«Die Sonderschule muss ein Teil der Regelschule werden»

24.07.2024 Elisabeth Seifert

Die Umsetzung der integrativen Schule hat es vielerorts schwer. Zu denken gibt Romain Lanners*, Direktor am Schweizer Zentrum für Heil- und Sonderpädagogik, vor allem, dass das Sonderschulangebot über die letzten 40 Jahre ausgebaut worden ist. Er wünscht sich eine verbesserte Zusammenarbeit von den Regel- und den Sonderschulen.

Herr Lanners, die Schweiz ­bekennt sich zur integrativen Schule, mit der Umsetzung aber harzt es – und es verschaffen sich Stimmen Gehör, die wieder die Rückkehr zu Klein- oder ­Sonderklassen fordern. Was sagen Sie?

Die Diskussion wird sehr emotional und damit längst nicht immer sachlich geführt. Und es sind in der Regel die lautesten, kritischen Stimmen, die sich Gehör verschaffen. Zudem versteht sich jeder als Bildungsexperte, obwohl das längst nicht alle sind. Unabhängig davon gibt es aber tatsächlich Probleme: Ein Teil der Lehrerschaft ist unzufrieden. Dies hat auch damit zu tun, dass sich unsere Gesellschaft verändert, die Schule aber mit diesen Veränderungen nicht Schritt hält.


Wenn man von den Problemen mit der integrativen Schule spricht, meint man oft Schwierigkeiten im Umgang mit verhaltensauffälligen Schülerinnen und Schülern.

Bei der Diskussion rund um auffälliges Verhalten muss man berücksichtigen, dass dieses sehr heterogen ist. Verhaltensauffälligkeiten können systembezogen sein, nämlich Unter- oder Überforderung im Unterricht oder eine komplexe familiäre Situation. Sie können aber auch personenbezogen sein: psychische Erkrankungen oder Autismus-Spektrums-Störungen (ASS) sind hier Beispiele. Wenn es unruhig ist in einer Klasse, können Kinder mit ASS schnell die Kontrolle verlieren. Wir haben die Tendenz, auf solche unterschiedliche Problemlagen eine homogene Antwort zu geben.


Gibt es heute mehr verhaltensauffällige Schülerinnen und Schüler?

Das wissen wir in der Schweiz nicht so genau. Wir führen keine Statistiken zu den Schwierigkeiten, welche die Schülerinnen und Schüler haben. Ob diese eher die sozial-emotionale Entwicklung, also das Verhalten betreffen, oder ob sie im kognitiven oder im motorischen Bereich angesiedelt sind. Es besteht aber der Eindruck, dass Verhaltensauffälligkeiten zunehmen.


Sie haben es bereits erwähnt: Wir suchen die Antwort in einer homogenen Schule.

Die Problematik ist komplex, und wir hatten, vor allem früher, drei Antworten dafür: die Regelschule für jene, die einer bestimmten Norm entsprechen, und für die anderen die Sonderklassen und die Sonderschule. In der Zwischenzeit wissen wir längst, dass Lernen sehr heterogen ist. Nicht jeder lernt das Gleiche zur gleichen Zeit, die Vorlieben für gewisse Fächer ändern sich, auch Verhaltensauffälligkeiten dauern nicht für immer an. Die Herausforderung besteht darin, auf die heterogenen Problemstellungen auch heterogenere Antworten zu finden.


Und trotzdem wollen etliche ­wieder zur Separation zurück…

Für die Lehrpersonen der Regelschule scheinen die Probleme damit gelöst, nicht aber für die Schülerinnen und Schüler. Die Frage ist nämlich, ob er oder sie in der Sonderklasse oder auch in der Sonderschule eine Antwort auf seine respektive ihre Probleme erhält. Kinder und Jugendliche mit Verhaltensauffälligkeiten oder Sprachschwierigkeiten in Sonderklassen zu unterrichten, bedeutet, sie immer wieder mit den gleichen Problemen zu konfrontieren. Wir wissen heute: Lernen in heterogenen Klassen ist für alle positiv, auch für die Starken. Und zudem gibt es auch eine soziale Komponente: Werden Schülerinnen und Schüler, die in homogenen Klassen aufwachsen, auf ein Leben in einer zunehmend heterogenen Gesellschaft vorbereitet? Ich denke, das ist nicht der Fall.


Verfügt die Regelschule aber nicht ganz einfach über zu wenig Ressourcen, um mit der Heterogenität klarzukommen?

Das Problem besteht vor allem darin, dass wir in der Schweiz immer noch zwei Parallelsysteme haben: zwei Säulen oder zwei Silos, die Regelschule und die Sonderschule. Jedes System für sich funktioniert gut. Was aber nicht funktioniert, ist die Zusammenarbeit zwischen den beiden Systemen.


Sonderschulen binden Ihrer ­Meinung nach Ressourcen, ­welche Regelschulen brauchen würden, um mit komplexen ­Situationen zurechtzukommen?

