Die Qualität der Pflege weiterentwickeln

20.09.2023 Elisabeth Seifert

Um ihre Pflegequalität zu verbessern, arbeiten die Pflegeheime  in der Schweiz seit geraumer Zeit mit Indikatoren. Im Rahmen eines nationalen Implementierungsprogramms wird jetzt ein Massnahmenpaket entwickelt, das die datenbasierte Qualitätsentwicklung nachhaltig verankern soll. Forschende aus den drei Landesteilen beziehen dabei alle Beteiligten ein – bis hin zu Bewohnerinnen, Bewohnern und ihren Angehörigen.

Seit 2019 sind alle rund 1600 Pflegeeinrichtungen in der Schweiz dazu verpflichtet, bei ihren Bewohnerinnen und Bewohnern jährlich eine Reihe von Daten zwecks der Berechnung von sechs medizinischen Qualitätsindikatoren (MQI) zu sammeln. Diese sechs Indikatoren greifen mit den vier Messthemen Mangelernährung, bewegungseinschränkende Massnahmen, Polymedikation sowie Schmerzen relevante Faktoren für das Wohlbefinden der Bewohnenden auf. Wie vom Gesetz vorgesehen, dürften die Indikatoren diesen Herbst erstmals für jedes einzelne Heim öffentlich ausgewiesen werden. Der Entscheid fällt in diesen Wochen. 

«Die Messung der nationalen Qualitätsindikatoren trägt dazu bei, dass die Heime Qualitätsstrukturen aufbauen und viel bewusster als noch vor fünf Jahren mit solchen Indikatoren arbeiten.» Diese Beobachtung macht Franziska Zúñiga, Professorin am Institut für Pflegewissenschaft der Universität Basel, die gemeinsam mit ihrem Team das Projekt zur Einführung von MQI von Beginn weg begleitet hat. Parallel dazu stellt sie eine Professionalisierung im Bereich der Pflege­entwicklung fest. 

Um die Heime in diesem Prozess zu begleiten, hat die eidgenössische Qualitätskommission (EQK), die den Bundesrat bei der Qualitätsentwicklung in der medizinischen Leistungserbringung unterstützt, das Nationale Implementierungsprogramm – Qualität in der stationären Langzeitpflege (NIP-Q-Upgrade) ins Leben gerufen. Der Branchenverband CURAVIVA sowie Senesuisse, der Verband der wirtschaftlich unabhängigen Alters- und Pflegeeinrichtungen, leiten das Programm im Auftrag der EQK. Die Forschung des seit Oktober 2022 bis Ende September 2026 laufenden Programms wird vom Institut für Pflegewissenschaft (INS) der Uni Basel, von der Haute École de la Santé La Source in Lausanne (ELS) und der Scuola universitaria professionale della Svizzera italiana (SUPSI) durchgeführt. 

Wirkung entfalten – dank Partnerschaft

«Weil die Heime bereits seit mehreren Jahren mit Indikatoren arbeiten, sind sie jetzt bereit für den nächsten Schritt», unterstreicht Franziska Zúñiga, die die Forschungsarbeiten leitet. Im Zentrum von NIP-Q-Upgrade stehen dabei zunächst zwei Themenfelder: die Verbesserung der Datenqualität und die Optimierung der datenbasierten Qualitätsentwicklung. 

«Wenn man Massnahmen einfach von oben verfügt, wird man kaum etwas bewirken können.»
Franziska

Die wissenschaftliche Erarbeitung beider Themen folgt den Maximen der Implementierungsforschung. Dabei werde, wie Zúñiga ausführt, zunächst jeweils eine Kontextanalyse erstellt. Deren Ziel bestehe darin, zu verstehen, was bereits in einem bestimmten Bereich unternommen wird und wo eventuelle Probleme bestehen. Danach werden Massnahmen entwickelt und getestet, bevor sie national umgesetzt werden.

