BERUFSBILDER | «Der Bedarf an Fachkräften wird weiter steigen»

21.03.2025 Interview: Elisabeth Seifert

Mit der im Februar veröffentlichten «Fachkräftestudie im Sozialbereich» liegen erstmals schweizweit Daten für alle sozialen Arbeitsfelder vor, darunter Menschen mit Behinderung, Menschen im Alter sowie Kinder und Jugend­liche. Fränzi Zimmerli, Geschäftsführerin vom schweizerischen Berufsbildungsverband ­Savoirsocial, erörtert die zentralen Resultate und gibt Einblick in die Entwicklung der Berufsabschlüsse.

 

Frau Zimmerli, laut Studie ist die Anzahl der Beschäftigten und der Abschlüsse im Sozialbereich stärker gewachsen als in anderen Branchen – weshalb? 

Wir haben in der Schweiz ein allgemeines Bevölkerungswachstum zu verzeichnen. Dies und auch eine positiv verlaufende Konjunktur haben in vielen Branchen zu einem Wachstum geführt, auch zu einem Ausbau der sozialen Dienstleistungen. Die Ergebnisse der Studie zeichnen ein Big Picture des gesamten Sozialbereichs. Natürlich gibt es regionale oder auch arbeitsfeldspezifische Unterschiede. Bezüglich des Wachstums zeigt sich dieses besonders stark im Bereich der familien- und schulergänzenden Kinderbetreuung, was mit dem stetigen Ausbau an Kita-Plätzen und dem Ausbau der schulergänzenden Kinderbetreuung zu tun hat. 


Auffallend ist, dass im Vergleich zu noch vor zehn Jahren der Anteil an qualifizierten Arbeit­nehmenden gestiegen ist. Wie erklären Sie das? 

Gründe für diese Professionalisierung sind zum einen die Arbeitgeberverbände, die diese Entwicklung fördern. Sie regen die Betriebe dazu an, Ausbildungsplätze zu schaffen, und unterstützen sie auch dabei. Und zum anderen gibt es die kantonalen und kommunalen Vorgaben zum Anteil der ausgebildeten Fachpersonen, beispielsweise für Kitas oder Behinderteninstitutionen. Im Sozialbereich sind so in den letzten Jahren viele neue Lehrstellen zum Fachmann oder zur Fachfrau Betreuung geschaffen worden. Das führt im Übrigen auch dazu, dass heute sehr viele junge Menschen im Sozialbereich arbeiten.


Der Anteil an nicht entsprechend qualifizierten Arbeitskräften ist mit rund 30 Prozent über den ganzen Sozialbereich hinweg aber immer noch recht hoch. 

60 Prozent der Mitarbeitenden verfügen über einen formalen Abschluss im Sozialbereich, weitere 10 Prozent über einen formalen Abschluss in einem verwandten Bereich. Diese Werte sind in den letzten Jahren gestiegen, was eine erfreuliche Entwicklung ist. Die Werte schwanken jedoch zwischen den Arbeitsfeldern, mit den tiefsten Anteilen im Bereich der familien- und schulergänzenden Kinderbetreuung gegenüber Anteilen von über 90 Prozent in Abklärungs- und Beratungsangeboten.

«Wer mit der Grundbildung Fachmann oder Fachfrau Betreuung startet, hat viele Möglichkeiten, sich weiterzubilden. Auf Sekundarstufe II und in der Höheren ­Berufsbildung gibt es mittlerweile insgesamt 19 verschiedene Abschlüsse.» Fränzi Zimmerli

Wie erklärt sich der tiefe Anteil in der familien- und schulergänzenden Kinderbetreuung?

Zu den nicht qualifizierten Fachpersonen zählen auch all jene Mitarbeitende, die sich noch in Ausbildung befinden. Über alle Arbeitsfelder hinweg befinden sich 10 Prozent der Mitarbeitenden in Ausbildung. Der Anteil an Auszubildenden ist vor allem in denjenigen Arbeitsfeldern hoch, in denen ein grosser Anteil der Angebote im Bereich Betreuung und Begleitung liegen. Also im Bereich Kinder, Alter und Beeinträchtigung.


Wo arbeiten Personen mit den höchsten Abschlüssen im Sozialbereich, wenn Sie an die drei Arbeitsfelder Menschen mit Behinderung, Menschen im Alter sowie Kinder, Jugend und Familien denken?

