Ein Modell, das die Rollen neu verteilt

Im Zentrum des Modells MDH-PPH steht die Interaktion. Dem Modell zufolge ist Behinderung oder soziale Teilhabe stets das Ergebnis einer Wechselwirkung zwischen persönlichen Faktoren, Umweltfaktoren und Lebensstil. Die vorgeschlagene Methode lädt dazu ein, die Begleitung von Personen mit Beeinträchtigungen zu überdenken und Heimpraktiken ganz neu zu gestalten.
MDH-PPH. Hinter dieser Abkürzung verbirgt sich das «Modèle de développement humain– Processus de production du handicap» (Modell der menschlichen Entwicklung, Entstehungsprozess der Behinderung). Das Ziel des Modells ist es, die soziale Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigungen zu erhöhen und zugleich Faktoren, die im Weg stehen, zu begrenzen oder kompensieren. Entwickelt wurde das MDH-PPH in den 1980er-Jahren in Québec von Patrick Fougeyrollas. Der Anthropologe hatte sich auf das Phänomen der Behinderung als soziales Konstrukt spezialisiert. Das MDH-PPH ist ein interaktionistischer Ansatz, der klar mit der biomedizinischen Betrachtungsweise von Behinderungen bricht und einen systemischen, situativen Ansatz vorschlägt. Das MDH-PPH sieht die Ursache für Behinderung nicht in der Person, sondern in der Wechselwirkung zwischen persönlichen Faktoren, Umweltfaktoren und dem Lebensstil der Person.
Nach der Definition des Réseau international sur le Processus de Production du Handicap (RIPPH), die vom Schweizer Netz (RSPPH) übernommen wurde, zielt das MDH-PPH «darauf ab, die Ursachen und Folgen von Krankheiten, Traumata und anderen Verletzungen der Integrität oder Entwicklung der Person zu erklären». Das Modell gilt dabei für alle Personen mit Behinderungen, «unabhängig von Ursache, Art und Schweregrad der Defizite und Beeinträchtigungen». Das MDH-PPH zeigt, wie Wechselwirkungen aus sozialem Umfeld und Umwelt zur Entstehung von Behinderungen beitragen, aber auch die soziale Teilhabe fördern können.
Lebensstil und soziale Teilhabe
In diesem Zusammenhang ist unter sozialer Teilhabe die Verwirklichung des Lebensstils zu verstehen, das heisst die alltäglichen Aktivitäten und die sozialen Rollen, die von der Person oder ihrem soziokulturellen Umfeld je nach ihren Merkmalen wertgeschätzt werden (etwa Alter, Geschlecht, soziokulturelle Identität). Damit bemisst sich die Qualität der sozialen Teilhabe daran, inwieweit der Lebensstil unter Berücksichtigung persönlicher Faktoren und Umweltfaktoren verwirklicht werden kann. Diese Qualität kann erhöht werden durch die Stärkung der Fähigkeiten der Person sowie die Kompensation ihrer Beeinträchtigungen, aber auch durch die Verringerung von Hindernissen im Umfeld, seien sie physisch, funktional oder durch negative Verhaltensweisen oder Vorurteile bedingt. Durch die Wechselwirkungen zwischen diesen drei konzeptuellen Bereichen – persönlich, Umwelt und Lebensstil– entsteht und entwickelt sich der persönliche Lebensplan der einzelnen Menschen mit Behinderungen.
Im Kanton Waadt zählt die Fondation de Vernand zum guten Dutzend Westschweizer Heime, welche die MDH-PPH-Methode anwenden. Die Stiftung wurde 1972 als gemeinnützige Organisation gegründet und begleitet täglich mehr als 600 Menschen – Kinder und Erwachsene – mit Störungen der geistigen Entwicklung und Autismusspektrumstörungen. Die Stiftung bietet ein Wohnheim, Begleitung zu Hause, Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderungen und einen Bereich für Sonderpädagogik. Sie verfügt über 31 verschiedene Standorte in 13 Waadtländer Gemeinden.
«Vorher setzten wir Ziele im Zusammenhang mit den Beeinträchtigungen und Defiziten. Heute richten sich diese Ziele an der Verwirklichung des Lebensstils der Personen aus. Das ist etwas völlig anderes.» Erwan Ugo, pädagogischer Leiter in der Fondation de Vernand und Ausbilder für das MDH-PPH-Modell.
