POLITIK | Rückblick auf die Sommersession 2024
Die drei letzten Wochen debattierten die National- und Ständerät:innen zu einer Vielzahl von Geschäften. Nehmen Sie sich 5 Minuten Zeit für die Rosinen aus dem Bundeshaus, die wir für Sie herausgepickt haben.
Wenn Schnecken nicht nur im Garten, sondern plötzlich auch im Bundeshaus auftauchen
Wer im Mai in Gummistiefeln im Garten tätig war, dürfte ihnen immer mal wieder begegnet sein. Während uns das Wetter zunehmend aufs Gemüt schlug, dürften sich die Schnecken bei kühler und nasser Witterung bei der Verspeisung von knackigen Salaten pudelwohl gefühlt haben. Von dieser Stimmungslage liess sich auch das Parlament anstecken und verabschiedete einen seit zwei Jahren hängigen Vorstoss zu den putzigen Weichtieren. Allerdings ging es dabei weniger um das Wohl der Tierchen als vielmehr um das der Gourmets und Landwirte, die neu als Schneckenproduzenten auftreten dürfen. Denn bislang galt Schneckenzucht nicht als Landwirtschaftszweig und Schnecken nicht als landwirtschaftliche Nutztiere. Der Nationalrat stimmte in erster Lesung zu. Doch der Ständerat sah die Risiken und nahm Korrekturen am Motionstext vor, auch im Hinblick auf das Raumplanungsgesetz, das keine neuen Gebäude für die Schneckenzucht in Landwirtschaftszonen will. So sind nun kleinere Anlagen wie Gehege oder Zäune auf Bauernhöfen erlaubt. Grössere Anlagen in Industriezonen waren bisher schon zulässig, aber, das ist das Problem, die Schneckenzucht ist nicht dort angesiedelt. Mit der Anpassung des Motionstextes und der Versicherung der Verwaltung, dass keine Direktzahlungsansprüche ausgelöst würden und auch keine Auswirkungen auf die normale Schneckenhaltung in den Gärten zu befürchten sei, konnte der Ständerat schliesslich zustimmen. Der Nationalrat nahm die Zustimmung wohlwollend entgegen und erteilte dem Bundesrat nun den Auftrag, das Gesetz dementsprechend anzupassen.
22.3815 Po. Suter «Rechtsgrundlagen mit der Behindertenrechtskonvention harmonisieren»
20.505 pa. Iv. Suter «Barrierefreiheit des Live-Streams der Parlamentsdebatten gewährleisten»
Es geht also doch. Gerade zu zwei Vorlagen erteilte das Parlament seinen Segen. Beide Kammern stimmten einerseits einem bestechend einfachen wie stringenten Mechanismus zu: Direktübertragung der Debatten sollen für den barrierefreien Zugang mit Untertiteln ergänzt werden soll. Nur für einen kurzen Moment haben wir uns die Frage gestellt, ob für die Lösungsfindung tatsächlich vier Jahre notwendig waren. – Bedeutend folgenreicher ist die Forderung des Postulats nach einer Harmonisierung der Rechtsgrundlagen mit der UN-BRK. Denn es fehlt bis heute eine systematische Überprüfung der bestehenden Gesetze mit den Vorgaben der UN-BRK. Für einmal konnte sich Mitte-Links knapp durchsetzen und erteilte dem Bundesrat den Auftrag, einen Bericht zu verfassen. Immerhin eine Auslegeordnung als erster Schritt.
22.4505 Mo. Müller-Altermatt «Datenlage zur Umsetzung der Kinderrechte verbessern»
Die Schweiz hat die Kinderrechtkonvention bereits 1997 ratifiziert. Trotz wiederholter Aufforderung des UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes die uneinheitliche Datenerhebung zu verbessern, ist die föderalistisch geprägte Datenerfassung noch immer Stand der Dinge. Eine Vereinheitlichung der Datenerhebungen würde aber nicht gegen den föderalistischen Grundstein unserer Eidgenossenschaft verstossen – den verfassungsmässigen Schutz der Kinder durch Kantone und Gemeinden mit Rücksicht auf die heutige soziale Mobilität aber erleichtern. In den vergangenen Jahren wurden zwar einige Anstrengungen unternommen, um die Datenlage zu verbessern. Es ist aber an der Zeit, die Vollständigkeit dieser Bemühungen zu überprüfen. Der Bundesrat lieferte trotz ablehnender Haltung indirekt einen Steilpass mit seinem Hinweis, im Falle einer Annahme der Motion, deren Umwandlung in einen Prüfauftrag zu beantragen. Der Nationalrat hörte die Signale und nahm die Motion gegen die Stimmen der SVP an. Nun liegt es am Ständerat, den Vorstoss zu prüfen.
