POLITIK | Rückblick auf die Wintersession 2024
Die drei letzten Wochen debattierten die National- und Ständerät:innen zu einer Vielzahl von Geschäften. Nehmen Sie sich 5 Minuten Zeit für die Rosinen aus dem Bundeshaus, die wir für Sie herausgepickt haben.
Mehr als 100'000 Menschen wollen mitverfolgen, wie Politik funktioniert
Parlamentsdebatten verfolgen, Ratsmitglieder treffen, an Führungen teilnehmen oder ganz einfach in den Hallen des Bundeshauses wandeln. Das wollen jedes Jahr mehr Menschen als Luzern Einwohner:innen hat. In Zeiten des Politverdrusses eine freudige Überraschung. Das Interesse der Bevölkerung für einen Besuch im Epizentrum der Bundespolitik scheint ungebremst und nimmt mit jedem Jahr noch zu. So stark, dass es im Bundeshaus langsam etwas gar eng wird. Die Verwaltungsdelegation der Bundesversammlung schlägt deshalb eine Machbarkeitsstudie für ein Besucherzentrum vis-à-vis des Bundeshauses vor. Doch das passte nicht allen. Mit einem Vorstoss sollte solchem Tun ein Riegel vorgeschoben werden. Allerdings erfolglos. Der Grossteil der Ratsmitglieder will dem Interesse der Bevölkerung an der Bundespolitik mehr Raum bieten. Und wer weiss, vielleicht lässt sich die eine oder der andere vom Politgewusel anstecken und erscheint dereinst dann selbst als Ratsmitglied. Ein klitzekleiner Lichtblick im oft eher tristen Politalltag.
24.070 BRG «Bundesgesetz über die Ergänzungsleistungen zur AHV/IV (Leistungen für Hilfe und Betreuung zu Hause). Änderung»
Der Nationalrat hat sich mit der Vorlage zu den Ergänzungsleistungen auseinandergesetzt. Die präsentierte Vorlage und die in der SGK-N diskutierten Anpassungen weisen in die richtige Richtung. Insbesondere die vorschüssig auszubezahlende Pauschale und die stärkere Betonung von psychosozialen Leistungen sind wichtige Errungenschaften, die einen längeren Verbleib im angestammten Zuhause oder im betreuten Wohnen ermöglichen. Erfreulicherweise sieht es der Nationalrat ebenso und hat die Vorlage in diesem Sinne verabschiedet. Eine kurze Zusammenfassung der diskutierten Punkte. Nun liegt der Ball beim Ständerat.
21.403 pa. Iv. WBK-N «Überführung der Anstossfinanzierung in eine zeitgemässe Lösung»
Der Bund hat die Schaffung von Betreuungsplätzen für Kinder bisher mit 451 Millionen Franken pro Jahr unterstützt. Nun geht es darum, diese Anstossfinanzierung in eine definitive Lösung zu überführen.
Der Ständerat hat den Entwurf des Nationalrats tiefgreifend umgestaltet. Er machte jedoch keine Anstalten, sie über Bord werfen zu wollen. Die Eckpunkte:
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Mit einer neuen Betreuungszulage nach dem Muster der aktuellen Familienzulagen soll die familienergänzende Kinderbetreuung unterstützt werden. Vorgesehen ist, dass die Kantone über die Einzelheiten der Finanzierung entscheiden. Dabei haben sie die Möglichkeit, Arbeitgeber und Arbeitnehmer in die Pflicht zu nehmen. Vom Bund gibt es gemäss dem Entwurf keine Beiträge mehr. Gemäss dem allgemein vermittelten Bild um den Stand der Bundesfinanzen ein zu erwartender Move.
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In der Vorlage ist eine besondere Unterstützung von Angeboten für Kinder mit Behinderungen vorgesehen, samt einer paritätischen Finanzierung von Bund und Kantonen. Sehr begrüssenswert.
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Nach dem Ständerat soll die familienexterne Betreuung von Kindern bis zu einem Alter von acht Jahren unterstützt werden. Dies erachten wir als zu kurz bemessen.
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Verworfen wurde die Schliessung von Lücken in der Kinderbetreuung über Prorammvereinbarungen zwischen Bund und Kantonen. Ungünstig.
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Gekippt wurde eine Unterstützung der Qualitätsentwicklung durch den Bund. Dies stellt aus Sicht von YOUVITA und ARTISET einen zentralen Punkt der Vorlage dar. Der Ständerat will die Qualitätsentwicklung nicht ins Rahmengesetz schreiben und verortet sie ausschliesslich in die Zuständigkeit der Kantone. Ob dies zu einer einheitlichen Qualitätsabsicherung beiträgt?
