ANGEHÖRIGE | «Die Eltern sind immer zentral»
Droht Familien eine Fremdplatzierung, kann die Rolle der Eltern noch schwieriger werden: Einige leiden unter dem Gefühl, versagt zu haben, für ihre Kinder kommen neue Bezugspersonen ins Spiel. Damit keine Konkurrenz entsteht und sich Familien entwickeln können, sei es sehr wichtig, die Eltern rechtzeitig ins Boot zu holen, sagen Livia Voneschen und Andreas Ritter, Teamleitende Multisystemische Therapie der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel.
In einer Familie ist bereits einiges passiert, bis Kinder und Jugendliche fremdplatziert werden. Wie steht es bei diesen Familien um die Beziehung zwischen Eltern und Kindern?
Livia Voneschen: Jede Familie ist sehr individuell. Elternsein ist schwierig, besonders für Alleinerziehende, sozial stark isolierte oder beispielsweise auch für Eltern, die selbst einen riesigen Rucksack mit sich tragen: Sie wissen aus ihrer eigenen Kindheit oft gar nicht, wie Elternsein geht, wie sie Verantwortung übernehmen und die Bedürfnisse ihrer Kinder adäquat versorgen können. Zudem kennen sie oft keine Verhaltensalternativen und geraten immer in dieselben Muster und Teufelskreise. Mir ist wichtig zu betonen: Eltern geben immer das Beste, das sie können. Und Kinder lieben sie trotzdem.
Andreas Ritter: Manchmal erleben wir auch Eltern, die sehr kompetent, aber psychisch nicht in der Lage sind, für die Kinder zu sorgen. Und umgekehrt haben einige Kinder derart belastende psychische Erkrankungen, Essstörungen beispielsweise, selbstverletzendes Verhalten oder Suizidalität, dass sogar kompetente Eltern nicht mehr ohne Hilfe zurechtkommen. In solchen Fällen versuchen wir zu stabilisieren und den Umgang der Eltern mit ihren Kindern zu stärken.
«Oft können Eltern dank der Entlastung von den oft schwierigen Alltagsthemen eine ganz neue Beziehung zu ihren Kindern aufbauen.» Livia Voneschen
Was unternehmen Sie, um die Eltern-Kind-Beziehung zu stärken?
Ritter: Wir versuchen, gemeinsam mit allen herauszufinden: Warum sind wir gelandet, wo wir sind? Wie funktionieren wir? Wer hat welchen Anteil, und wie sind wir als Familie miteinander? Wo liegt die Hauptproblematik? Dabei spielt es natürlich eine Rolle, wie viele Kinder in welchem Alter eine Familie hat. Bei kleineren Kindern steht immer die Frage nach dem Kindesschutz im Vordergrund, Jugendliche können schon sehr viel mitreden und ausdrücken, was sie benötigen. Wenn diese Fragen geklärt sind, machen wir uns daran herauszufinden, wie die Eltern wieder in die Verantwortung kommen können. Das gehen wir traumatherapeutisch an, denn die Eltern tragen oft einen schweren Rucksack aus ihrer eigenen Kindheit mit sich.
Voneschen: Die Erfahrungen in Erziehung und Beziehung, die Eltern mitbringen, prägen die Interaktion mit ihren Kindern. Deshalb schauen wir analytisch hin und betrachten das ganze System – nicht wertend, sondern verstehend. Schlägt beispielsweise eine Mutter ihren Sohn, weil er ihrem schlagenden Partner sehr ähnlich sieht und sie in Stressmomenten mit dem Sohn deswegen in Panik gerät und sich nicht anders zu helfen weiss, zeigen wir das den Beteiligten auf: Wenn man solche Abläufe und die «guten Gründe» hinter den Mustern besser versteht, kann man sie verändern. Das versuchen wir in den neun Monaten Multisystemischer Therapie.
«Es soll keine Abhängigkeit vom Helfersystem entstehen.» Andreas Ritter
Und neun Monate reichen für eine grundlegende Veränderung der Eltern-Kind-Beziehung?
Ritter: In vielen Fällen ja. Die beschränkte Zeit ist sogar von Vorteil: Wir begleiten die Familien ja mehrmals pro Woche mit dem Ziel, sie so zu befähigen, dass sie danach wieder ohne intensive Unterstützung miteinander funktionieren. Neun Monate reichen oft aus, um eine wesentliche Veränderung zu erreichen. Es soll keine Abhängigkeit vom Helfersystem entstehen. Wenn allerdings Eltern nicht mithelfen wollen, funktioniert auch keine noch so lange dauernde Multisystemische Therapie.
