19.04.2023

POLITIK | Rechtsgrundlage für Triage-Entscheidungen in der Intensivmedizin vorerst vertagt

Die Gesundheitskommission des Ständerats hat eine Motion zur Schaffung einer Rechtsgrundlage zu diesem gesellschaftlich brisanten Thema abgelehnt. Gleichzeitig empfiehlt sie, dem Bundesrat mit einem Postulat den Auftrag zu erteilen, zuerst einmal aufzuzeigen, wie eine Rechtsgrundlage ausgestaltet werden könnte. ARTISET und die Branchenverbände CURAVIVA und INSOS bedauern, dass die Schaffung einer Rechtsgrundlage nicht zielstrebig an die Hand genommen werden soll.

Während der Covid-Pandemie stand eine mögliche Triage bei der intensivmedizinischen Betreuung wiederholt zur Diskussion. Dank des Einsatzes der Behindertenorganisationen besserte die Schweizerische Akademie der medizinischen Wissenschaften (SAMW) ihre Richtlinien nach, so dass eine offensichtliche Diskriminierung von Menschen mit Behinderung vermieden werden konnte.

Es fehlt eine detaillierte Rechtsgrundlage

Der Bundesrat stützt sich zum Thema Triage auf verschiedene verfassungs- und strafrechtliche Normen wie das Recht auf Leben, das Rechtsgleichheitsgebot und gegen die Diskriminierung. Die SAMW-Richtlinien sollen diese rechtliche Ausgangslage ergänzen. Doch: Richtlinien einer Fachgesellschaft können keinen Ersatz für eine demokratisch legitimierte Rechtsgrundlage bilden. Sie sind nicht rechtsverbindlich. Das rechtsstaatliche Problem, dass Private mit Richtlinien Grundlagen schaffen, die in der Praxis schwerwiegende Folgen haben können, bleibt ungeklärt. Entscheidungen von derart grosser Tragweite bedürfen einer breiten Diskussion im Rahmen eines demokratischen Prozesses. Eine Rechtsgrundlage würde auch eine Entlastung der Ärzt:innen bedeuten, die bei Triage-Entscheidungen beteiligt wären.

Die SAMW-Richtlinien nicht isoliert betrachten, sondern in einen Rahmen einbetten

Der Entscheid, welche:r Patient:in bei Verknappung einen Intensivpflegeplatz zugesprochen bekommt, ist immer einzelfallbezogen zu betrachten. Die SAMW-Richtlinien können eine Einzelfallbeurteilung nicht ersetzen. Sie können aber helfen, dass möglichst viele Aspekte bei einem solchen Entscheid berücksichtigt werden. Weitere Aspekte gehören ebenfalls in den Rahmen einer breit geführten Diskussion zu einer Rechtsgrundlage, so:

  • die Thematisierung der Gefahr einer «stillen Triage»: Es reicht nicht aus, wenn die SAMW sich nur auf ein Kriterienraster fokussiert, das sich auf die Belegung der Intensivplätze bezieht. Die Wirkung der aufgestellten Kriterien auf vorgelagerte Stellen (z.B. Hausärzt:innen, Heimärzt:innen), diese Kriterien bei möglichen Empfehlungen bereits einzubeziehen, darf nicht unterschätzt werden.
  • Bei der Umsetzung von Triagekriterien sind alte Menschen und Menschen mit Behinderung konsequent vor Diskriminierungen zu schützen. Die Abschätzung der Fragilität darf bei ihnen nicht pauschal gestützt auf ihre Abhängigkeit von notwendigen Unterstützungsleistungen festgestellt werden. Es besteht die Gefahr, dass bei einem möglichen Fokus auf eine «kurzfristige (Genesungs-)Prognose», Menschen mit Unterstützungsbedarf schlechtere Voraussetzungen haben.

Rechtlicher Rahmen notwendig

ARTISET und die Branchenverbände CURAVIVA und INSOS bedauern, dass die SGK-S die Schaffung einer Rechtsgrundlage für Triage-Entscheidungen mit ihrem Entscheid hinauszögert. Auch wenn die Dringlichkeit dieses Themas aktuell nicht als hoch erscheint, stellen sich grundlegende Fragen, die im Sinne einer Vorbereitung auf zukünftige Pandemien und im Hinblick auf die Revision des Epidemiengesetzes jetzt angegangen werden sollten.

23.3496 Po SGK-S zu einer möglichen Rechtsgrundlage und Diskriminierungsschutz bei Triage-Entscheidungen

22.3246 Mo Graf zur Frage einer Rechtsgrundlage für Triage-Entscheidungen