FACHKRÄFTE | «Wir brauchen ein gutes Berufsmarketing»

03.05.2023 Elisabeth Seifert

Nicht nur Pflegeheime, sondern auch Institutionen in den Bereichen Behinderung sowie Kinder und Jugendliche ­haben vermehrt Mühe, auf dem Arbeitsmarkt fündig zu werden. Monika Weder, Leiterin ARTISET Bildung, erläutert die Gründe – und was Institutionen tun können. Sie kritisiert zudem die allzu negative Kommunikation über die Arbeitsbedingungen in der Langzeitpflege.

Frau Weder, Sie haben seit vielen Jahren einen vertieften Einblick in die Personalsituation von Leistungserbringern für Menschen mit Unterstützungsbedarf: Wie beurteilen Sie die aktuelle Heraus­forderung, geeignete Fachpersonen zu finden?

Die Betriebe sind aktuell stark gefordert. Wir sind heute ja mit einem generellen Arbeits- und Fachkräftemangel konfrontiert, der auch unsere Branche trifft. Eine neuere Entwicklung ist, dass nicht nur die Langzeitpflege, sondern vermehrt auch Kinder- und Jugendinstitutionen oder Behinderteninstitutionen Mühe damit haben, geeignetes Personal zu finden, selbst dann, wenn sich diese an attraktiven Standorten befinden. Mit der Pensionierung der Babyboomer-Generationen wird sich der Mangel weiter verschärfen.
 

Die Institutionen aus allen Unterstützungsbereichen müssen sich also auf einem zunehmend ausgetrockneten Arbeits- und Fachkräftemarkt behaupten?

Ja, und erschwerend kommt hinzu, dass wir in der Gesellschaft einen Wertewandel erleben. Jüngere Leute beurteilen die Work-Life-­Balance oft anders als ältere Personen. Dies hat zur Folge, dass unsere Branche in jenen Bereichen, wo sie Dienstleistungen an sieben Tagen pro Woche während 24 Stunden erbringt, besonders gefordert ist. Im Kontakt mit den Institutionen stelle ich fest, dass die Betriebe die Herausforderungen erkannt haben und sich sehr bemühen, die Arbeitsbedingungen im Rahmen des Möglichen zu verbessern.
 

Besonders ausgeprägt ist der Fachkräftemangel in der Pflege, ganz besonders auch in der Langzeit­pflege.

Aufgrund der demografischen Entwicklung steigt der Bedarf an Pflegenden, ganz besonders an Pflegefachpersonen, in den kommenden Jahren zunehmend an. Das ist eine zusätzliche Herausforderung. Aufgrund erhobener Zahlen wissen wir schon länger, dass die Ausbildungsleistung ungenügend ist, um den Bedarf zu decken. Aus diesem Grund ist in verschiedenen Kantonen auch eine Ausbildungsverpflichtung eingeführt worden.
 

Für den Sozialbereich liegen indes kaum erhärtete Zahlen vor?

Im Sozialbereich haben wir nur wenige Zahlen. Wir wissen zum Beispiel nicht, wie viele Fachpersonen es überhaupt gibt. Es bestehen auch kaum Bedarfsplanungen, die uns zeigen würden, ob genügend Fachleute ausgebildet werden. Savoirsocial, die Dachorganisation der Arbeitswelt Soziales, ist nach einer ersten Fachkräftestudie aus dem Jahr 2016 jetzt daran, eine aktuelle Erhebung zu machen. Interessant wird unter anderem sein, zu sehen, inwieweit Fachpersonen verstärkt in den wachsenden Bereich ambulanter sozialer Dienstleistungen einsteigen, wo sie keine Nacht- und Wochenenddienste übernehmen müssen.
 

Der Fachkräftemangel gerade in der Langzeitpflege wird in der ­öffentlichen Diskussion immer wieder mit wenig attraktiven ­Arbeitsbedingungen erklärt: Was sagen Sie dazu?

Von den Arbeitsbedingungen in der Pflege wird in der öffentlichen Kommunikation oft ein sehr düsteres Bild gezeichnet. Ein Bild, das nicht der Realität entspricht, wie ich sie innerhalb der Institutionen wahrnehme. Im Sozialbereich, wo wir ähnliche Arbeitsbedingungen haben, gibt es diese negative Kommunikation nicht. Die Pflege ganz allgemein, auch die Langzeitpflege, hat ein Imageproblem. Das Problem ist meines Erachtens auch der politischen Diskussion im Umfeld der Pflegeinitia­tive geschuldet.
 

