POLITIK | Rückblick auf die Frühjahrssession 2022
Der Angriffskrieg gegen die Ukraine überschattete auch die Frühjahrssession. Das Ringen um die Unterstützung der Sanktionen gegen Russland bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Neutralität dominierte die politische Diskussion.
Die Frühjahressession war aus Sicht von ARTISET nicht spektakulär; grosse gesundheits- oder sozialpolitische Geschäfte für unsere Mitglieder waren nicht traktandiert. Bei diversen Geschäften richteten sich die Räte nicht immer nach unseren Empfehlungen, was bedauerlich ist. So verlief z.B. die Differenzbereinigung beim 1. Kostendämpfungspaket in der OKP nicht gänzlich in unserem Sinne. Bei sozialpolitischen Geschäften ist die Bilanz ebenfalls durchzogen. Die Anpassung des IV-Auszahlungsmodells bei Drittleistungen kam zwar durch, dafür versenkte der Ständerat eine Motion für qualitative Standards bei Gutachten im Kinder- und Erwachsenenschutzrecht. – Und natürlich war da auch Covid. Dieses Thema dürfte uns den erfolgten Lockerungen zum Trotz auch in den nächsten Sessionen noch weiter beschäftigen. In diesem Sessionsrückblick picken wir zwei Geschäfte heraus, den kleinen Grenzverkehr und neue Jobs für die Armee.
21.3698 Mo Herzog Eva «Garantie des Grenzverkehrs auch in Pandemiezeiten. Ergänzung des Epidemiengesetzes»
Die Verflechtung der Grenzregionen rückte in der Pandemie ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Gerade im Bereich von Pflege und Betreuung war die Mobilität der Grenzgänger:innen unabdingbar, weshalb die Motion eine explizite Regelung im EpG verlangt. Der Bundesrat war anderer Meinung: eine solche Regelung würde den Handlungsspielraum unnötigerweise einschränken. Das Parlament folgte dem Bundesrat nicht und votierte für eine explizite Aufnahme dieser Passage aus dem Covid-Gesetz ins EpG.
21.4419 Mo Salzmann «Massnahmenpaket zur Entlastung der zivilen medizinischen Dienste während einer Pandemie erarbeiten»
Nach Ansicht des Bundesrates kann die Armee bereits heute Grund- und Behandlungspflege von mehreren hundert Patient:innen gewährleisten. Der Ständerat sieht das anders: er findet, dass es weitere Massnahmen braucht, um diesen Anspruch zu erfüllen, und hat mit Annahme der Motion auch einem zusätzlichen Lehrgang zugestimmt. Die Frage sei erlaubt: sollen für die Armee neue Aufgaben gesucht werden, bevor geklärt ist, ob die Assistenzdienste in Krisensituationen wie bislang ausschliesslich auf die Akutmedizin beschränkt bleiben oder bei Bedarf auch auf Pflege und Betreuung erweitert werden müssen, wie dies ARTISET mit seinen Branchenverbänden wiederholt gefordert hat? – Vielleicht stellt die grosse Kammer als Zweitrat diese Frage.
21.3452 Mo SGK-N «Auszahlungsmodell für Dienstleistungen von Dritten im Bereich der Invalidenversicherung»
Als zweite Kammer hat nun auch der Ständerat dieser Motion der Sozialkommission des Nationalrats zugestimmt. Damit muss der Bundesrat nun die Verordnung über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die IV dahingehend anpassen, dass die monatlichen Vergütungen für Dienstleistungen, die von Dritten erbracht werden müssen, flexibel im Sinne eines Jahreskontingents (jährliches Erwerbseinkommens der versicherten Person oder maximal des anderthalbfachen Mindestbetrags der ordentlichen Altersrente eines Jahres übersteigend) verrechnet werden.
19.046 KVG «Massnahmen zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen – Paket 1»
Nun ist die grosse Kammer ebenfalls eingeschwenkt – wenn auch knapp: Im Rahmen der Differenzbereinigung zum 1. Paket der Kostendämpfungsmassnahmen ist sie dem Ständerat gefolgt und hat sich für das Beschwerderecht der Krankenkassen gegen Beschlüsse der Kantone zur Planung von Spitälern, Geburtshäusern und Pflegeheimen ausgesprochen. Mit diesem Entscheid stellt auch der Nationalrat die Planungshoheit der Kantone zumindest partiell in Frage. So oder so: die Differenz ist bereinigt und das Beschwerderecht definitiv im KVG verankert.