Mehr Hintergrund findet sich auf unserer Webseite. Da die Vorlage vom Ständerat weitgehend überarbeitet worden ist, muss sich der Nationalrat erneut mit dem Geschäft befassen. Insbesondre das Streichen jeglicher Förderung der Qualität durch den Bund stellt einen großen Mangel dar. Hier muss der Nationalrat korrigierend eingreifen.
24.4213 Po. Suter «Inklusive Arbeitswelt fördern»
Es braucht einen Bericht zur bislang schleppenden Förderung der inklusiven Arbeitswelt. Konkret will Gabriela Suter wissen, wie sich die Eingliederung von Menschen mit Behinderungen in den allgemeinen Arbeitsmarkt verbessern lässt. Welche Anreize und Unterstützungsleistungen für Arbeitgeber zur Verfügung gestellt werden können und wie sich ergänzend mit regulatorischen Massnahmen auch die Verantwortung der Arbeitgeber steigern liesse. Zudem fragt sie, wie eine verbesserte, systematische Zusammenarbeit von Integrationsbetrieben und Unternehmen im allgemeinen Arbeitsmarkt aussehen könnte. Der Bundesrat hat dem Nationalrat die Annahme des Postulats empfohlen. Der liess sich nicht zweimal bitten und stimmte dem Vorstoss am letzten Tag der Session im Schnellverfahren zu
24.066 BRG «Bundesgesetz über die Invalidenversicherung IVG. Intensive Frühintervention bei Autismus-Spektrum-Störungen (IFI). Änderung»
Mit 134 zu 54 Stimmen hiess der Nationalrat eine Änderung des IVG gut. Damit soll eine bessere Unterstützung von Kindern mit schweren Autismus-Spektrum-Störungen möglich werden – dies mittels sogenannter intensiver Frühintervention bei Kindern im Vorschulalter. Die vorberatende Kommission hatte die Vorlage befürwortet, will im Gesetz aber explizit festgeschrieben haben, dass der Bundesrat vor der Regelung der Details Fachleute konsultieren muss. Der Nationalrat folgte ihr in diesem Punkt. ARTISET hatte die Vorlage begrüsst und an eine möglichst unbürokratische Umsetzung appelliert. Das Geschäft geht nun an den Ständerat.
Kindsmissbrauch: Auch der Europarat macht einen Schritt zur Vergangenheitsbewältigung
Die parlamentarische Versammlung des Europarates (PVER) lud am 6. Dezember in Strassburg zu einer internationalen Konferenz zur vollständigen Wiedergutmachung von Kindsmisshandlungen in staatlichen, privaten und kirchlichen Einrichtungen in ganz Europa. Die Konferenz bot Gelegenheit, eine erste Bilanz zu ziehen. Es wurde der PVER ein vom Schweizer Nationalrat Pierre-Alain Fridez ausgearbeiteter Resolutionsentwurf unterbreitet. Auch der Präsident der Schweizer Delegation, Nationalrat Alfred Heer, setzte sich aktiv ein. Im Anschluss der Konferenz begrüsste Bundesrat Beat Jans, dass sich zahlreiche Mitgliedsstaaten des Europarates dieser schwierigen Thematik angenommen haben, denn mit dem Hinschauen, Zuhören, Aufarbeiten von Kindesmissbrauch und einem verbesserten Schutz könne viel zur Stärkung des Landes selbst beigetragen werden. Die Medienmitteilung der Parlamentarierdelegation beim Europarat zum Nachlesen.
24.3935 Ip. Bulliard «Welche Massnahmen im Umgang mit der zunehmenden Einsamkeit?»
Psychische Belastungen nehmen in der Schweizer Bevölkerung zu. Dazu gehört auch Einsamkeit, wenn sie als eine Isolierung von der Gesellschaft wahrgenommen wird. Diesen Umstand thematisiert die Interpellation von Nationalrätin Bulliard-Marbach. Ihre Überlegungen und Fragen regen die Erarbeitung einer nationalen Strategie an, welche Massnahmen von Bund und Kantonen koordinieren würde. Der Bundesrat weist auf die diverse bereits laufende Aktivitäten hin, die in unterschiedlichen Bereichen die psychische Gesundheit der Bevölkerung fördern. Zur verbesserten Koordination derselben, um sie z.B. besser aufeinander abzustimmen und damit die Wirkung zu verstärken, verliert er jedoch kein Wort.