24.3085 Po. Stocker «Überarbeitung und Aktualisierung der nationalen Alterspolitik»
Die Strategie für eine Alterspolitik des Bundes stammt aus dem Jahre 2007, also noch vor Einführung des neuen Finanzausgleichs, der Pflegefinanzierung oder der in der Zwischenzeit erfolgten Reformen in der Altersvorsorge. Auch der heute brennende Fachkräftemangel fand 2007 noch keinen Eingang in die Strategie, ganz zu schweigen von der Digitalisierung oder dem heutigen Top-Thema integrierte Versorgung, der Durchlässigkeit von ambulanten und stationären Leistungen sowie der stärkeren Durchmischung von Betreuungs- und Pflegeleistungen. Die Überprüfung und Aktualisierung der Altersstrategie des Bundes unter Einbezug der relevanten Akteur:innen war denn auch unbestritten und wurde vom Ständerat stillschweigend an den Bundesrat überwiesen.
22.4111 Mo. Geissbühler (Bircher) «Weniger Bürokratie in den Pflegeberufen»
Eine lupenrein holzschnittartige Forderung fand Gehör im Nationalrat. SVP und FDP vermochten zusammen mit der GLP die erste Hürde zu nehmen. Die Forderung: «Der Bundesrat wird beauftragt, zu veranlassen, dass die Bürokratie in den Pflegeberufen massiv gesenkt wird (max. 10 Prozent bei einem Beschäftigungsgrad von 100 %)». Simpel, aber folgenreich. Da wird manch eine:r im BAG leer schlucken. Mal schauen, wie der Ständerat mit dieser Motion umgeht.
24.3397 Mo. SGK-N «Den Verwurf aufgrund von ungeeigneten Packungsgrössen oder Dosisstärken bei den Medikamentenpreisen berücksichtigen»
22.4245 Mo. Humbel (Rechsteiner) «Medikamentenverschwendung stoppen»
Nachdem das Parlament in der letzten Session das Freiburger Modell zur pharmazeutischen Betreuung in Pflegeheimen und damit jährliche Einsparungen von 3.5 Millionen Franken endgültig versenkt hat, erhielten nun zwei Motionen zum Thema Medikamentenverschwendung im Nationalrat Zuspruch. Eine Art Wiedergutmachung? – Offen ist, ob der Ständerat diesem Reflex auch folgen wird und ob die beiden Vorlagen denselben Impact wie das Freiburger Modell generieren können. Bekanntlich sind wir am Ende einer Debatte immer klüger. Nur wurde in diesem Fall leider trotzdem die «Freiburger-Chance» verspielt.
22.4104 Mo. Gysi «Selbstvertretung stärken. Mittelvergabe an Behindertenorganisationen anpassen»
Gemäss Art. 74 IVG erhalten Dachorganisationen, die sich für Menschen mit Behinderung engagieren, finanzielle Unterstützung. Allerdings nur, wenn sie national oder sprachregional tätig sind. Organisationen von Selbstvertreter:innen, die meist kleinräumig, dafür sehr konkret unterstützend unterwegs sind, gehen dabei leer aus. Dies sollte gemäss der Motion nicht mehr sein, doch es bleibt alles beim Alten. Denn das bürgerliche Lager liess für einmal fast geeint die Muskeln spielen und versenkte den Vorstoss.
24.3398 Mo. SGK-N «Versorgungssicherheit der Kinder- und Jugendpsychiatrie»
23.309 Kt.Iv. SO «Versorgungssicherheit der Kinder- und Jugendpsychiatrie»
Heute ist eine bedarfsgerechte Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Problemen nicht flächendeckend gewährleistet. Dennoch stemmte sich der Bundesrat gegen die Motion der nationalrätlichen Gesundheitskommission mit der Begründung, dafür sei nicht der Bund zuständig: Kantone, Versicherer und Leistungserbringer müssten das Ruder in die Hand nehmen. Gleichzeitig liess er aber verlauten, dass er als Genehmigungsbehörde die geltenden Tarifstrukturen auf den Aspekt der Kinder- und Jugendmedizin prüfen würde. Ein Widerspruch, der dem Nationalrat nicht entging: er ortete auf Bundesebene Handlungsbedarf und nahm die Motion an. Die Solothuner Standesinitiative, die eine spezifische nationale Tarifstruktur und eine Ausbildungsoffensive zugunsten der Jugendpsychiatrie forderte, wurde auf Antrag der SGK-N mit der Begründung abgelehnt, dass die Annahme der vorgenannten Motion der SGK-N genüge, um dem Handlungsbedarf nachzukommen.