Wir haben in der Schweiz die nötigen Ressourcen, wir sind gut dotiert. Sonder- und Regelschulen müssen aber besser zusammenarbeiten. Es geht um den Know-how-Transfer. Dafür müssen wir unsere Gewohnheiten ändern und uns vom Silodenken verabschieden: Die Regelschule entlastet sich mittels der Sonderschule von schwierigen Schülerinnen und Schülern. Damit verhindern wir aber, dass diese ihr Potenzial ausschöpfen und ihre Integration verbessern. Wir müssen die Systeme näher zueinander bringen. Statt einer verbesserten Zusammenarbeit verstärken wir aber das Silodenken, indem wir die Sonderschule sogar noch ausbauen …


Die Sonderschulen bauen aus – das müssen Sie näher erläutern.

Wenn wir die Statistik der letzten 40 Jahre genauer anschauen, fällt auf, dass die Kleinklassen bis 2005 angestiegen sind und dann rückläufig waren. Seit wenigen Jahren steigen sie wieder etwas an, was wahrscheinlich auf die aktuellen Krisen und die gesellschaftlichen Veränderungen zurückzuführen ist. Bei den Sonderschulen hingegen verzeichnen wir über die letzten 40 Jahre hinweg einen Anstieg um 30 Prozent: 1980 waren 1,4 Prozent aller Schülerinnen und Schüler in einer Sonderschule, derzeit sind es 1,9 Prozent.


Lässt sich der Anstieg der ­Sonderschulplätze, zumindest auch, mit abnehmenden ­Sonderklassen erklären?

Diese Befürchtung besteht, wird aber durch die Statistik nicht bestätigt. Während der Zeit, wo es viele Sonderklassen gab, ist auch die Zahl der Schülerinnen und Schüler in den Sonderschulen gestiegen. Und das Beispiel Obwalden zeigt: Vor gut zehn Jahren hat man dort alle Sonderklassen aufgehoben und befürchtete daraufhin einen Anstieg der Sonderschulplätze. Es gab einen kleinen Anstieg zu Beginn, dieser ist aber schnell wieder verschwunden. Man schaffte es also, die freiwerdenden Ressourcen den Regelklassen zur Verfügung zu stellen.


Wie erklärt sich dann der kontinuierliche Ausbau der Sonderschulplätze?

Die Regelschulen nützen das Angebot der Sonderschulen, um Probleme auszulagern. Das Angebot ist da, die Ressourcen sind da, aber eben ausserhalb der Regelschule. Indem es zu einer solchen Auslagerung kommt, kann sich die Regelschule nicht verändern, weil die nötigen Ressourcen in der Sonderschule sind. Unsere Herausforderung ist, die Zusammenarbeit zwischen Regel- und Sonderschulen zu stärken. Der Ressourcentransfer muss sich verbessern.


Was heisst die gestiegene ­Sonderschulquote für die Kinder und Jugendlichen mit klassischen Beeinträchtigungen?

Wir haben keine Statistik dazu, stellen aber fest, dass heute mehr Kinder und Jugendliche mit Sinnesbeeinträchtigungen und mit körperlichen Beeinträchtigungen integriert werden. Bei kognitiven Beeinträchtigungen wird es schwieriger. Viele Kinder mit Downsyndrom sind in vielen Kantonen in der Primarschule integriert, das ist ein guter Anfang. Es gibt klar eine Verbesserung im Vergleich zu früher, auch wenn viele betroffene Eltern mit der Situation nicht zufrieden sind. Bedenklich ist aber vor allem der generelle Anstieg der Sonderschulplätze.


Bemerkenswert ist dies gerade auch vor dem Hintergrund, dass wir seit Jahren von der integrativen Schule reden.

Die Entwicklung ist, wie gesagt, durch die zwei Silos, die Regel- und die Sonderschulen, bedingt, die es zu wenig schaffen, miteinander zu kommunizieren. Und: Wenn ein Angebot da ist, besteht in der Regel auch die Nachfrage danach. Wir haben in vielen Kantonen eine Kultur der Separation, die wir seit Jahrzehnten leben. Dass es auch anders geht, zeigen jene Kantone, die nur über ein kleines Sonderschulangebot verfügen. Dazu gehören vor allen die Bergkantone, etwa Obwalden, Nidwalden, Uri, Graubünden, Wallis und das Tessin. Diese Kantone sind sehr integrativ unterwegs. Aufgrund der Geografie war man gezwungen, integrativ zu arbeiten, und es funktioniert.


Wie schaffen solche Kantone die Integration?