22.420 pa. Iv. Dobler. «Die Kosten der ärztlichen Beratungen im Zusammenhang mit einer Patientenverfügung sollen von der Krankenversicherung übernommen werden»
Der Titel fasst gut zusammen, worum es bei diesem Vorstoss geht. Die Patientenverfügung ist wichtiger Bestandteil der gesundheitlichen Vorausplanung. Bereits heute führen Ärzt:innen mit Patient:innen diese Gespräche im Zusammenhang mit chronischen Krankheiten, bevorstehenden Eingriffen oder der Vulnerabilität im hohen Alter. Mit der Thematisierung und nachfolgend detaillierter Formulierung lassen sich Unklarheiten im Akutfall vermeiden. Dies vermittelt Sicherheit auf Seiten der Menschen, die eine Patientenverfügung verfassen wollen wie auch der Leistungserbringer. Der Nationalrat hat der parl. Initiative Folge gegeben. Doch der Ständerat verschloss sich vorgenannter Argumentation hat mit seinem Njet das Geschäft humorlos versenkt. Der Grund: Die zusätzlichen Kosten.
22.4245 Mo. Humbel «Medikamentenverschwendung stoppen»
und
24.3397 Mo. SGK-N «Den Verwurf aufgrund von ungeeigneten Packungsgrössen oder Dosisstärken bei den Medikamentenpreisen berücksichtigen»
National- und Ständerat stimmten beiden Vorstössen zu. Der Bundesrat hatte sich gegen einen möglichen Auftrag gewehrt mit der Begründung, dass der Aufwand für die Datengenerierung in keinem Verhältnis zum Nutzen stehen würde. Die beiden Räte sahen dies anders mit der Konsequenz, dass der Bundesrat nun mittels eines Berichtes nicht nur die Ursache der Medikamentenverschwendung eruieren, sondern auch Massnahmen zu Bekämpfung der Medikamentenverschwendung vorschlagen soll. Weiter beauftragen ihn die Räte auch, einen allfälligen Verwurf bei der Medikamentenpreissetzung zu berücksichtigen. Diesem Anliegen stimmte auch der Bundesrat zu. Denn das lässt sich gut ins Massnahmenpaket zur Kostendämpfung integrieren. Ganz schön praktisch.
24.4058 Ip. Hegglin Peter «Ist sich der Bundesrat der Ernst der Lage wirklich bewusst?»
und
24.1037 Anfrage Wyss «Mindeststandards für Spitex-Organisationen, welche pflegende Angehörige anstellen»
und
24.4031 Ip. Hässig «Betreuungs- und Pflegeleistungen zu Hause ganzheitlich regeln»
und
23.3191 Ip. Roduit «Schadet die Abgeltung der Grundpflege, die durch Angehörige ohne spezifische Ausbildung erbracht wird, der Qualität?»
Die Angehörigenpflege. Ein heisses Eisen, seit das Bundesgericht in einem Grundsatzurteil verfügt hat, dass Spitex-Organisationen mit einer kantonalen Betriebsbewilligung Leistungen der Grundpflege verrechnen können, die von pflegenden Angehörigen - mitunter Personen ohne spezieller Ausbildung - erbracht werden. Goldgräberstimmung herrscht, neue Anbieter schiessen wie Pilze aus dem Boden. Doch auch die Besorgnis steigt, dass mit diesem Wildwuchs Folgeprobleme generiert werden. Davon zeugt eine zunehmende Anzahl von Vorstössen. Klarheit ist gefragt.
Spitex Schweiz fordert schweizweit verbindliche Rahmenbedingungen für die Anstellung von pflegenden Angehörigen. Für die Sicherstellung einer qualitativ guten Pflege braucht es zwingend klare Ausbildungs-Vorgaben und professionelle Begleitung. Zudem sind verbindliche Anstellungsbedingungen für alle Anbieter, die pflegende Angehörige anstellen, zu definieren.
Der Bundesrat verfolgt die Entwicklung im Bereich pflegende Angehörige sehr aufmerksam und stellt bis Mitte 2025 einen Grundlagen-Bericht in Aussicht. Er verpasst es aber nicht, die Verantwortung der Kantone für die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung in Erinnerung zu rufen. Sie würden über das Mittel der Restfinanzierung durchaus Möglichkeiten zur Steuerung besitzen, dass Qualitätsvorgaben eingehalten und unangemessene Profite von Organisationen verhindert werden können. Ursula Zybach (SP) und Patrick Hässig (GLP) möchten nicht so lange warten und haben diverse Vorstösse gestartet, die eine Klärung zur Entschädigung und der arbeitsrechtlichen Stellung pflegender Angehöriger zum Inhalt haben. Á suivre.
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