Steigen aber nicht tatsächlich zu viele Pflegende aus dem Beruf aus?

Wenn wir uns die Statistiken genauer anschauen, dann wird deutlich, dass Fachpersonen aus vielen Branchen den Job wechseln oder aus ihren angestammten Berufen aussteigen. Für einen solchen Jobwechsel gibt es zahlreiche Gründe. Man darf den Wechsel nicht einfach auf eine fehlende Attraktivität der Branche zurückführen. Zurzeit ist es zudem auch sehr leicht, einen neuen Job zu finden. Der Punkt ist ein anderer: Aufgrund der demografischen Entwicklung ist die Langzeitpflege dringend auf mehr Fachpersonal angewiesen. In einer solchen Situation vergrössert jeder und jede Einzelne, der oder die aussteigt, den Mangel.

«Vor dem Hintergrund des künftigen ­Bedarfs an Personal sind wir schweizweit zwingend auf eine
bessere Finanzierung angewiesen.»

Im Rahmen der Umsetzung der Pflegeinitiative hat das Parlament eine Ausbildungsoffensive beschlossen, um die Zahl von Pflege­fachpersonen zu erhöhen. Was erhoffen Sie sich davon?

Erwachsene, die eine Ausbildung zur diplomierten Pflegefachperson absolvieren möchten, sollen neu Ausbildungsbeihilfen erhalten. Das ermöglicht es ihnen, während der Ausbildung ihre Lebenshaltungskosten zu bestreiten. Bis jetzt war das oft ein Problem. Der Bund schüttet die entsprechenden Gelder allerdings erst dann aus, wenn die Kantone die dafür nötigen gesetzlichen Grundlagen geschaffen und ein Bedarfsplanung erstellt haben. Dazu müssen sie auch Berechnungen über die Anzahl der auszubildenden Pflegefachpersonen anstellen und die Hälfte der Finanzierung übernehmen.
 

… und viele Kantone lassen sich damit zu viel Zeit?

Jedes Jahr, in dem diese Gelder nicht fliessen, ist ein verlorenes Jahr. Ein Bericht des Bundesamtes für Gesundheit von Ende letztes Jahr zeigt ein sehr breites Spektrum: Wenige Kantone, etwa Bern und Tessin, haben ihre Aufgaben gemacht, sehr viele Kantone haben einzelne Teile der erforderlichen Gesetzgebung realisiert, und andere haben noch gar nichts. Ich gehe aber davon aus, dass sich das mittlerweile geändert hat. Hinzu kommt, dass es mit den Ausbildungsbeihilfen allein nicht getan ist.
 

Was braucht es über die Ausbildungszuschüsse hinaus?

Damit diese Ausbildungen aber wirklich erfolgreich und nachhaltig sein können, sind die Praxisbetriebe darauf angewiesen, dass ihre Ausbildungsleistung finanziert wird. Man kann ja nicht einfach eine Anzahl von Auszubildenden verordnen, sondern man muss auch dafür sorgen, dass sie in den Betrieben die entsprechende Praxisausbildung erhalten. Dafür müssen die Aufwände der Betriebe auch ausfinanziert sein. Eine wichtige Aufgabe haben überdies auch die Höheren Fachschulen und Fachhochschulen: Sie sind gefordert, flexiblere und attraktive Ausbildungskonzepte zu entwickeln, um einer breiteren Gruppe den Zugang zur Tertiärausbildung zu ermöglichen.
 

Eine Herausforderung ist, dass viele Interessierte eine Ausbildung zur Pflegefachperson im Akutbereich anstreben, nicht in der Langzeitpflege. Was ist zu tun?

Wir sind hier als Branche im Ausbildungs- und Berufsmarketing gefordert und müssen in der Öffentlichkeit noch besser bekannt machen, welche Möglichkeiten die Tertiärausbildung gerade auch in der Langzeitpflege eröffnet. In diesem Zusammenhang ist auch wichtig, dass die Betriebe mit ihren Lernenden eine entsprechende Laufbahnplanung machen. Dafür müssen sie natürlich die nötigen Ausbildungsplätze schaffen und auch für genügend Praxisbildnerinnen sorgen.
 

Die Ausbildungsleistungen nützen wenig, wenn Pflegende wieder aus dem Beruf aussteigen. Was ist zu tun, um die Fachpersonen länger im Betrieb zu halten: Braucht es mehr Geld – oder sind vor allem die Arbeitgebenden selbst gefragt?