Der Ansatz der Implementierungsforschung erfordere auch den Einbezug sämtlicher für eine Fragestellung relevanter Ansprechpartner und Akteure: von den Kantonen über regionale Verbände und Institutionen bis hin zu den Bewohnenden und ihren Angehörigen. Zúñiga: «Wenn man möchte, dass sich in der Praxis etwas ändert, dann braucht es die Partizipation. Wenn man Massnahmen einfach von oben verfügt, wird man kaum etwas bewirken können.»

«Die Anforderungen an das Projekt bedingen, dass die Forschenden nahe an den Akteuren vor Ort sind», unterstreicht Nathalie Wellens, Professorin der Hochschule für Gesundheit La Source in Lausanne (ELS) und Mitglied des wissenschaftlichen Konsortiums des Programms. Der Einbezug der Hochschulen aus allen drei Landesteilen ermögliche diese Nähe, fügt Emmanuelle Poncin, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin an der ELS, bei, und meint: «Wir schaffen damit die Voraussetzungen, dass die Massnahmen an die spezifischen Bedürfnisse und Strukturen in den verschiedenen Regionen angepasst werden können.» Ganz ähnlich sieht das auch Laurie Corna, Professorin für Altersforschung und Lebensqualität der Scuola universitaria professionale della Svizzera italiana (SUPSI) und drittes Mitglied des wissenschaftlichen Konsortiums: «Um eine nachhaltige Wirkung erzielen zu können, müssen je nach Region wiederum andere Stakeholder mit ins Boot geholt werden.»

Offenheit gegenüber dem Projekt

In den vergangenen Wochen bestanden die wissenschaft­lichen Arbeiten darin, zu beobachten und zu lernen, wie die Erhebung der Daten funktioniert. Zu diesem Zweck haben sich die Teams einen Eindruck vor Ort in den Heimen verschafft und Gespräche mit Verantwortlichen der Bedarfs­erfassungsinstrumente sowie der Pflegedokumentations­systeme durchgeführt. Auf allen Ebenen habe man, so Zúñiga, gewisse Herausforderungen ausgemacht. Konkret nennt sie Unklarheiten bei den Vorgaben zur Datenerhebung. Beim Indikator Polymedikation etwa erfolge die Zählweise der Wirkstoffe nicht einheitlich, was die Vergleichbarkeit der Resultate erschwere. Derzeit werden partizipativ Massnahmen respektive Lösungen erarbeitet. 

Nathalie Wellens und Emmanuelle Poncin betonen beide die Offenheit und das Interesse der Akteure am Programm NIP-Q-Upgrade. «Die Qualitätsentwicklung geniesst einen hohen Stellenwert bei allen Akteuren», sagt Poncin. Und auch Laurie Corna meint: «Wir haben in den letzten Monaten viele Gespräche mit Vertretenden des Kantons, des Kantonalverbands und der Heime geführt und stellen ein ausgesprochenes Wohlwollen gegenüber dem Programm fest». Auf Zustimmung stosse gerade auch dessen nationale Dimension.

Workshops für Bewohnende und Angehörige

Parallel zu den Arbeiten zwecks Verbesserung der Datenqualität hat das Forschungsteam bereits die Arbeiten zum zweiten Themenfeld, der Optimierung der datenbasierten Qualitätsentwicklung, an die Hand genommen. Ende August ist über den Newsletter des Branchenverbands CURAVIVA der Link zu einer Umfrage verschickt worden, an der sich sämtliche Alters- und Pflegeeinrichtungen beteiligen können. Zúñiga: «Aufgrund der eingehenden Antworten möchten wir eine erste grobe Einschätzung vornehmen, welche Bemühungen in den Heimen zur Verbesserung der Pflegequalität unternommen werden.» Zudem werden im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung in mehreren Heimen aus allen Sprachregionen vertiefende Interviews durchgeführt und dabei auch erfragt, welche Hilfestellungen sich die Heime wünschen, um die Qualitätsentwicklung zu optimieren. 