Vor 15 Jahren stieg das Heim auf Initiative der Leitung auf das MDH-PPH-Konzept um. «Damals arbeiteten wir in lockerer Folge an Begleitungsprojekten für die Menschen mit Behinderungen bei uns, ohne Referenzrahmen und ganz uneinheitlich. Das ging in alle Richtungen», erinnert sich Erwan Ugo, pädagogischer Leiter in der Fondation de Vernand und Ausbilder für das MDH-PPH, insbesondere im Rahmen einer von der Hochschule für Soziale Arbeit Freiburg angebotenen Weiterbildung.
Schon 2009 begannen die Teams der Fondation de Vernand, das Modell zu erproben. 2017 jedoch gewann das MFH-PPH in den beiden Bereichen Pension und arbeitsagogische Begleitung Erwachsener wirklich an Boden. Jedes Jahr fanden interne Ausbildungszyklen für alle Teams im Hinblick auf die Aneignung von Methode, Sprache und Werkzeugen statt. Es wurde zudem eine vierköpfige Gruppe von Ansprechpersonen mit vier Erzieherinnen und Erziehern der unterschiedlichen Strukturen im Erwachsenenbereich gebildet. Dies gewährleistet unterschiedliche Kenntnisse, Kompetenzen und Standpunkte. «Um rund um das MDH-PPH-Modell eine Dynamik aufrechtzuerhalten und das Fortbestehen des Projekts sowie seine Verankerung in der täglichen Berufspraxis sicherzustellen, sind Ausbildung und Ansprechpersonen sehr wichtig», bestätigt Quentin Bischof, Sozialpädagoge, Mitglied der Ressourcengruppe und auch Ansprechperson für Unterstützte Kommunikation (UK). Aufgabe der Ressourcengruppe ist es auch, das Modell an den Kontext der Stiftung anzupassen, die vorhandenen Begleitwerkzeuge zu harmonisieren und die Instrumente des Modells – die Raster zur Messung des Lebensstils (MHAVIE) und der Umweltqualität (MQE) – in die vorhandene IT-Software zu den individuellen Lebensplänen zu integrieren (siehe Kasten).
Mit gesundem Menschenverstand
Auch wenn man der Fondation de Vernand und ihren Strukturen von aussen nichts von MDH-PPH ansieht, ist der Wandel dennoch offensichtlich. «Der Referenzrahmen lädt zu einer veränderten Sichtweise ein», analysiert Erwan Ugo. «Vorher setzten wir Ziele im Zusammenhang mit den Beeinträchtigungen und Defiziten. Heute richten sich diese Ziele an der Verwirklichung des Lebensstils der Personen aus. Das ist etwas völlig anderes.» Pragmatischer betrachtet, hat die Einführung des MDH-PPH eine Harmonisierung der Sprache, Verfahren und Praxis bewirkt. Bei der Arbeit wird jetzt wieder mit gesundem Menschenverstand vorgegangen, wie der pädagogische Leiter hervorhebt: «Der institutionelle Rahmen ist sehr restriktiv. Er kann Freiheit entziehen und gestattet das Eingehen von Risiken nicht immer. Die kollektive Dimension tritt an die Stelle der individuellen Beziehung. Das Modell treibt uns daher dazu, nach alternativen Wegen zu suchen, um dem Lebensstil gerecht zu werden.»
«Wir stehen nicht mehr vor und auch nicht mehr an der Seite der Person. Wir stehen hinter ihr und unterstützen sie. Die Person wird entsprechend ihren Fähigkeiten Akteurin ihrer Entscheidungen.» Quentin Bischof, Sozialpädagoge, Mitglied der Ressourcengruppe und Ansprechperson für Unterstützte Kommunikation (UK) in der Fondation de Vernand.
Um die individuellen Lebenspläne zu fördern, sind Flexibilität und viel Abstimmung zwischen den Teams und dem erweiterten Netzwerk, also den Angehörigen, erforderlich. «Das Modell zwingt uns dazu, unsere Haltung und unsere Beziehung zu den Personen mit Behinderungen zu verändern. Wir stehen nicht mehr vor und auch nicht mehr an der Seite der Person. Wir stehen hinter ihr und unterstützen sie. Die Person wird entsprechend ihren Fähigkeiten Akteurin ihrer Entscheidungen», fügt Quentin Bischof hinzu. «Das bringt Gewohnheiten ins Wanken: Macht und Rollen werden neu verteilt.» Die Fachkräfte abstrahieren also von ihren eigenen Vorstellungen, auch wenn sie manchmal etwas herumprobieren, anpassen, korrigieren, neu beginnen müssen.
