Für einen gelingenden Übergang

19.07.2023 Marie-Thérèse Hofer, Beatrice Knecht Krüger & Natascha Marty

Junge Menschen, die im Übergang von einer Institution oder Pflegefamilie ins eigenständige Erwachsenenleben stehen, ­benötigen ein tragendes Netzwerk. Damit Care Leaverinnen und Care Leaver Chancen- und Rechtsgleichheit erleben, braucht es Akteure an verschiedenen Orten und auf unterschiedlichen ­Ebenen. Das Kompetenzzentrum Leaving Care nimmt dabei eine Drehscheibenfunktion ein.

Das afrikanische Sprichwort ist bekannt und wahr: «Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind grosszuziehen.» Das ganze Dorf braucht es nicht nur zu Beginn eines Kinderlebens, sondern auch im herausfordernden Übergang ins eigenständige Erwachsenenleben. Gerade die Thematik Leaving Care veranschaulicht gut, wie wichtig ein tragendes Netzwerk für ein gelingendes Erwachsenenwerden ist. Welche Beiträge wir vom Kompetenzzentrum Leaving Care (KLC) dazu leisten und was wir in der nächsten Zeit planen, beschreiben wir in diesem Artikel.

Welcher Zusammenhang besteht zwischen einem Lunch im Bundeshaus mit Parlamentarierinnen und Parlamentariern, einer Diskussion in Lausanne, einer Tagung für Fachpersonen der Kinder- und Jugendhilfe im Kanton Bern sowie den acht Gesichtern, die von Plakatwänden in fünf grossen Städten in der Deutschschweiz auf die Betrachtenden schauen und provokativ «Deplatziert?» fragen?

Was sich wie eine Tour de Suisse anhört, beschreibt eine Auswahl unserer Aktivitäten der letzten Zeit und weist auf die Zielgruppen unserer Arbeit respektive auf unsere verschiedenen Kooperationen hin. Alles, was wir seit dem Start des Kompetenzzentrums im Jahr 2019 gemacht haben und weiterhin tun, dient dazu, die Thematik Leaving Care schweizweit in den Fokus der gesellschaftlichen und sozialpolitischen Aufmerksamkeit zu rücken. Dabei hängen unsere verschiedenen Aktivitäten zusammen, denn was wir auf einer Ebene anstossen und erreichen, hat Auswirkungen auf anderen Ebenen.

«Die rechtlichen Grundlagen in den Kantonen, die regeln, ob und welche Leistungen über die Volljährigkeit hinaus möglich sind, weisen eklatante Unterschiede auf.»

Gesetze sind (noch) nicht zeitgemäss

Der Grund dafür, dass es mit der Chancen- und Rechtsgleichheit für Care Leaverinnen und Care Leavern aktuell noch hapert, liegt an den strukturellen Bedingungen, die junge Menschen im Übergang von der ausserfamiliären Unterbringung ins Erwachsenenleben vorfinden. Ein Kinder- und Jugendhilfegesetz auf Bundesebene existiert nicht, und die rechtlichen Grundlagen in den Kantonen, die regeln, ob und welche Leistungen über die Volljährigkeit hinaus möglich sind, weisen eklatante Unterschiede auf.

Um in dieser Vielfalt von kantonalen Regelungen Klarheit zu schaffen, haben wir mit dem «Mapping Rechtliche Grundlagen» eine Übersicht erarbeitet und ein Profil jedes Kantons erstellt. Mit der soeben erschienenen «Orientierung Rechtliche Grundlagen» leisten wir zudem eine Einordnung zu den rechtlichen Bestimmungen auf der Ebene des Bundes sowie der Kantone und präsentieren fachlich begründete Empfehlungen für geeignete Rahmenbedingungen sowie weitere Entwicklungen.

Bei Vernehmlassungen zu geplanten Gesetzesänderungen nehmen wir Stellung und teilen unsere Fachexpertise mit kantonalen Verwaltungen, wenn sie die Umsetzung neuer Gesetze planen oder überprüfen wollen. Wenn es darum geht, wie die Praxis diese neuen gesetzlichen Grundlagen realisieren kann, sind wir auch dabei. Zuletzt geschehen in einer Veranstaltung im Kanton Bern, die wir zusammen mit Socialbern und dem Jugendamt des Kantons Bern durchgeführt haben, um mit Fachpersonen zuweisender Stellen sowie aus Institutionen und Dienstleistungsanbietenden in der Familienpflege (DAF) die neuen Anwendungsmöglichkeiten zu thematisieren.