Voneschen: Um zögerliche oder wenig motivierte Eltern zu motivieren, erkläre ich ihnen jeweils, wie wichtig die Therapie auch für sie ist, und vergleiche das mit der Situation in einem Flugzeug: Bei Turbulenzen sollen die Erwachsenen auch zuerst sich selbst die Sauerstoffmaske aufsetzen, damit sie danach ihr Kind mit Sauerstoff versorgen, also für ihr Kind sorgen können. Und manchmal kann ich die Familien auch mit dem Argument motivieren, dass sie ja in Ruhe gelassen werden möchten. Ich biete ihnen dann an, gemeinsam zu überlegen, was sie als Familie tun müssen, um die Behörden loszuwerden. Das funktioniert sehr oft! Aber wie gesagt, oft wünschen Eltern die Unterstützung sogar. Wir suchen nicht nach Schuld, sondern beziehen mit ein, dass manchmal Schicksal oder Umwelt sehr belastend sein können. Und wir suchen gemeinsam, wer was übernehmen kann, und beziehen auch das Helfersystem aus Familie, Nachbarn oder Schule mit ein.
Wann ist trotzdem der Punkt erreicht, an dem die Beziehung zu belastet ist für einen Verbleib in der Familie?
Ritter: Bei Gefährdungssituationen aufgrund massiver Gewalt oder massiver Vernachlässigung oder wenn die Schule eine Gefährdungsmeldung einreicht, weil die Eltern die Schulpflicht der Kinder nicht gewährleisten können. Das leuchtet oft auch den betroffenen Familien ein, und vielfach wünschen dann die Eltern explizit Hilfe von aussen, manchmal auch eine Platzierung. Schwieriger wird es, wenn psychische Gewalt oder emotionale Vernachlässigung im Spiel sind, die Eltern aber uneinsichtig, denn beides ist auch in schweren Fällen weniger konkret greifbar. In solchen Fällen ist es manchmal schwierig, Eltern zur Kooperation zu bewegen. Dann kann eine Platzierung sinnvoll sein.
Voneschen: Bis dahin ist aber in der Regel schon wahnsinnig viel passiert. Häufig lässt sich eine Platzierung wider Willen jedoch vermeiden, denn genau das ist unsere Aufgabe: Wir werden in einigen Fällen dann beigezogen, wenn als Alternativen ‹Hilfe von uns› oder ‹Platzierung› ins Haus stehen, damit wir die Eltern so befähigen, dass sie ihre Elternrolle wieder besser wahrnehmen können. Funktioniert das nicht und lässt sich eine Platzierung trotzdem nicht abwenden, versuchen wir, mit den betroffenen Eltern herauszuarbeiten, dass es kein Versagen ist, wenn sie Unterstützung von aussen benötigen, um eine verfahrene Situation weiterzubringen. Im Gegenteil: Wer Hilfe zulässt, tut das ja aus Liebe zu den Kindern. In beiden Fällen versuchen wir, die Eltern möglichst gut an Bord zu holen – denn so oder so sind sie enorm wichtig für den Erfolg der Massnahmen.
«Beziehungsarbeit heisst in erste Linie, dass die Eltern wieder klarer werden in ihren Kompetenzen und ihrer Elternrolle.» Livia Voneschen
Wie sieht Beziehungsarbeit mit den Eltern konkret aus?
Voneschen: Beziehungsarbeit heisst in erste Linie, dass die Eltern wieder klarer werden in ihren Kompetenzen und ihrer Elternrolle und dass die Hierarchien und Verantwortlichkeiten geklärt sind. Die Beziehung entwickelt sich dann im Lauf der Therapie häufig quasi als Nebenprodukt, wenn diese Punkte geklärt sind. Ganz wichtig ist oft gegen Ende der Therapie ein Klärungsprozess, in dem die Eltern dem Kind gegenüber klar benennen, was schiefgelaufen ist, und erklären, warum es so gekommen ist. Sie nehmen die Kinder aus der Schuldlast und übernehmen die elterliche Verantwortung.
Eltern müssen zuerst bei sich selbst hinschauen, wer sie als Person sind, wer sie als Mutter oder Vater sind, was ihr Kind benötigt und – ganz wichtig – was sie an ihrem Kind toll finden: Einigen Eltern kommt bei Beginn der Therapie kein einziger positiver Punkt in den Sinn, und beim Abschlussgespräch können sie dann viele schöne Punkte aufzählen, die sie an ihrem Kind toll finden. Das fördert die Beziehung enorm.
Ritter: Das ist ein wichtiger Prozess. Auch das Verstehen, was abläuft, gehört zur Beziehungsarbeit, und wenn man bisher totgeschwiegene Fehler einmal ausspricht, kann das bereits eine grosse Entspannung bringen. Es ist sehr wichtig, dass Unausgesprochenes klar ausgesprochen werden darf: In diesem Klärungsprozess, in dem erstmals Fehler klar benannt werden, Eltern ihrem Kind auch erklären, was sie falsch gemacht haben, staunt die Familie oft selbst, dass sie das noch nie so besprochen haben. Das allein kann heilsam sein.
Und falls es am Ende doch zu einer Platzierung kommt: Was bedeutet das für die Beziehung innerhalb einer Familie?