Das Niveau der Abschlüsse ist vor allem Ausdruck eines bestimmten politischen Willens, verbunden mit den Professionalisierungsstrategien der Branche. Im stationären Kinder- und Jugendbereich ist ein hoher Anteil an tertiär ausgebildeten Fachpersonen tätig, also Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen. In der familien- und schulergänzenden Kinderbetreuung fordern die Kantone im Durchschnitt 50 Prozent qualifizierte Mitarbeitende. Für die meisten Kantone genügt dabei ein Abschluss auf Sek-II-Stufe. In der Romandie gibt es teilweise höhere Anforderungen, beispielsweise verlangt der Kanton Genf, dass 60 Prozent des Personals einen Abschluss auf ­Tertiärstufe besitzen. 
 

Gibt es in der lateinischen Schweiz generell mehr tertiär Ausgebildete?

Nicht nur in der Romandie, sondern auch im Tessin gibt es in der Tendenz mehr tertiär ausgebildetes Personal als in der deutschen Schweiz. Das hat verschiedene Gründe. So haben zum Beispiel Fachkräfte aus Italien oder Frankreich, von denen einige in den Kantonen Tessin, Waadt oder Genf arbeiten, eine Hochschulausbildung im Ausland absolviert.


Spielt hier auch die generell höhere Maturitätsquote in der lateinischen Schweiz eine Rolle?

Ja, diese höhere Maturitätsquote hat zur Folge, dass mehr Menschen eine entsprechende Ausbildung an einer Fachhochschule oder an der Uni machen. Die Gründe dafür liegen in der unterschiedlichen Bildungstradition der verschiedenen Sprachregionen, die wir nicht nur im Sozialbereich, sondern in allen Branchen beobachten können.


Die Rekrutierung ist anspruchsvoller als noch vor zehn Jahren, die Studie spricht aber ausdrücklich (noch) nicht von einem Mangel. Da besteht ein Unterschied zum Pflegebereich.

Wir befassen uns auch in der Studie mit dem «Mangel»-Begriff. Ökonomisch liegt ein Mangel vor, wenn Angebot und Nachfrage über einen längeren Zeitraum nicht mehr in ein Gleichgewicht gebracht werden können. Also dann, wenn offene Stellen dauerhaft nicht mehr mit den gewünschten Fachpersonen besetzt werden können. Die Ergebnisse unserer Befragung zeigen, dass es deutlich schwieriger geworden ist, offene Stellen zu besetzen, aber dass dies in den meisten Fällen noch gelingt. Positiv ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Ausbildung zum Fachmann oder zur Fachfrau Betreuung nach wie vor sehr beliebt ist.


Wie zeigt es sich, dass die Stellenbesetzung schwieriger geworden ist?

Die Studie zeigt, dass 90 Prozent aller 2023 ausgeschriebener Stellen besetzt werden konnten – jedoch nur in etwas mehr als 60 Prozent in gewünschter Frist und mit der erforderten Qualifikation. Weitere 20 Prozent konnten zwar jemanden mit der geforderten Qualifikation einstellen, mussten jedoch bei der Frist Kompromisse eingehen. Diese Werte können für spezifische Regionen oder Angebote deutlich tiefer sein, und in diesen Fällen ist es dann auch korrekt, von einem Mangel zu sprechen.


Wie wird sich die Fachkräfte­situation weiter entwickeln?

Der Bedarf an Angeboten wird weiter steigen. In der familien- und schulergänzenden Betreuung gehen die An­bieter davon aus, dass der Bedarf an Fachkräften aufgrund des Bevölkerungs­wachstums noch weiter wachsen wird: im Altersbereich aufgrund der demografischen Entwicklung und zusätzlich auch wegen der älter werdenden Bevölkerung, die neben der Pflege auch auf soziale Begleitung und Betreuung angewiesen ist. Hier ist es vorstellbar, dass es gerade für soziale Berufe einen sprunghaften Anstieg des Bedarfs geben wird, sobald die Finanzierung von sozialen Betreuungsleistungen im Altersbereich nicht mehr rein privat erfolgen muss.

«Im Altersbereich ist vorstellbar, dass es gerade für soziale Berufe einen sprunghaften Anstieg des Bedarfs geben wird, sobald die Finanzierung von sozialen Betreuungsleistungen nicht mehr rein privat erfolgen muss. » Fränzi Zimmerli

Der wachsende Bedarf gerade im ambulanten Altersbereich dürfte sehr wahrscheinlich nicht ausschliesslich mit Fachkräften abgedeckt werden können. Was sagen Sie dazu?