Ein grosser Teil der Schülerinnen und Schüler sind hier in die Regelklasse integriert. Kinder mit kognitiven Einschränkungen haben andere Lernziele oder arbeiten in gewissen Fächern mit jüngeren Kindern oder Jugendlichen zusammen. Es bewähren sich auch altersdurchmischte Klassen, in denen zum Beispiel drei Lehrpersonen drei Jahrgänge gemeinsam unterrichten. In einem solchen Setting ist es sehr gut möglich, Schülerinnen und Schüler gemäss ihren Bedürfnissen gezielt zu fördern, obwohl sie alle zum gleichen Klassenverbund gehören. Wichtig sind auch die Beratung und die Unterstützung der Lehrpersonen, zum Beispiel im Umgang mit verhaltensauffälligen Schülerinnen und Schülern. Die Regelschullehrpersonen erleben auf diese Weise einen Know-how-Gewinn.

«Die Schulleitungen der Regel- und der Sonderschulen haben eine Vorrreiter­rolle. Wichtig ist, dass auch die Sonderschulen die Zusammenarbeit mit der Regelschulen wollen.» Romain Lanners


Sehen Sie Beispiele, wo die Annäherung der beiden Systeme, der Sonder- und der Regelschulen, klappt?

Es gibt viele Einzelbeispiele: zum Beispiel in Martigny im Kanton Wallis: Dort musste man in den 90er-Jahren zwei neue Schulen bauen, eine Regel- und eine Sonderschule. Man hat dann beide Schultypen in einem einzigen Haus integriert. Und das funktioniert auch heute noch: Viele Kinder und Jugendliche sind in die Regelklasse integriert, zum Teil werden sie über eine gewisse Zeit hinweg in separierten Gruppen oder auch in einer Sonderklasse gefördert. Auch diese Sonderklassen gehören aber zum Schulalltag, die Kinder verbringen die Pausen zusammen, wodurch die soziale Integration gelingt. Auffallend ist, dass bei solch guten Beispielen vor allem die Schulen die Treiber sind, nicht die Kantone oder die Politik.


Die Schulleitungen haben also eine Vorreiterrolle?

Ja, und zwar die Schulleitungen der Regel- und der Sonderschulen. Wichtig ist, dass auch die Sonderschulen die Zusammenarbeit mit der Regelschule wollen. Und wie gerade auch das Beispiel Martigny zeigt, macht die Not erfinderisch: Wenn man eine Sonderschule erweitern muss, könnte man ja stattdessen eine Sonderklasse in einer Regelschule einrichten oder man könnte eine Regelklasse in der Sonderschule integrieren. Es geht darum, Möglichkeiten zu suchen, um aufeinander zuzugehen.


Der Umgang mit einer heterogenen Schülerschaft stellt hohe Anforderungen an die Lehrerschaft: Werden die Regelschullehrpersonen dafür genügend gut ausgebildet?

Reformen müssen bei der Aus- und Weiterbildung anfangen. Junge Lehrpersonen werden heute befähigt, ihren Unterricht zu differenzieren und auf unterschiedliche Bedürfnisse auszurichten. Wichtig sind auch Weiterbildungsangebote und Unterstützung der Lehrpersonen. Sehr gut ist zudem, dass etwa an der PH Bern und der PH FHNW neben der regulären Lehrerausbildung auch die Sonderpädagogik-Ausbildung angeboten wird. Es gibt auch gemeinsame Lehrveranstaltungen und Forschungsprojekte. Das ist aber noch längst nicht in allen Regionen der Schweiz so.


Wo sehen Sie die Zukunft der Sonderschulen?

Ich sehe sie im Rahmen einer Schule für alle. Eine Schule für alle bedeutet, dass alle Schülerinnen und Schüler gemeinsam die Schule des Wohnquartiers besuchen und dort eine Antwort auf ihre Bedürfnisse erhalten: Integration in eine Regelklasse, zeitlich begrenzte Einzel- oder Gruppenförderung inner- oder ausserhalb der Klasse, oder auch Besuch einer Sonderklasse. Die Sonderschulen mit Ihrem Know-how werden so zu einem Teil der Regelschule. In der Vergangenheit haben wir spezialisierte Schulen für eine oder mehrere Beeinträchtigungen gebaut und fahren die Schülerinnen und Schüler manchmal über sehr weite Strecken dorthin. Das kostet viel Geld, das man in die Bildung investieren könnte. Wir werden wohl immer Sonderschulen brauchen, aber weniger als heute. Meine Vision sind quartierübergreifende kleine, wenn möglich an Regelschulen angegliederte Sonderschulen für Kinder mit sehr komplexen Bedürfnissen.


Was benötigen wir für die Umsetzung einer Schule für alle?

Es ist ein Projekt der gesamten Gesellschaft, und alle müssen dabei Schritte unternehmen: die Politik, die Hochschulen, die Lehrpersonen, jeder und jede Einzelne von uns. Von zentraler Bedeutung sind, wie gesagt, entsprechende Projekte der Schulleitungen. Hier gibt es bereits sehr innovative Beispiele, und von diesen müsste man mehr reden. Gerade auch die Sonderschulen können von sich aus aktiv solche Projekte angehen.
 


Romain Lanners, Dr. phil, Jg. 1970, ist Direktor des Schweizer Zentrums für Heil- ­und Sonderpädagogik SZH.


Foto: esf