Das gilt ganz besonders für sehr kleine Einrichtungen, wie dort, wo Quentin Bischof tätig ist, wo nonverbale Autisten und Autistinnen mit sehr komplexem, herausforderndem Verhalten leben. Bei der Entscheidung über die zu ergreifenden Massnahmen wendet das Begleitungsteam das MDH-PPH an – mit dem Unterschied, dass das Team gemeinsam mit der Familie und dem Netzwerk plant, was für eine grössere soziale Teilhabe der Personen Sinn macht. «Das erfordert Zeit und Organisation», stellt der Sozialpädagoge fest. «Aber das Instrument hilft uns dabei, unsere subjektive Sicht hinter uns zu lassen. Es stellt in Frage, wie wir auf die Person Rücksicht nehmen, und zwingt uns zur Überlegung, was zur Verbesserung ihrer Lebensqualität beiträgt», so Quentin Bischof.
«Heute wissen alle in der Fondation de Vernand, was Lebensstil bedeutet und wie das Modell der drei Dimensionen anzuwenden ist», merkt Erwan Ugo an. Bei dem Modell kommt es nicht darauf an, ob ein bestimmter Erfolg eintritt. Die einzigen Grenzen sind die, die sich jedem Menschen bei der Verwirklichung seines Lebensstils stellen. Auch wenn die Menschen mit Beeinträchtigungen ganzheitlich begleitet werden, ist es nicht möglich, im Rahmen des individuellen Plans ihren gesamten Lebensstil zu berücksichtigen. Die Frage an sie lautet vielmehr: Was ist für sie wichtig? Das bedeutet, Prioritäten zu setzen und Kompromisse einzugehen. Wie das alle Menschen machen müssen.
Das Modell MDH-PPH
Dem MDH-PPH zufolge beruhen Behinderungen auf der Wechselwirkung zwischen drei Bereichen: persönlichen Faktoren, Umweltfaktoren und Lebensstil, das heisst der alltäglichen Aktivitäten und der sozialen Rollen. Die Nomenklatur des Modells beinhaltet zwölf Lebensstile. Sie beziehen sich auf die alltäglichen Aktivitäten (Ortswechsel, Ernährung, Wohnform) und die sozialen Rollen (Arbeit, Freizeit, Bildung). Der Grad der Verwirklichung dieses Lebensstils wird einerseits anhand der persönlichen Faktoren beurteilt: Sie beinhalten die Merkmale einer Person, gegliedert in identitätsstiftende Faktoren (Alter, Werte, Lebensgeschichte, Familienstand), Organsysteme (auf einer Skala zwischen Integrität und Defizit) und Fähigkeiten (auf einer Skala zwischen unbeschränkter Fähigkeit und vollständiger Beeinträchtigung). Andererseits werden soziale und physische Umweltfaktoren berücksichtigt, die sich fördernd, aber auch einschränkend auswirken können. Je nach Wechselwirkung zwischen diesen Faktoren wird der Lebensstil auf einer Skala von «optimale soziale Teilhabe» bis hin zu «vollständige Behinderung» eingestuft.
Zwei Hauptinstrumente stehen Fachkräften zur Verfügung, um die soziale Teilhabe beziehungsweise den Grad einer Behinderung zu erfassen und dabei die obengenannten Faktoren zu berücksichtigen: die MHAVIE (Messung der Lebensgewohnheiten) und die MQE (Messung der Umweltqualität). Diese Instrumente können unabhängig von Alter oder kulturellem Hintergrund bei allen Personen mit Beeinträchtigungen angewendet werden. Sie sind sowohl in gedruckter Form als auch im Abonnement erhältlich. Eine deutsche Übersetzung der Instrumente, Nomenklatur und Beurteilungskriterien des Modells ist geplant. Die englische Bezeichnung des Modells lautet: Human Development Model – Disability Creation Process (HDM-DCP).
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