Die Akteure des Altersbereichs gehen davon aus, dass der Bedarf nach ambulanten Angeboten steigen wird. Wissenschaftliche Studien bestätigen diese Annahme. Das familiäre Umfeld übernimmt häufig Begleitaufgaben für alte Menschen. In Zukunft wird es mehr alte Menschen geben, die auf kein entsprechendes Umfeld zurückgreifen können. Da wird es entsprechende aufsuchende Angebote brauchen. Und natürlich braucht es bei einer Zunahme von Angeboten auch mehr Arbeitskräfte.


Wer sind diese Arbeitskräfte?

Fachkräfte, Mitarbeitende ohne Qualifikation und Freiwillige werden höchstwahrscheinlich in diesen Angeboten arbeiten. Wir, also Savoirsocial, müssen sich dabei überlegen, wie sich die Angebote im Altersbereich entwickeln werden und welche Kompetenzen die Fachkräfte brauchen, zum ­Beispiel um mit Freiwilligen und Mitarbeitenden ohne Qualifikation zusammenzuarbeiten. Eventuell müssen sie anfallende Aufgaben sinnvoll delegieren können und die Angebotsqualität jederzeit sicherstellen. Das sind alles Kompetenzen, die in die Ausbildungspläne aufgenommen werden müssen.


Die die Studie zeigt, hat der Sozialbereich ähnlich wie der Pflegebereich mit einer hohen Fluktuation zu kämpfen. Welche Erkenntnisse gibt es dazu aus der Studie?

Die Studie zeigt, dass die Fluktuation zwischen den Arbeitsfeldern als auch zwischen den Angebotsarten unterschiedlich hoch ist. Gemeinsam ist aber, dass sie über dem branchenweiten Durchschnitt liegt und die Situation in den Betrieben zusätzlich verschärft. Eine hohe Fluktuation steigert die Arbeitsbelastung jener, die im Betrieb bleiben. Im ungünstigsten Fall kann eine hohe Fluktuation zu einer sinkenden Qualität der Arbeit oder zu einer Reduktion von Angeboten führen, was wiederum zu erneuten Kündigungen von Mitarbeitenden führen kann.


Was ist jetzt zu tun, um diese Probleme zu bewältigen?

In den kommenden Monaten diskutieren alle involvierten Akteure, also Verbände, Arbeitgebende, Politik und Verwaltung, über mögliche Massnahmen. Diese werden wir zusammentragen und prüfen, inwiefern daraus Forderungen für die einzelnen Arbeitsfelder oder den ganzen Sozialbereich abgeleitet werden können. Da wir jetzt erstmals schweizweite Daten für alle Arbeitsfelder im Sozialbereich haben, können wir mit einer vereinten Stimme sprechen und dadurch, so hoffen wir, auf politischer Ebene besser Gehör finden. Wir überlegen uns auch, aus der Studie heraus ein Monitoring zu starten, damit wir in Zukunft regelmässig über aktuelle Zahlen verfügen. 


Was unternehmen Sie vonseiten der Berufsbildung?

Es braucht weiterhin eine bedarfsgerechte Entwicklung von Abschlüssen im Sozialbereich. Wir überprüfen, was die Berufsbildung zum Erhalt von Fachkräften in den verschiedenen Arbeitsfeldern beitragen kann, und natürlich schaffen wir auch in Zukunft gute Voraussetzungen für jugendliche oder erwachsene Berufsinteressierte, für Lernende und Studierende sowie für die Berufs- und Praxisbildenden.


Seit 20 Jahren sind die sozialen Berufe dem Berufsbildungsgesetz unterstellt. Welche Entwicklungslinien gab es seither?

In den letzten 20 Jahren sind zahlreiche Berufe und Abschlüsse im Sozialbereich entwickelt worden. Die Entwicklungen orientieren sich immer an einem Bedarf der Branche und finden innerhalb der Rahmenbedingungen der Berufsbildung statt. Ein Bedarf festzustellen und nachzuweisen, ist ein langer Prozess. Ist der Bedarf geklärt, müssen das Berufsbild und die Kompetenzen definiert werden. Meistens gilt es dann auch noch zu entscheiden, welche Organisationen die Trägerschaft eines Berufsabschlusses übernehmen. Finanziert wird dieser Prozess durch einen Berufsbildungsfonds, den Savoirsocial vor einigen Jahren gegründet hat und der von verschiedenen Organisationen getragen wird. 


