Biografie gibt Aufschluss
Die Broschüre von palliative.ch weist darauf hin, dass Spiritual Care ältere Menschen «auf der Suche nach Lebenssinn, Lebensbewältigung und Lebensvergewisserung sowie bei der Krisenbewältigung» begleiten könne. Sie tue dies in einer Art, die auf die Biografie und das persönliche Werte- und Glaubenssystem Bezug nehme. Im Erlenhaus spricht man deshalb das Thema beim Eintritt einer neuen Bewohnerin, eines neuen Bewohners bewusst an. «Wir erkundigen uns jeweils nach der biografischen Spiritualität», sagt Theres Meierhofer. Die Gespräche würden Aufschluss über die Bedürfnisse geben, sodass man individuell auf die Person eingehen und passende Angebote machen könne. Bei katholisch geprägten Frauen, die im Klosterdorf Engelberg die Mehrheit ausmachen, stösst beispielsweise das wöchentliche Rosenkranz-Beten im Raum der Stille auf Resonanz. Dieser Raum wurde im Rahmen der Gesamtrenovation des Hauses im Jahr 2022 neu gestaltet. Hier haben die Bewohnenden und ihre Angehörigen Gelegenheit, konfessionell unabhängige Rituale auszuüben, sei es in einer Gruppe oder für sich allein. Zudem betet man hier für Verstorbene, bevor sie bestattet werden. Der Anblick einer Urne ist im Raum der Stille keine Seltenheit.
Spiritual Care systematisch verankern
Die zunehmende Bedeutung von Spiritual Care ordnet Pascal Mösli einem Trend zu: «Der personenzentrierte Ansatz spielt in der Pflege eine wichtige Rolle», so der Theologe. Menschen und ihre persönlichen Anliegen rückten ins Zentrum und somit auch ihre individuellen spirituellen Bedürfnisse. Die neue Broschüre vermittelt weiterführende Informationen, sodass Verantwortliche von Alters- und Pflegeeinrichtungen Spiritual Care in die Organisation integrieren können.
Zu ihnen zählt auch Theres Meierhofer, wie sie erklärt: «Obwohl wir diese Dimension des Lebens im Erlenhaus schon lange beachten, gibt es bisher kein eigentliches Konzept.» Das soll sich nun ändern. Die Stiftung Erlen wird sich als einer von vier Praxisbetrieben an einer Studie beteiligen, die unter der Leitung der Arbeitsgruppe Spiritual Care von palliative.ch und unter Einbezug der Universität Basel umgesetzt werden soll. Ziel und Zweck sind laut Pascal Mösli einerseits eine Bestandesaufnahme: «Wir möchten herausfinden, wie stark die Spiritualität im Bereich Palliative Care in der Schweiz verbreitet ist», sagt er. Andererseits soll aufgezeigt werden, wie das Angebot professionell in Organisationen verankert werden kann. Denn: Nur wenn Spiritual Care systematisch integriert wird, kann sich die Kultur der Institution weiterentwickeln.
Mehrwert für alle
Bereits jetzt ist klar, dass es dazu spezialisiertes Fachwissen und Arbeitsinstrumente braucht. «Professionelle Seelsorgerinnen und Seelsorger sollten verbindlich in die Zusammenarbeit eingebunden werden», gibt Pascal Mösli zu bedenken. In vielen Fällen bewähre sich die Zusammenarbeit mit lokalen Pfarrpersonen aus den Kirchgemeinden, wie das Beispiel Engelberg zeige. Auch die Weiterbildung von Mitarbeitenden ist ein wichtiger Bestandteil der interprofessionellen Spiritual Care. Diesem Aufwand stehe ein Gewinn gegenüber, führt der Experte aus: «Wir sind überzeugt, dass Spiritual Care allen Beteiligten einen Mehrwert bringt.» Zum einen seien es die Betroffenen selbst, zum anderen ihre Angehörigen, die bei Gesprächen und Ritualen einbezogen und dabei Unterstützung sowie Anerkennung erfahren würden. Auch Mitarbeitende profitieren: «Spiritual Care verleiht ihnen Kraft und Inspiration für den Beruf und stärkt die Sinnhaftigkeit ihrer Tätigkeit», so Pascal Mösli. Im Erlenhaus prägt die spirituelle Dimension längst die Kultur. Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen und Konfessionen teilen ihren Alltag. An diesem Ort will man dem Leben seinen Lauf lassen. Das grosse Ganze ist allgegenwärtig. Wer darüber sprechen möchte, stösst auf Offenheit. Wer dazu schweigt, ist gleichwertig. Denn das höchste Gebot von Spiritual Care ist die Freiwilligkeit.
Impulse für die Spirituelle Begleitung
Impulse für Spiritual Care in der Langzeitpflege» – so der Titel einer Broschüre, die kürzlich von der Arbeitsgruppe Spiritual Care der Schweizerischen Gesellschaft palliative.ch herausgegeben wurde. Die Arbeitsgruppe setzt sich aus Fachpersonen der Pflegewissenschaft, Seelsorge, Medizin, Psychologie und Sozialarbeit zusammen.
Das Impulspapier benennt den Stellenwert von Spiritual Care in der Gesundheitsversorgung und zeigt Handlungsfelder in der Langzeitpflege auf. Dabei geht es um die aktive Gestaltung der letzten Lebensphase, den Zugang zu spirituellen Handlungen, das Bilden von Netzwerken, die Unterstützung von Angehörigen sowie die Begleitung während der Trauerphase.
In einem weiteren Kapitel listen die Autorinnen und Autoren die Voraussetzungen auf, die erfüllt sein müssen, um Spiritual Care in die alltäglichen Abläufe der Organisation zu integrieren. Bemerkenswert sind dabei die methodischen Instrumente, die zur Anwendung empfohlen werden. Zum Beispiel das sogenannte Indikationen-Set, das die Zusammenarbeit von Gesundheitsfachpersonen und Seelsorge in der Spiritual Care unterstützt. Das Instrument fördert deren gemeinsames Verständnis und eine gemeinsame Sprache für die spirituelle Begleitung.
Foto: Erlenhaus