«Alle Akteure müssen ihre Verantwortung übernehmen»
Die Herausforderungen in der Langzeitpflege erfordern eine substanzielle Umsetzung der Pflegeinitiative. Die Vorschläge des Bundesrats zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen genügen nicht. Das sagen ARTISET-Geschäftsführer Daniel Höchli und Markus Leser, Senior Consultant von CURAVIVA. Mit einem Förderprogramm nehmen sie Bund, Kantone und Leistungserbringer in die Pflicht.
Der Bundesrat präsentierte Ende Januar Vorschläge zur Umsetzung des zweiten Pakets zur Pflegeinitiative, bei dem es um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen geht. Ihr erster Eindruck?
Markus Leser: All die vielen Vorschläge zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen werden nicht zu einer echten Lösung führen. Der Bundesrat stellt sich nämlich auf den Standpunkt, die Umsetzung der Initiative darf den Bund nichts kosten. Er schiebt damit die ganze Verantwortung anderen Akteuren zu. Statt die Branche zu entlasten, wird man sie damit immer noch mehr belasten.
Bessere Dienstpläne, Lohnzuschläge für kurzzeitige Arbeitszeiteinsätze, ein optimaler Skill-Grade-Mix – dagegen lässt sich eigentlich nichts einwenden?
Daniel Höchli: Wer den Massnahmenkatalog studiert, muss zum Schluss kommen, dass das oberste Primat darin besteht, für den Bund keine Kosten entstehen zu lassen. Es scheint, dass die Verwaltung den Auftrag erhalten hat, im Rahmen dieser Maxime Massnahmen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen zu suchen. Das Resultat ist ein minimaler Beitrag zur Bewältigung der grossen Herausforderung, die auf uns zukommt. Vor allem aber fehlt im Paket des Bundesrats vollständig eine Analyse dieser Herausforderung. Nur aufgrund einer solchen Analyse können wir aber die Probleme angehen und Massnahmen definieren, die wirklich etwas bringen.
Als wie gross beurteilen Sie das Problem des Fachkräftemangels?
Höchli: Wir haben drei Faktoren, die den Fachkräftemangel im Pflegebereich stark befeuern werden. Erstens: Der Bedarf wird aufgrund der Demografie bis 2040 um mehr als 50 Prozent steigen, wie ein Bericht des Gesundheitsobservatoriums letztes Jahr aufgezeigt hat. Zweitens: In den nächsten zwei Jahrzehnten werden mehr Menschen in Pension gehen, als junge Arbeitskräfte nachkommen. Drittens: Bei der Pflege handelt es sich um eine Branche, bei der sich nur sehr begrenzt mit Rationalisierungen Personal einsparen lässt.
Um den erforderlichen Bedarf an Pflegenden zu stemmen, braucht es mehr als nur Pflästerlipolitik?
Leser: Es braucht ein Umdenken in der Gesellschaft. Die Gesellschaft muss den Wert der Pflege, vor allem der Langzeitpflege, erkennen. Wir müssen die Gesellschaft wachrütteln. Das System Politik hinkt der Gesellschaft hinterher. Wir müssen also zuerst die Gesellschaft bewegen, erst dann wird sich die Politik auf den Ebenen Bund, Kanton und Gemeinde bewegen.
Höchli: Eine solche Sensibilisierung der Gesellschaft erachte auch ich für sehr wichtig. Wir reden über das fehlende Personal, schliesslich geht es aber darum, dass wir den vielen Menschen, die in den kommenden Jahrzenten auf Pflege und Betreuung angewiesen sein werden, ein Leben in Würde ermöglichen. Die Herausforderung besteht darin, dass wir für diese Menschen einen Rahmen schaffen, sodass es nicht Schritt für Schritt für Teile der Bevölkerung zu einer gewissen Verelendung kommt.
Leser: Um diesen Rahmen zu schaffen, müssen wir auch über die engen Grenzen des KVG hinausdenken. Das KVG fokussiert ja einzig auf die medizinische Versorgung. Damit hochbetagte Menschen in Würde leben können, braucht es aber mehr als die rein medizinische Versorgung. Um zum Beispiel der Einsamkeit entgegenzuwirken, sind auch Strukturen in den Bereichen Begleitung und Betreuung gefragt.
Höchli: Wir stehen vor einer umfassenden gesellschaftlichen Herausforderung. Vonseiten der Föderation ARTISET und der Branchenverbände propagieren wir schon länger den Sozialraumansatz: Wir können die Unterstützungsaufgaben nicht einfach an Professionelle delegieren. Wir haben schlicht die Ressourcen nicht dafür. Es braucht das Mitwirken von Angehörigen und von Freiwilligen.
