ESSEN | Für Kinder kochen – das ist ein Kunststück
Am Landenhof Zentrum für Hören und Sehen in Unterentfelden AG hat das Küchenteam ein Ernährungskonzept ausgetüftelt, um den Kindern und Jugendlichen leckeres und zugleich gesundes Essen zu bieten. Für das gemeinsame Kochen mit den Kindern erhielt der Landenhof sogar eine Auszeichnung. Aktuell lernen alle Mitarbeitenden, wie sie auf die besonderen Bedürfnisse von Kindern mit Sehbeeinträchtigung eingehen können.
Jsabelle Bader bleibt stehen: Auf einem Rolli in der Küche liegt ein Zettel. Er ist an die «Liebi Chuchi» adressiert, und sie liest ihn gespannt. «Ich han die Sandwich gestern Abig mega lecker gefunde», steht da in einer hübschen Mädchenschrift, verziert mit Sternen und einem Smiley. «Gerne noch mehr davon», heisst es dann: «Ich schätze allgemein sehr das Essen, das ihr für uns kocht.»
Solche Rückmeldungen freuen Jsabelle Bader, stellvertretende Leiterin Verpflegung des Landenhofs. Sie schmunzelt und sagt: «Offenbar machen wir unsere Arbeit gut.» Diese Wertschätzung ist nicht selbstverständlich, die Kundschaft im Zentrum für Hören und Sehen in Unterentfelden AG ist anspruchsvoll: Rund 100 Kinder und Jugendliche von Tagesschule und Wocheninternat «Hören» essen aktuell täglich am Landenhof. Und gleichzeitig rund 80 Erwachsene, teils Lehrpersonen oder Mitarbeitende, manchmal auch externe Dozentinnen und Dozenten oder Seminargäste. «Normalerweise kochen wir über 150 Mittagessen», erklärt Bader. Die grösste Herausforderung dabei: «Es gilt nicht nur aufzustellen, was die Kinder und Jugendlichen am liebsten mögen. Sondern auch, was gesund ist.»
Ein Konzept für gesunde Ernährung
Was gesund ist, legte das Team bereits vor 20 Jahren in einem fein ausgearbeiteten Ernährungskonzept fest. Dieses wird laufend weiterentwickelt: «Die am Landenhof für alle Kunden zubereiteten Mahlzeiten haben vor allem für die Kinder und Jugendlichen klaren Modellcharakter und entsprechen dem optimalen Tellermodell», heisst es dort. Primär gilt die Ernährungsscheibe der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung SGE, alle zwei Jahre wird das Konzept durch den bereichsübergreifenden «Qualitätszirkel Ernährung» überprüft. Darin sind die wichtigsten Elemente rund um die Ernährung von Kindern und Jugendlichen einfach und alltagsnah dargestellt.
Der Grundsatz lautet: «Gesunde Ernährung für Kinder und Jugendliche liefert alle wichtigen Nährstoffe, welche für das geistige sowie körperliche Wachstum notwendig sind.»
Für die Kinder und Jugendlichen am Landenhof bedeutet das, sie sollen «Wasser trinken, Gemüse und Früchte essen, regelmässig essen, abwechslungsreich essen, mit allen Sinnen geniessen und in Bewegung bleiben». Und für das Küchenteam heisst das, zwar «Bedarf und Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen zu berücksichtigen», aber auch «auf Qualität und Quantität zu achten». Frittiertes beispielsweise gibt es maximal alle drei Wochen, ansonsten ist das Küchenteam gefordert, gesündere Varianten verlockend zuzubereiten. «Ganz klar ist», sagt Jsabelle Bader, «dass die Speisen frisch zubereitet werden. Wir kochen abwechslungsreich, ausgewogen, gesund, saisongerecht und nach Möglichkeit mit Produkten von regionalen Produzenten.»