«Die Messung der nationalen Qualitätsindikatoren trägt dazu bei, dass die Heime Qualitäts-strukturen aufbauen.»
Franziska Zúñiga


Weiter ist geplant, in vier Heimen Workshops mit Bewohnerinnen und Bewohnern sowie Angehörigen durchzuführen. «Wir wollen von ihnen wissen, was für sie bei der Qualitätsentwicklung wichtig ist.» Auf der Basis all dieser Erhebungen und Literaturrecherchen werden im kommenden Jahr zusammen mit den Heimen Massnahmen respektive ein Programm zur Qualitätsentwicklung erarbeitet. Ein wichtiger Aspekt dieses Programms dürfte sein, so Zúñiga, die Heime mit Hilfsmitteln dabei zu unterstützen, die Daten richtig zu interpretieren, und auch ein entsprechendes Datenmonitoring durchzuführen. 

Debatte zu weiteren Indikatoren

Neben der Verbesserung der Datenerhebung zwecks Berechnung der sechs Qualitätsindikatoren sowie der Optimierung der datenbasierte Qualitätsentwicklung hat das Programm einen weiteren Auftrag: Dieser beinhaltet zunächst die Prüfung und Einführung von weiteren Indikatoren, die zwischen 2019 und 2021 in Zusammenarbeit mit Expertinnen und Experten definiert worden sind. Zur Diskussion stehen die Messthemen Dekubitus, umgangssprachlich auch als Wundliegen bezeichnet, die gesundheitliche Vorausplanung sowie das Medikationsreview. Welche dieser drei neuen Indikatoren tatsächlich eingeführt werden, ist derzeit noch unklar.
Während der Indikator Dekubitus ähnlich den bisherigen Indikatoren die Ergebnisqualität misst, sind die beiden anderen Messthemen gemäss Franziska Zúñiga als Prozess­indikatoren zu bezeichnen: «Medikationsreview» zielt auf den im Gespräch zwischen Medizin, Pflege und Pharmazie verschrieben Medikamentenmix ab. Im Unterschied zum Indikator Polymedikation geht es hier nicht um die Anzahl Wirkstoffe, sondern darum, ob es sich um die richtigen Medikamente handelt. Der Indikator «gesundheitliche Vorausplanung» ist eine Antwort auf die im KVG geforderte personenzentrierte Pflege. Hier geht es darum, dass die Pflegenden sowie der Arzt oder die Ärztin gemeinsam mit den Bewohnenden die gesundheitliche Versorgung festlegen, basierend auf deren  Wertvorstellungen und Wünschen. 

Deren Perspektive soll gerade auch bei der Definition weiterer Indikatoren noch besser berücksichtigt werden. «Bei der nächsten Indikatoren-Runde arbeiten wir mit Vertretungen von Heimen und mit Vertretenden von Bewohnerinnen, Bewohnern und Angehörigen zusammen», unterstreicht Zúñiga. Auch auf internationaler Ebene werde es immer wichtiger, so die Beobachtung von Nathalie Wellens, bei der Messung des Erfolgs in Bezug auf Personenzentriertheit die Erfahrung der Bewohnenden und ihrer Angehörigen zu berücksichtigen, insbesondere ihre Beteiligung an der gemeinsamen Entscheidungsfindung.

Auch wenn die Betroffenen verstärkt in die Entwicklung der Indikatoren einbezogen werden sollen, wird sich das Projekt immer auf die im KVG geregelte – und finanzierte – medizinische Qualität beziehen. Ziel aller Qualitätsbemühungen in den Heimen sei indes, so Laurie Corna, eine Verbesserung der Lebensqualität. «Die medizinische Qualität ist dafür wichtig, zusätzlich aber muss das psychische, soziale, emotionale und spirituelle Wohlbefinden berücksichtigt werden.» 



Dieser Beitrag wurde realisiert im Rahmen der Kommunikation über das Nationale Implementierungsprogramm – Qualität der Langzeitpflege in Alters- und Pflegeheimen 2022–2026 (NIP-Q-Upgrade).

 

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