Was heisst dies für Berufsinteressierte und Fachkräfte?

Sie haben dank diesen Entwicklungen ein attraktives Angebot an Aus- und Weiterbildungen im Sozialbereich. Wer mit der Grundbildung Fachmann oder Fachfrau Betreuung startet, hat viele Möglichkeiten, sich weiterzubilden. Auf Sekundarstufe II und in der Höheren Berufsbildung gibt es mittlerweile insgesamt 19 verschiedene Abschlüsse.


Welche Herausforderungen sehen Sie künftig für die Berufsbildung in den drei Arbeitsfeldern von ARTISET?

Im Arbeitsfeld der familien- und schul­ergänzenden Kinderbetreuung ist es eine Herausforderung, dass die ausgebildeten Fachfrauen und Fachmänner Betreuung vielfältige Weiterbildungsmöglichkeiten haben. Es braucht also Arbeitsstellen für Fachkräfte, die sich in der Höheren Berufsbildung entwickeln möchten. Beispielsweise als diplomierte/r Kindheitspädagoge oder -pädagogin HF oder im Bereich frühkindlicher Angebote. Die Arbeits- und Ausbildungsstellen fehlen aktuell vor allem in der Deutschschweiz. Die Betriebe sollten zudem Instrumente erhalten, um die Ausbildungsleistung gut wahrnehmen zu können.


Wo sehen Sie die Herausforderungen im Bereich Menschen im Alter?

Wie ich bereits erwähnt habe, werden wir uns als Savoirsocial überlegen, welche Kompetenzen die Fachkräfte aufgrund der künftigen Entwicklung der Angebote im Bereich Alter benötigen. Im Blick haben wir weiter auch die Schnittstelle zwischen Gesundheit und Soziales. Menschen, die zu Hause alt werden, benötigen zunächst vor allem Betreuung und weniger Pflege. Es geht darum, die sozialen Berufe neben den pflegeorientierten Berufen richtig und gut zu positionieren. 


Im Arbeitsfeld Menschen mit Behinderung gibt es ebenfalls einen Trend hin zu ambulanten Angeboten. Was bedeutet dies für die Berufsbildung?

Im Arbeitsfeld Menschen mit Beeinträchtigung gilt es die Entwicklungen im Rahmen der Subjektfinanzierung im Blick zu haben. Die Gesetze, die diesbezüglich in den Kantonen erarbeitet werden, haben Einfluss auf die Organisationen. Es ist offen, welche Organisationen die Dienstleistungen im Assistenzbereich anbieten werden. Die Fachkräfte werden bisher im stationären Bereich ausgebildet. Wir fragen uns zurzeit, wer in Zukunft die Fachkräfte für die Assistenzdienstleistungen ausbilden wird, wie viele Fachkräfte es brauchen wird und welche zusätzlichen Kompetenzen dafür ausgebildet werden müssen.
 


Die Fachkräftestudie 2024

Die beiden nationalen Verbände Savoirsocial, der Dachverband für die Berufsbildung im Sozialbereich, und Sassa, die Fachkonferenz der Fachhochschulen Soziale Arbeit Schweiz, haben eine Studie in Auftrag gegeben, die Anfang Februar publiziert worden ist. Erstmals sind damit Berufsbildungs- und Hochschulabschlüsse gemeinsam vertieft betrachtet worden. Rund 1700 Betriebe aus acht Arbeitsfeldern in der ganzen Schweiz haben letztes Jahr an einer Online-Befragung teilgenommen. Die acht Arbeitsfelder umfassen «Menschen im Alter», «Menschen mit Behinderung», «Kinder, Jugend und Familie», «Menschen im Bereich Migration & Asyl», «Suchtbetroffene Menschen», «Armutsgefährdete Menschen», «Menschen im Straf- und Massnahmenvollzug» und «Vulnerable Menschen in weiteren besonderen Lebenslagen». Die Ergebnisse der Online-Befragung wurden mit vertiefenden Fokusgruppengesprächen und Daten aus der öffentlichen Statistik ergänzt. Die Studie liefert erstmals umfassende, repräsentative Daten zur Fachkräftesituation im gesamten Sozialbereich. Sie gibt Auskunft zur Charakteristik der Fachkräftesituation, Mobilität des Personals und Entwicklung des zukünftigen Personalbedarfs.

Fachkräftestudie 2024

 


Foto: Savoirsocial