«Ähnlich wie bei der Ausbildungsoffensive könnte der Bund über einen bestimmten Zeitraum hinweg einen Beitrag zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen sprechen.»
Diese umfassenden Herausforderungen lassen sich allerdings mit der Pflegeinitiative respektive dem neuen Verfassungsartikel allein nicht lösen?
Höchli: Es handelt sich um eine gesellschaftliche Frage, die über die Möglichkeit der gesetzlichen Regulierung hinausgeht. Die Pflegeinitiative kann aber im Bereich des erforderlichen Pflegepersonals einen Beitrag leisten, aber eben nur dann, wenn sie substanziell umgesetzt wird. Neben der Ausbildungsoffensive, die ja bereits beschlossen ist, müssen wir unbedingt sicherstellen, dass wir das ausgebildete Personal mit entsprechend guten Anstellungsbedingungen halten können. Andernfalls werden die Bemühungen der Ausbildungsoffensive rasch verpuffen.
Die vom Bundesrat vorgeschlagenen Massnahmen stellen aus Ihrer Sicht keine substanzielle Umsetzung der Pflegeinitiative dar – was braucht es?
Höchli: Anstellungsbedingungen lassen sich ohne mehr Geld nicht verbessern. Es braucht mehr Geld, auch wenn mehr Geld allein noch keine Garantie dafür ist, dass die Arbeitsbedingungen verbessert werden. Vor dem Hintergrund wachsender Gesundheitskosten haben die Akteure aber immer schnell das Gefühl, die anderen seien zuständig. Der Bundesrat stellt sich auf den Standpunkt, für die Finanzierung sei er nicht zuständig, und er versucht die Finanzierungsverantwortung vollständig auf die Restfinanzierer abzuwälzen, die Kantone und Gemeinden.
Leser: Die Bereitschaft der Akteure, zusammenzuarbeiten, ist an einem kleinen Ort. Ob Bund, Kantone oder Leistungserbringer: Sie alle halten sich bei auftretenden Problemen schnell einmal für nicht zuständig und schieben die Verantwortung von sich weg. Es sind immer die anderen, die etwas unternehmen sollen oder zahlen müssen. Es braucht von allen Seiten die Bereitschaft, gemeinsam zu gestalten. Verschiedene Kantone ergreifen jetzt die Initiative. St. Gallen zum Beispiel arbeitet an einem Konzept zur Integrierten Versorgung.
Höchli: Auch aus anderen Regionen und Kantonen gibt es entsprechende Beispiele. Der Kanton Tessin etwa hat eine Gesamtplanung im Bereich der ambulanten und stationären Langzeitpflege erarbeitet.
Die Hauptverantwortung bei der Gesundheitsversorgung liegt allerdings auch tatsächlich bei den Kantonen.
Höchli: Das stimmt grundsätzlich. In der Verfassung heisst es seit der Annahme der Pflegeinitiative indes deutlich: Bund und Kantone sorgen für eine ausreichende und allen zugängliche Pflege von hoher Qualität. Auch liegt die Kompetenz zur Regelung der Pflegefinanzierung im KVG beim Bund. Wenn man die finanzielle Verantwortung einzig den Kantonen und Gemeinden überlässt, besteht keine Verbindlichkeit, wirklich etwas zu unternehmen. Einige Kantone werden die Restfinanzierung erhöhen, andere nicht. Genau hier setzt unser Vorschlag ein: Wir möchten eine Verbindlichkeit schaffen, was nur möglich ist, wenn alle mitziehen. Alle Akteure müssen ihre Verantwortung wahrnehmen, Bund, Kantone und Leistungserbringer.
Mit Ihrem Vorschlag einer Anschubfinanzierung durch den Bund möchten Sie bewirken, dass alle Akteure am gleichen Strick ziehen. Wie soll dies gelingen?
Höchli: Ähnlich wie bei der Ausbildungsoffensive könnte der Bund über einen bestimmten Zeitraum hinweg einen Beitrag zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen sprechen. Der Bund würde damit einen Anreiz für die Kantone und Gemeinden schaffen, mitzuziehen. So müssten die Kantone ihrerseits ebenfalls Geld auf den Tisch legen. Und so wie bei der Ausbildungsoffensive müssten auch hier die Betriebe ins Boot geholten werden, indem sie verpflichtet werden, bestimmte Massnahmen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen umzusetzen. Wir schlagen hierfür verschiedene Modelle vor. Eine möglichst einfache Wirkungsmessung soll dann überprüfen, ob die Massnahmen etwas bringen.
