BERUFSBILDER | Die Kunst, neue Berufe zu entwickeln

21.03.2025 Monika Weder

Gibt es zu viele Berufe im Sozial- und Gesundheitsbereich? Oder zu wenig? Oder die falschen? Auf den ersten Blick scheint die Aufgabe einfach: Es müssen attraktive Berufe mit Kompetenz­profilen entwickelt werden, die den Bedürfnissen der Arbeitswelt entsprechen. Die Realität ist weitaus komplizierter, wie Monika Weder weiss. Die Leiterin Bildung von ARTISET reflektiert in ihrem Essay die verschiedenen Faktoren, die in der Berufsentwicklung ­berücksichtigt werden müssen.

Zunächst werden die Bedürfnisse aus der Praxis strukturiert erfasst und zu Berufsprofilen verdichtet. Schon hier zeigen sich die ersten Herausforderungen. Die Betriebe haben unterschiedliche Anforderungen an die Qualifikationen zukünftiger Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Es werden Fachkräfte in verschiedenen Bereichen benötigt, zum Beispiel in Alters- und Behinderteninstitutionen und Spitälern, wo unterschiedliche Bedingungen anzutreffen sind. Es ist deshalb zu klären, was in einem Beruf ausgebildet werden kann und wo spezifische Abschlüsse angezeigt sind.

Es genügt nicht, sich nur an den Bedürfnissen der Wirtschaft zu orientieren. Die Berufe müssen auch bei Berufswählenden und Erwachsenen, die vor Laufbahnentscheidungen stehen, Interesse wecken, das heisst ihnen interessante Tätigkeitsfelder eröffnen und attraktive Karrierewege ermöglichen. Gerade im Sozial- und Gesundheitsbereich, der in den nächsten Jahren deutlich mehr Fachkräfte benötigt, ist dies eine zentrale Anforderung.

«Es braucht vor allem die Fähigkeit, die unterschiedlichen Interessen, pädagogischen Vorstellungen, gesetzlichen Vorgaben und finanziellen Rahmen­bedingungen zu integrieren.» Monika Weder, Leiterin Bildung von ARTISET

Gegenwärtig stellt sich die Frage, ob es zu viele Berufe, ob es zu viele Spezialisierungen im Sozial- und Gesundheitsbereich gibt. Und ob dadurch die Arbeit so fragmentiert wird und in der Folge die Qualität in der Betreuung, Begleitung und Pflege trotz höherer Fachkompetenz sinkt.

Die Tatsache, dass es zahlreiche Spezialisierungen gibt, ist auch als positives Zeichen des wissenschaftlichen Fortschritts und als Folge der gestiegenen Erwartungen an die Kompetenzen des Fachpersonals zu werten. Insofern kann argumentiert werden, dass es nicht zu viele Berufe und Abschlüsse gibt, sondern dass sie ein Ansatz sind, um den vielfältigen Anforderungen gerecht zu werden, es jedoch eine Kunst bleibt, das richtige Mass zu finden.

Vorgaben und finanzielle Interessen

Der Bund setzt den Rahmen für die Entwicklung der Berufe. Dieser ist nicht nur für die Qualität der Aus- und Weiterbildung entscheidend, sondern auch für die Anerkennung, den offiziellen Status der Abschlüsse und die Mitfinanzierung durch die öffentliche Hand.

Im Sozial- und Gesundheitsbereich gibt es für viele berufliche Aufgaben staatliche Vorgaben, was die Entwicklung zusätzlich erschwert. Insbesondere Gesundheitsberufe sind stark an traditionelle Konzepte und definierte Verantwortungsbereiche gebunden, die sich zunehmend als nicht mehr passend erweisen. Innovationen sind hier nur schwer einzuführen: So stösst das aktuelle Vorhaben, Aufgaben, die bisher Ärztinnen und Ärzten vorbehalten waren, künftig auch den Advanced Practice Nurses zu ermöglichen, auf Widerstand.

Die Kantone finanzieren einen Teil der Ausbildung. Sie sind daher bestrebt, den Aufwand so gering wie möglich zu halten, um die Kosten zu minimieren.

Spagat zwischen den Sprachregionen

Ein weiterer schwieriger Punkt bei der Entwicklung neuer Berufe ist die Notwendigkeit, Ausbildungsstandards und Titel zu schaffen, die in allen drei Landessprachen der Schweiz anerkannt sind und keine unnötige Konkurrenz zu bestehenden Berufen darstellen.

Verbände und Bildungsanbieter «benachbarter» Berufe achten kritisch darauf, dass ihre Abschlüsse nicht zum Nachteil verändert werden oder konkurrenziert werden.

Die Schweiz ist ein mehrsprachiges Land mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen, weshalb die Abschlüsse und deren Titel in Deutsch, Französisch und Italienisch angepasst werden müssen. Dies stellt nicht nur eine sprachliche, sondern auch eine kulturelle Herausforderung dar, da in den verschiedenen Sprachregionen unterschiedliche berufliche Traditionen und Ausbildungsverständnisse bestehen.

Eine besondere Herausforderung für den Sozial- und Gesundheitsbereich sind die auf nationaler Ebene unterteilten Zuständigkeiten für die Berufe: Savoirsocial für soziale Berufe, für Gesundheitsberufe die OdASanté, die OdA Hauswirtschaft und diverse weitere Trägerschaften. Die fehlende Gesamtsicht erschwert eine abgestimmte Berufsentwicklung für die ganze Branche. Mit Blick auf die Zukunft ist auch die ICT, die OdA für die Informatikberufe, ein interessanter Partner.

Unterschiedliche Interessen integrieren

Die zentrale Frage ist nicht, ob es zu viele oder zu wenige Berufe gibt, sondern ob es die richtigen Berufe gibt, um den komplexeren Anforderungen gerecht zu werden, und ob sie einen Beitrag zur Lösung der immer grösser werdenden Herausforderungen im Sozial- und Gesundheitswesen leisten.

Die Kunst der Berufsentwicklung zeigt sich vor allem in der Fähigkeit, die unterschiedlichen Interessen, pädagogischen Vorstellungen, gesetzlichen Vorgaben und finanziellen Rahmenbedingungen zu integrieren und auf dieser Basis tragfähige Lösungen zu schaffen. Dazu sind Beharrlichkeit, Geduld und Kompromissbereitschaft erforderlich. So betrachtet, waren die Abschlüsse in der Vergangenheit erstaunlich passend. Für die künftigen Herausforderungen wird dies jedoch nicht mehr ausreichen. Damit Arbeitgeber und Arbeitnehmende, Interessenverbände, Organisationen der Arbeitswelt, Bildungsanbieter, Bund und Kantone zukunftsgerichtete Lösungen finden, sind einige Kompromisse notwendig.

Dieser Prozess ist mit einem hohen Ressourcen- und Zeitaufwand verbunden, der angesichts der heutigen schnelleren Entwicklung nicht mehr zeitgemäss ist. Die Akteure müssen sich mutiger von Forderungen, die in der Vergangenheit durchaus ihre Berechtigung hatten, lösen und schneller entwickeln und umsetzen.

Beispielsweise werden in den Institutionen auf allen Ebenen mehr «digitale» Kompetenzen benötigt. Ob dafür neue Abschlüsse entwickelt werden müssen, wird sich zeigen.