16.419 Pa. Iv. Humbel «Wettbewerbspreise bei Medizinalprodukten der Mittel- und Gegenständeliste»
Die Anwendung von Wettbewerbsmechanismen, wie sie der Vorstoss vorsieht, ist natürlich zu begrüssen: Die Kosten der Pflegematerialien sollten so gering wie möglich ausfallen. Nur hat sich seit der Lancierung der Parlamentarischen Initiative viel getan: seither wurden die Leistungen der Positionen der Mittel- und Gegenständeliste (MiGeL) auf die WZW-Kriterien überprüft, und auf den 1. Oktober 2021 ein neues Vergütungssystem in Kraft gesetzt. Die Pa. Iv. dürfte somit keinen wirklichen Zusatznutzen bieten, wohl aber administrativen Zusatzaufwand. Mit dem neuen Vergütungssystem besteht schliesslich ein neu installiertes Regime, welches sich nun bewähren soll. Weitere Änderungen drängen sich erst dann auf, wenn dieses System fehlschlagen sollte. – Der Nationalrat beschloss dennoch eine Fristverlängerung für die Behandlung des Geschäfts.
21.3957 Mo Ettlin «Digitale Transformation im Gesundheitswesen. Rückstand endlich aufholen!»
Klare Ansage des Motionärs: «Die Schweiz gerät im internationalen Vergleich ins digitale Hintertreffen (…). Das ist schlicht peinlich für unser Land, das bei weltweiten Ratings regelmässig zu den innovativsten Ländern gehört. Die Komplexität des schweizerischen Gesundheitssystems und der Föderalismus erklären unsere Unterlegenheit nur unzureichend: es fehlt an Führung, Strategie, Struktur und dem politischen Willen, die Digitalisierung voranzutreiben.» – Auch dem Bundesrat ist die Beschleunigung der Digitalisierung ein Anliegen, doch gewisse Anliegen der Motion seien bereits im Tun, und andere in dieser Form nicht umsetzbar. Darum empfahl er die Ablehnung der Motion. Davon wollte nach dem Ständerat aber auch der Nationalrat nichts wissen und nahm die Motion einstimmig (sic!) an.
21.4453 Po Dittli «Covid-Impfkampagne als Chance für das elektronische Patientendossier nutzen»
In einem Bericht soll der Bundesrat darlegen, ob aus den registrierten Covid-Impfdossiers und den Impfzertifikaten des Bundes und der Kantone individuelle Elektronische Patientendossiers (EPD) generiert werden können. Der Bundesrat unterstützt zwar die Idee, die Impfdaten im EPD verfügbar zu machen. eHealth Suisse und das BAG würden aber bereits daran arbeiten, dieses Anliegen umzusetzen. Dabei bestünden noch einige formelle Hürden, die es abzubauen gelte. BAG und eHealth würden zu gegebener Zeit informieren, da brauche es keinen zusätzlichen Bericht. Der Ständerat zeigte sich von den Ausführungen des BR nicht wirklich überzeugt und fordert trotzdem einen Bericht.
19.3219 Mo (Frei) Flach «Qualitative Standards bei Gutachten im Kindes- und Erwachsenenschutzrecht»
Mit der ständerätlichen Ablehnung ist die Motion jetzt vom Tisch. Die kleine Kammer erachtete mehrheitlich, dass nationale Standards zur Qualität der Gutachten im Bereich des Kindes- und Erwachsenenschutzes nicht garantieren würden, dass jedes Gutachten diese tatsächlich erfülle. ARTISET bedauert diese Haltung, denn sie hat Folgen: Die Behörden orientieren sich häufig an den Einschätzungen der Gutachten, so für die Platzierung in einer Einrichtung und bei der Wahl des geeigneten Settings. Auch wenn sie kein Patentrezept dargestellt hätten, würden gesetzlich verankerte und klar definierte Ansprüche an die Form und Qualität der Gutachten die Legitimität und Wirksamkeit der Massnahmen zum Kindes- und Erwachsenenschutz deutlich erhöhen.