Und wenn die Anschubfinanzierung ausläuft: Wer soll dann die Finanzierung besserer Anstellungsbedingungen übernehmen?
Höchli: Während der Laufzeit des Programms erarbeiten wir objektive Daten dafür, welche Massnahmen wirklich dazu beitragen, dass die Pflegenden länger im Beruf gehalten werden können. In der Folge geht es dann darum, sowohl die OKP-Beiträge als auch die Restfinanzierung um die dafür nötigen Beiträge zu erhöhen. Wichtig ist, dass beide, sowohl die Krankenversicherer als auch die Kantone, ihren Teil beitragen.
Neben Bund und Kantonen sehen Sie auch die Leistungs- erbringer in der Pflicht?
Leser: Ohne mehr Geld vonseiten des Bundes und der Kantone werden wir die grossen künftigen Herausforderungen nicht meistern. Andererseits müssen wir aber den Blick auch auf unsere Branche selbst richten. Es gibt Heime, die von sich sagen, keine Personalprobleme zu haben. Auch unter den aktuellen Rahmenbedingungen haben die Arbeitgebenden die Möglichkeit und die Verantwortung, für möglichst gute Bedingungen zu sorgen.
Woran denken Sie?
Leser: Es geht zum Beispiel um eine gute Arbeitskultur. Die Heimleitung trägt hierfür eine grosse Verantwortung. Schon vor zehn Jahren hat der Branchenverband CURAVIVA zudem eine Broschüre mit Massnahmen zusammengestellt, die jeder Betrieb umsetzen kann. Zentral ist auch eine auf die Zukunft ausgerichtete Strategie des ganzen Betriebs. Modern geführte Betriebe können Personal besser gewinnen und halten.
Höchli: Wir haben in der Branche Hausaufgaben zu bewältigen, was die Arbeitskultur oder die Arbeitsorganisation betrifft. Das Problem des Personalmangels haben wir damit aber noch nicht gelöst. Die Leute wechseln nämlich nicht einfach den Arbeitgeber, sondern sie steigen ganz aus der Branche aus; wegen einer zu hohen Belastung zum Beispiel, oder zu wenig Erholung. Wenn man diese Parameter verändern will, dann braucht es mehr Geld.
Versicherer und Kantone zu höheren Beiträgen in der Regelfinanzierung zu bewegen, wird eine riesige Herausforderung sein?
Leser: Wenn wir nichts machen, dann werden viele Heime künftig gezwungen sein, Betten zu reduzieren. Was aber geschieht dann mit den vielen hochbetagten Menschen, die auf eine professionelle Pflege und Betreuung angewiesen sind?
Höchli: Es wird dann gelingen, wenn die Überzeugung wächst, dass wir wirklich etwas machen müssen. Es gelingt nicht, wenn die Verhinderung des Prämienwachstums das oberste Primat ist. Aufgrund der Demografie werden wir in der Langzeitpflege künftig ein Mengenwachstum haben. Wir dürfen die alten Menschen nicht zu Geiseln der Überzeugung machen, dass die Gesundheitskosten in diesem Bereich nicht steigen dürfen.
Daniel Höchli ist Geschäftsführer der Föderation ARTISET mit ihren Branchenverbänden CURAVIVA, INSOS und YOUVITA.
Markus Leser ist Senior Consultant des Branchenverbands CURAVIVA.
Auch im Sozialbereich ein Thema
ARTISET plädiert dafür, das Förderprogramm auch auf Dienstleister im Sozialbereich auszudehnen. «Auch bei der Langzeitbetreuung und -begleitung stellt sich die Frage nach einer angemessenen Abgeltung von Leistungen und von anforderungsgerechten Arbeitsbedingungen immer dringlicher», heisst es in einer Mitteilung. Und: «Aus der aktuell schwierigen Situation im Pflegebereich können jetzt die notwendigen Lehren gezogen werden, um eine ähnliche Entwicklung im Sozialbereich zu vermeiden.» Ohne Korrekturmassnahmen werde sich der Fachkräftemangel auch im Sozialbereich weiter akzentuieren. Umso mehr als Pflege und Betreuung sich als Teile einer ganzheitlich, bedürfnisorientierten Gesundheitsversorgung nicht mehr länger trennscharf unterscheiden lassen.
Die Vorschläge des Bundesrats zur Umsetzung des zweiten Pakets der Pflegeinitiative.
Die Details zum Vorschlag des Förderprogramms von ARTISET und CURAVIVA