Veränderungen oder Neuentwicklungen von Gesetzen sind langwierige Prozesse und eng verknüpft mit der Politik. Wir engagieren uns auch auf dieser Ebene und führen neu das Sekretariat der parlamentarischen Gruppe «Care Leaving – ehemalige Heim- und Pflegekinder». Ein erstes Treffen mit der Gruppe und weiteren Interessierten fand in der Sommersession im Bundeshaus statt. Dabei und auch bei vielen anderen Gelegenheiten spannten wir mit dem Verein Careleaver Schweiz (careleaver.ch) zusammen. Er setzt sich stark aus Betroffenensicht für die Interessen von Care Leaverinnen und Care Leavern ein und bringt die Erfahrungsexpertise sowie jede Menge Engagement mit. Ein Beispiel für eine erfolgreiche Zusammenarbeit ist die multimediale Kampag­ne «CareLeaverTalk», die wir 2021 gemeinsam umgesetzt haben. Die Plakate «Deplatziert?» waren Teil der Kampagne, die zu einem grossen Medieninteresse und einer breiten Sichtbarkeit der Thematik in der Öffentlichkeit geführt hat.

«Wir wollen die Thematik Leaving Care schweizweit in den Fokus der ­gesellschaftlichen und ­sozialpolitischen ­Aufmerksamkeit rücken.»

Obwohl die Bedingungen vielerorts noch weit entfernt von «gut» sind und der Zugang zu Unterstützung davon abhängt, wo eine junge Person wohnt, gibt es inzwischen verschiedene bedarfsorientierte Angebote für Care Leaverinnen und Care Leaver. Etliche Jugendheime haben das Modell der «aktiven Kontaktaufnahme» der Stiftung Zürcher Kinder- und Jugendheime übernommen und bieten für ihre ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohnern ein Coaching im Übergang ins Erwachsenenleben an. Daneben gibt es weitere Formen der direkten Unterstützung für Care Leaverinnen und Care Leaver, wie kurzfristige Rückkehroptionen oder Workshops zu administrativen Themen für Ehemalige.

Die Netzwerke von Care Leaverinnen und Care Leavern, die bis dato in den Regionen Basel, Zürich, Bern und der Zentralschweiz existieren, bieten ebenfalls Unterstützung wie Treffen, WhatsApp-Gruppen oder Peer-­to-Peer-Angebote. Wir arbeiten auf die Vernetzung und Kooperation dieser Personen und Organisationen hin, damit sie gegenseitig vom Wissen und den Erfahrungen profitieren können. Gemeinsam ein Unterstützungsnetz für Care Leaverinnen und Care Leavern im anspruchsvollen Übergang ins Erwachsenenleben zu bilden, das ist unser Ziel. Dazu tragen wir mit unserem Mapping der Angebote für Care Leaverinnen und Care Leaver und mit Vernetzungsworkshops bei. Zudem weisen wir in persönlichen Kontakten auf gute Beispiele hin, vernetzen die Fachpersonen miteinander und beraten sie auch im Einzelfall.

Für Fachpersonen, die sich neu oder vertieft mit der Thematik befassen wollen, bieten wir Seminare beziehungsweise Workshops zur Sensibilisierung und Weiterbildung an – auch massgeschneidert auf den Betrieb. Mit Konzeptberatungen unterstützen wir Organisationen, passgenaue Angebote zu entwickeln und diese erfolgreich zu implementieren.

«Es gibt noch viel zu tun im Hinblick auf die Chancen- und Rechtsgleichheit von Care Leaverinnen und Care Leavern.»

Wie geht es weiter?

Einiges wurde schon erreicht, viel gibt es noch zu tun im Hinblick auf die Chancen- und Rechtsgleichheit von Care Leaverinnen und Care Leavern. Wir wollen unsere bewährte Ausrichtung als Drehscheibe für die Thematik Leaving Care in der Schweiz beibehalten und das KLC weiterhin nachhaltig verankern. Auch künftig teilen wir unser vielfältiges Wissen in direkten Kontakten, auf unserer Website oder via Newsletter. Als zusätzliche Schwerpunkte werden wir in den kommenden Jahren die Vernetzung der sozialen Infrastruktur fördern, die lateinische Schweiz erschliessen und uns tatkräftig für die Verbesserung der strukturellen Bedingungen einsetzen.

Möchten Sie ein Teil des Dorfes sein oder ein Rädchen in der Drehscheibe, dann treten Sie mit uns in Kontakt (leaving-care.ch). Gemeinsam bilden wir eine nachhaltig orientierte Dorfgemeinschaft, die junge Menschen bei einem guten Start und im Übergang ins Erwachsenenleben unterstützt.


Autorinnen

Beatrice Knecht Krüger ist Leiterin des Kompetenzzentrums Leaving Care (KLC); Marie-Thérèse Hofer und Natascha Marty sind Fachmitarbeiterinnen des Kompetenzzentrums.
 


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