Voneschen: Am förderlichsten ist es, wenn es sich um eine gewollte Platzierung handelt, hinter der alle – vor allem die Eltern – dahinterstehen. Das erreichen wir, indem wir mit ihnen herausarbeiten, dass sie dadurch die Chance erhalten, ein besseres Elternteil zu werden. Kindern eine sichere Umgebung zu schenken, ist ja ein Liebesbeweis. Gelingt es uns, den Eltern das aufzuzeigen, ist das ein Riesengewinn, darauf arbeiten wir hin.
Ritter: Wir versuchen immer, die Bedürfnisse des Kindes in den Mittelpunkt zu stellen, zu sehen, was das Kind im Kontext gerade benötigt. Das ist eine spezielle Herausforderung, wenn Eltern nicht hinter einer Platzierung stehen: Dann kann das Kind in einen Loyalitätskonflikt geraten, denn es liebt seine Eltern, möchte sich aber auch im Heim wohlfühlen dürfen. Da müssen wir die Eltern in die Verantwortung bringen. Und für die Kinder ist wichtig, dass sie in eine tragfähige Institution kommen, die ihnen gute, stabile Beziehungen bieten kann, räumliche Möglichkeiten, um sich wohlzufühlen, und sichere Schutzräume.
Voneschen: Dasselbe gilt übrigens für die Mitarbeitenden einer Institution: Damit sie den Kindern und Jugendlichen einen sicheren Ort bieten können, müssen auch sie einen sicheren Ort erhalten, an dem sie immer wieder versorgt werden, müssen Inter- und Supervision erhalten, und der Personalschlüssel muss stimmen.
«Wenn Eltern nicht mithelfen wollen, funktioniert auch keine noch so lange dauernde Multisystemische Therapie.» Andreas Ritter
Kann eine Platzierung das Eltern-Kind-Verhältnis verbessern, oder ist sie eher belastend für die Beziehung?
Voneschen: Im Idealfall, wenn Eltern voll dahinterstehen und wissen, dass ihr Kind gut aufgehoben ist, gibt ihnen eine vorübergehende Platzierung die Chance, ihr Elternsein auch wieder gut wahrzunehmen und die Beziehung zu reparieren. Die Kinder wiederum können in diesem Fall zusätzliche starke neue Beziehungen zu ihren Betreuungspersonen knüpfen, ohne Angst zu haben, dass die Eltern das als Konkurrenz sehen.
Ritter: Es verlangt aber viel von Eltern, zuzugeben, dass sie nicht alles schaffen. Das ist ein Prozess. Umso wichtiger sind eine gute Vorbereitung und Einbindung: Was wünschen Eltern, wie soll der Kontakt aussehen? Elternarbeit sollte vonseiten der Institutionen sehr gepflegt werden, sogar wenn sie nicht immer gewünscht wird, und wann immer möglich, sollten positive Kontakte gefördert und alle Entscheide sehr transparent gemacht werden. Es genügt nicht, die Kinder einfach aus der Familie zu nehmen, und dann wird es besser. Das ist zu kurz gedacht: Wenn die Eltern nicht dabei sind, ist eine Veränderung kaum möglich.
Voneschen: Wichtig für alle ist, immer wieder aufzuzeigen: Eltern bleiben Eltern, es gibt keine anderen! Oft können Eltern aber dank der Entlastung von den oft schwierigen Alltagsthemen eine ganz neue Beziehung zu ihren Kindern aufbauen. Fallen die ständigen Streitereien wegen Hausaufgaben, Schulbesuch und anderen täglichen Kleinigkeiten weg, können alle viel entspannter wieder aufeinander zugehen.
Was läuft mit der Eltern-Kind-Beziehung nach einer Platzierung?
Ritter: Ist eine Rückplatzierung geplant, ist es von Vorteil, wenn diese gut begleitet wird. Sonst kann es passieren, dass nach einer ersten ‹Honeymoonphase› sehr schnell die alten Konflikte wieder aufflammen und die Familie in alte Muster zurückfällt.
Voneschen: Manchmal hilft aber den Familien tatsächlich einfach ein Unterbruch, damit sie einander neu begegnen können, damit die Eltern wieder ein Gefühl von Wirksamkeit erleben statt Überforderung. Allein diese Entspannung kann eine wertvolle Erfahrung sein. Das funktioniert längst nicht immer. Aber manchmal wirkt es fast wie ein Wunder.
Unsere Gesprächspartnerin
Livia Voneschen, M. Sc. Fachpsychologin für Psychotherapie, und Andreas Ritter, Dipl. Päd. Kinder- und Jugendpsychotherapeut, leiten das Team Multisystemische Therapie der Klinik für Kinder und Jugendliche bei den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel.
Multisystemische Therapie
Das systemische Therapieangebot hilft belasteten Familien schnell und vor Ort, dabei wird das soziale Umfeld der Familie mit einbezogen. Fachpersonen aus den Bereichen Medizin, Psychologie und Sozialpädagogik bieten während neun Monaten zwei bis vier Beratungen wöchentlich zu Hause an. Die Zuweisung erfolgt durch den Kinder- und Jugenddienst (KJD) oder die Jugendanwaltschaft (JugA).
Foto: cw