19.4070 Mo Lohr «Nationale Strategie für Kinder und Gesundheit»
Die Motion verlangt eine nationale Strategie, die diesen Namen verdient, und fordert klare Ziele, einen koordinierten Aktionsplan und eine angemessene langfristige Finanzierung für die Gesundheit von Kindern. ARTISET hatte das Begehren unterstützt, da es eine bessere Koordination braucht, um die Wirksamkeit der ergriffenen Massnahmen und eine optimale Ressourcenallokation zu gewährleisten. Der Nationalrat hat diesem Anliegen ein offenes Ohr geschenkt und die Motion angenommen. Bundesrat und die vorbereitende Kommission verwiesen auf den Gesundheitsbericht 2020, die darin gemachten Empfehlungen und den vorgeschlagenen Fahrplan. «On sait donc ce qu'il faut faire maintenant : il n'y a plus qu'à le réaliser.» meinte BR Berset in seinem Votum. Der Ständerat folgte Bundesrat und Kommission und versenkte die Motion.
20.3050 Mo Aebischer «Titeläquivalenz für die höhere Berufsbildung»
Moderne Bezeichnungen sollen die Abschlüsse der höheren Berufsbildung im In- und Ausland aufwerten. Aktuell wird das vom SBFI verbundpartnerschaftlich aufgesetzte Projekt «Positionierung der höheren Fachschulen (HF)» umgesetzt. Es sieht eine ganzheitliche Überprüfung der nationalen und internationalen Positionierung der HFs sowie der Bildungsgänge vor. Die Resultate dieses Projekts sollten abgewartet werden, monierte der Bundesrat und beantragte die Ablehnung der Motion. Doch der Nationalrat liess sich von dieser Argumentation nicht überzeugen und nahm die Motion an: Im Sommer ist nun der Ständerat dran. – Wir sind erst mal gespannt auf die Resultate des obengenannten Projekts im Frühling/Sommer dieses Jahres.
21.4665 Mo Ettlin «Stellenmeldepflicht. Wiedereinführung eines praxistauglichen Schwellenwertes»
Der 2020 von 8 auf 5 Prozent gesenkte Schwellenwert ist nach Ansicht des Motionärs zu tief angesetzt. Er wirke sich insbesondere in Fällen wirtschaftlicher Schwankungen zu stark auf die Anzahl meldepflichtiger Berufe aus und führe so zu einem beträchtlichen administrativen Mehraufwand für die betroffenen Unternehmen. Darum plädiert die Motion Ettlin für die Wiedereinführung des praxistauglichen Schwellenwertes von 8 Prozent. Ein durchaus plausibles Ansinnen. Der Ständerat wünscht sich zuerst eine saubere Ausgangslage und überweist das Geschäft der zuständigen Kommission zur Vorprüfung.
21.4517 Mo Maret «Der Bund muss die Rechtsstellung betreuender Angehöriger definieren»
Mit dem Inkrafttreten des neuen Bundesgesetzes zur Unterstützung betreuender Angehöriger wurde die Verbesserung der Vereinbarkeit von Betreuung und Erwerbstätigkeit erreicht. Weil jedoch nicht alle Personen, die ihre Angehörigen betreuen, auch beruflich aktiv sind, will die Motion mit einer einheitlichen Rechtsstellung von allen Personen, die Angehörige betreuen, einen schnellen Zugang zu den sozialen Leistungen auf kommunaler, kantonaler und Bundesebene erreichen. Der Bundesrat hat jedoch grosse juristische Bedenken gegenüber einer einzigen, einheitlichen Definition des Begriffs losgelöst von den Verwandtschaftsverhältnissen.– Der Ständerat überwies die Motion zur vertieften Abklärung an die zuständige Kommission.
22.3011 Mo WBK-N «Präventionskampagnen gegen Gewalt»
Die Motion verlangt regelmässig schweizweite an die verschiedenen Täter- und Opfergruppen gerichtete Präventionskampagnen gegen die verschiedenen Formen von Gewalt. Der Nationalrat nahm das Begehren an, was ARTISET ausdrücklich begrüsst Sensibilisierungskampagnen sind zwar kein Allheilmittel, aber immerhin ein Anreiz für Täter und Opfer, zu reagieren und Hilfe zu suchen. Der Nationalrat war für diese Ansicht empfänglich