23.3156 Po. Wyss «Aktionsplan für mehr Rechtssicherheit bei fürsorgerischer Unterbringung, bewegungseinschränkenden Massnahmen und Behandlung ohne Zustimmung»
23.3158 Po. Wyss «Statistische Erfassung fürsorgerischer Unterbringung, bewegungseinschränkender Massnahmen und von Behandlungen ohne Zustimmung»
Gleich zwei Postulate zum Thema Fürsorgerische Unterbringung (FU) konnte Sarah Wyss ins Trockene bringen. Ein Bericht der Verwaltung liegt seit Ende 2022 vor, doch passiert sei nichts. Mit den Postulaten will die Nationalrätin dem Bundesrat Beine machen: Zum einen durch die Ausarbeitung eines Aktionsplans, der die Umsetzung von Massnahmen aus dem vorliegenden Bericht mit einem Datum versehen soll. Zum anderen durch die Schaffung einer einheitlichen Statistik, die nicht nur die FU und Zwangsmassnahmen in psychiatrischen Kliniken umfasst, sondern auch andere Einrichtungen wie Alters-, Pflege- und Wohnheime sowie somatische Akutspitäler einschliesst. Vergeblich verwies der Bundesrat auf bereits laufende Evaluationsarbeiten zur Fürsorgerischen Unterbringung, die bis Anfang 2025 abgeschlossen sein sollen. Der Nationalrat überwies das Postulat gegen die Stimmen von Mitte und FDP.
24.3154 Po Gutjahr «Absenzen am Arbeitsplatz. Sozialpartnerschaftlich Transparenz herstellen und zielgerichtete Massnahmen entwickeln»
24.3465 Po SGK-S «Handlungsoptionen bei der Krankentaggeldversicherung»
Die Absenztage pro Arbeitsstelle sind von durchschnittlich 6 Arbeitstagen vor zehn Jahren auf heute 9,3 Arbeitstage pro Arbeitsstelle gestiegen. Eine Krankentaggeldversicherung ist bis heute nicht obligatorisch. Dies kann dazu führen, dass Arbeitgeber aus Kostengründen auf eine Krankentaggeldversicherung verzichten, was sich für Arbeitnehmer:innen ungünstig entwickeln könnte.
Es liegen zwei Postulate vor, deren wichtige Inhalte sich durchaus in einem Bericht vermengen liessen. So wenigstens unsere Sicht der Dinge. Doch der Reihe nach.
Das eine Postulat wurde im März im Nationalrat, das andere im April im Ständerat eingereicht. Das eine Postulat lehnte der Bundesrat mit Verweis auf das andere ab. Das eine lehnte Links-Grün ziemlich geschlossen ab, dem anderen applaudierte Links-Grün ebenso entschieden wie die Bürgerlichen zu. Auch Bundesrätin Keller-Sutter glänzte mit ihrer Argumentation gegen das eine Postulat. Sie lehnte es ab mit dem Verweis, dass die SGK-S das andere Postulat angenommen und bereits einen Bericht in Auftrag gegeben habe. Allein, dass für die Umsetzung des anderen Postulats nicht der Entscheid der SGK-S zählt, sondern der Entscheid des Ständerats, hat sie bei ihrem Votum nicht erwähnt. Den konnte sie trotz Weitsicht noch nicht wirklich wissen, denn die Debatte zum anderen Postulat im Ständerat fand ja auch erst eine Woche nach der Diskussion zum einen Postulat im Nationalrat statt. – Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass der Nationalrat das eine und der Ständerat das andere Postulat mit satten Mehrheiten angenommen hat. Noch nicht geklärt ist die Frage, ob das eine Postulat nun zusammen mit dem anderen behandelt wird. Womit wir wieder bei der eingangs vorgebrachten Sicht der Dinge gelandet wären. Auf alle Fälle, Bundesbern in Höchstform.
23.3699 Mo. Maret «Verstärkte Unterstützung für Weiterbildungen und berufliche Umschulungen, um die Rückkehr in die Arbeitswelt zu erleichtern» (30.5.)
24.3010 Po. WBK-N «Verstärkte Unterstützung für Aus- und Weiterbildungen bei der Rückkehr in die Arbeitswelt»
In Zeiten des Fachkräftemangels braucht es gezielte Anstrengungen, Personen, die aus dem Arbeitsmarkt ausgeschieden sind, bei der Rückkehr in die Arbeitswelt zu unterstützen. Dazu gehört auch eine gezielte Förderung mittels Weiterbildung und beruflicher Umschulung. Für den Nationalrat war deshalb klar, dass solche Massnahmen unterstützungswürdig sind. Das Postulat fand guten Zuspruch. Hingegen sah es der Rat nicht als Aufgabe des Bundes, Pilotprojekte zu fördern. Womit die weitergehende Motion Maret vom Tisch ist.