Allerdings finden Kinder und Gemüse oft nicht so einfach zusammen. Das wissen alle, die schon einmal für Kinder gekocht haben. Wie Jsabelle Bader Wünsche und Ideale zusammenbringt? Sie lacht. Einiges wisse man einfach, wenn man vorwiegend für Kinder koche. «Alles andere lernt man sehr schnell aus der täglichen Erfahrung.» Konkret heisst das: Keine mit Gemüse vermischten Beilagen, sonst beginnen viele gar nicht erst mit Essen. Auch vermeidet Jsabelle Bader, Erbsen in einem Menu unterzumischen: «Einige Kinder würden bis 15 Uhr dasitzen und jedes einzelne Erbsli sorgfältig heraussuchen.» Darum liegen Erbsen immer schön separat neben den anderen Speisen. «Und wichtig ist auch: Keine Gurken im Sandwich! Sonst liegen sie erfahrungsgemäss am Nachmittag im ganzen Wald.» Auch Pünktchen von Muskatnuss beispielsweise oder Petersilien-Kartoffeln gingen für viele gar nicht.
«Wir bieten eine klare, ehrliche Küche ohne Traritrara», fasst Jsabelle Bader zusammen. Dafür sei auch ab und zu eine Tafel Schokolade vorgesehen. «Das ist kein Problem, wenn sich die Kinder und Jugendlichen sonst so ausgewogen ernähren», sagt sie. Mittlerweile sei es für viele so selbstverständlich, Wasser zu trinken, dass sogar schon Süssgetränke abgelaufen seien, erzählt sie fröhlich. Auch Ketchup sei schon über das Datum hinaus liegengeblieben. Das Prinzip der Landenhof-Küche: «Wir versuchen, Sachen schmackhaft zu machen, zwingen aber niemanden.» Für die Erziehung seien nicht sie von der Küche verantwortlich, sondern die Eltern. Oder bei den Wohngruppen, sowohl im Tageshort als auch im Wocheninternat, die Sozialpädagoginnen und -pädagogen.
«Das Prinzip der Landenhof-Küche lautet: Wir versuchen, gesundes Essen für die Kinder so schmackhaft wie möglich zu machen, zwingen aber niemanden.» Jsabelle Bader, stellvertretende Leiterin Verpflegung
Diese ihrerseits schätzen die enge Zusammenarbeit mit der Küche enorm: «Wenn ich einen Wunsch habe, kann ich diesen einfach per Intranet oder Zettel einreichen oder sogar kurzfristig per Telefon in der Küche etwas nachbestellen», sagt Sozialpädagogin Sandra Hocher, Leiterin der Wohngruppe Herkules. «Ich habe das noch nirgendwo anders so unkompliziert erlebt.» Um 11.45 Uhr holen alle Wohngruppen ihren Rolli mit den Essensboxen in der Küche ab und verteilen sich in den verschiedenen Zimmern gruppenweise um die Tische. So sitzen sie einander gegenüber und können von den Lippen absehen. Auch auf den Wohngruppen gilt: Will ein Kind etwas partout nicht essen, wird es ermuntert, es doch einmal zu probieren, aber zu nichts gezwungen. «Ich kenne Kinder und Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störung, die jeden Tag nur Teigwaren pur essen wollen», erklärt Jsabelle Bader. «Und das darf hier sein.»
Pädagogisches Kochen mit Kindern
Zum Ernährungskonzept gehören aber auch schön gedeckte Tische, gemeinsames Anfangen und Beenden der Mahlzeit, Tischmanieren und Gespräche untereinander am Esstisch. Ausserdem sollen die Schülerinnen und Schüler lernen, für ihre Ernährung Verantwortung zu übernehmen. Als noch mehr Kinder und Jugendliche im Internat wohnten, bot Jsabelle Bader deshalb am Mittwoch jeweils ein «Kochen mit Kindern» an. Dabei sollten die bis zu acht Kinder lernen, woher das Essen überhaupt kommt und wie eine Mahlzeit entsteht. So rüsteten, schnetzelten und kochten sie gemeinsam leckere Gerichte aus aller Welt. «Manchmal machte ich Themennachmittage, einen griechischen, einen italienischen, jeweils altersmässig abgestimmt und manchmal mit Rezepten, die die Kinder selber mitbrachten.» Unterstützt wurde Jsabelle Bader jeweils von einer Sozialpädagogin. Und sie machte es gerne: «Ich versuchte Kindern, die schnödeten, es gebe immer nur Kartoffeln, zu zeigen, was sich damit alles Schmackhaftes und Gesundes herstellen lässt.» Genau das ist laut Ernährungskonzept das Ziel: «Das gemeinsame Kochen soll neue Sinneserlebnisse vermitteln.»
«Wenn ich einen Wunsch habe, kann ich diesen einfach per Intranet oder Zetteleinreichen oder sogar kurzfristig per Telefon in der Küche etwas nachbestellen. Ich habe das noch nirgendwo anders so unkompliziert erlebt.» Sandra Hocher, Sozialpädagogin
Und die Kinder, ausgestattet mit Kochmütze und Schürze, fanden diese Nachmittage jeweils ebenso toll wie Jsabelle Bader. Nach vollbrachter Arbeit hätten sie alle gemeinsam in der Cafeteria gegessen. «Und natürlich schmeckte das Selbstgekochte allen viel besser!» Für dieses Projekt unter dem Motto «Gemeinsam Kochen, Essen und Geniessen» erhielt der Landenhof vor einigen Jahren eine Auszeichnung von der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung und der Berner Fachhochschule. Aber diese Nachmittage, bedauert Bader, liessen sich heute nicht mehr so einfach durchführen, seit mehr Kinder und Jugendliche nur noch tagsüber am Landenhof essen: Inzwischen sind nur noch zwei Internatsgruppen geblieben.
Neu auch Kinder mit Sehbehinderung
Ab Sommer 2024 besuchen dafür neu auch Kinder und Jugendliche mit Sehbeeinträchtigung den Landenhof. Die Mitarbeitenden, inklusive Küchenteam, lernen deshalb in den nächsten Monaten, wie sie sich auf die besonderen Bedürfnisse der neuen Schülerinnen und Schüler vorbereiten können. «Für die Küche heisst das zum einen, dass sie auf den Tellern mit kräftigen Farben und gut erkennbaren Kontrasten arbeiten», erklärt Petra Persello, Leiterin Visiopädagogischer Dienst. «Blumenkohl, Kartoffeln und Poulet sind dann zumindest optisch nicht so angesagt.» Den Kindern helfe es auch, die Teller immer in derselben Anordnung anzurichten und die Wege durch die Wohngruppenküche freizuhalten. Oder wenn der Menüplan sehr einfach und ohne Bilder gestaltet ist.
Das sind zusätzliche Anforderungen für das Küchenteam. Die Liste an der Wand, die dem Küchenteam die vielen verschiedenen Bedürfnisse auf einen Blick präsentiert, ist schon jetzt ausgeklügelt. Jsabelle Bader zeigt auf die Plakate und erklärt: «Hier sehen wir: Wer hat ein Wunschmenü eingegeben? Welche Wohngruppe ist auf Schulreise, Schlittelausflug oder Exkursion und braucht Lunchpakete?» Für diese Gruppen packt das Küchenteam sorgfältig Lunchboxen ab – «ganz normale» Boxen, aber auch vegane, laktosefreie, glutenfreie, solche ohne Butter oder ohne Schweinefleisch. Auf Zwiebeln verzichtet das Team ohnehin. Manchmal huschen Kinder und Jugendliche in die Küche und geben Zettel mit Sonderwünschen ab. Und die Küche macht sie meistens möglich.
Für das Küchenteam sei das zwar eine Herausforderung, sagt Jsabelle Bader, aber sehr befriedigend: «So kommen wir direkt in Kontakt mit den Kindern und Jugendlichen – und diese wiederum sehen, wie viel Arbeit hinter den vielen Mahlzeiten steht.» Im Idealfall finden die Jugendlichen dann die Speisen so lecker, dass sie in kleinen Briefen an die Küche schreiben: «Bitte mehr davon!»