Es braucht beides. Um als Arbeitgeber attraktive Arbeits- und Anstellungsbedingungen zu ermöglichen, ist mehr Geld erforderlich. Will man die hohe Arbeitsbelastung reduzieren, etwa mit personell besser dotierten Schichten oder einer geringeren Anzahl Stunden pro Woche oder auch mit mehr Ferientagen, dann braucht es mehr Personal. Und das kostet Geld. Die Pflegeinitiative fordert mehr Geld für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Die Ende Januar publizierten Umsetzungsvorschläge des Bundesrats lassen die Finanzierungsfrage allerdings ungeklärt. ARTISET schlägt deshalb ein Förderprogramm vor, das dafür sorgt, dass die Leistungserbringer Massnahmen für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen finanziell tragen können.
 

Die Arbeitgeberattraktivität lässt sich aber auch ohne mehr finanzielle Ressourcen steigern: Es gibt Institutionen, die kaum Probleme damit haben, passendes Personal zu finden und zu halten: Was machen diese besser als ­andere?

Solche Institutionen habe eine operative und strategische Leitung, die das Thema Arbeitgeberattraktivität schon lange priorisiert. Wichtige Bestandteile sind die Arbeitsorganisation, die Personalentwicklung oder die Betriebskultur. Oder auch die Organisationsentwicklung und die Unterstützung des Personals in schwierigen Situationen. Man muss aber fairerweise auch sagen, dass verschiedene Betriebe über bessere Rahmenbedingungen verfügen als andere. Vor dem Hintergrund des künftigen Bedarfs an Personal sind wir schweizweit zwingend auf eine bessere Finanzierung angewiesen.
 

Nicht erwähnt haben Sie bis jetzt die Höhe der Löhne. Wären bessere Löhne nicht tatsächlich ein wichtiger Hebel, um Pflegende im Beruf zu halten?

Die Löhne sind von Kanton zu Kanton sehr unterschiedlich. Es gibt einzelne Betriebe, die tatsächlich tiefere Löhne haben. In Zürich zum Beispiel hat man eine Funktionsanalyse gemacht und daraufhin Korrekturen eingeleitet. In gewissen Kantonen werden aber recht gute Löhne gezahlt. Es macht deshalb keinen Sinn, die Löhne nach dem Giess­kannenprinzip zu erhöhen. Man muss hier sehr genau hinschauen. Die Motivation durch mehr Lohn verpufft zudem schnell wieder, wenn die sonsti­gen Arbeitsbedingungen nicht ­stimmen.
 

Kommen wir auf den Sozialbereich zurück, wo sich ja auch ein Mangel an Fachkräften abzuzeichnen beginnt: Wo sehen Sie hier zentrale Verbesserungsmöglichkeiten?

Ein zentraler Aspekt für Institutionen im Bereich Behinderung sowie Kinder- und Jugendliche ist das Ausbildungs- und Berufsmarketing. Die Institutionen müssen sich gegenüber anderen Dienstleistern im Sozialbereich behaupten und deshalb deutlich machen, dass sie ein attraktiver Ausbildungs- und Arbeitsort sind. Wichtig ist auch hier, dass die Verantwortlichen rechtzeitig Laufbahnplanungen machen mit den Mitarbeitenden. Um die Arbeitgeberattraktivität zu steigern, braucht es im Übrigen die gleichen Anstrengungen wie in der Langzeitpflege auch.
 

Beispiele aus der Praxis legen nahe, dass gerade im Sozialbereich partizipative Führungsmodelle von besonderer Bedeutung sind für die Arbeitszufriedenheit. Wie erklären Sie sich das?

Es gibt keine Forschung, die das belegt. Aber auch mir fällt in den ­Diskussionen mit Institutionen und ­Fachpersonen auf, dass dies ein wichtiger Aspekt ist. Eine Erklärung ist, dass in der täglichen Arbeit der Fachpersonen gerade im Behindertenbereich die UN-BRK mit ihren Postulaten Teilhabe und Selbstbestimmung von grosser Bedeutung ist. Ein hierarchisches Führungsmodell passt da nur schlecht ins Bild.
 

Sind innerhalb der Institutionen auch Bereiche wie die Hotellerie, die Hauswirtschaft und/oder die IT vom Fach- und Arbeitskräftemangel betroffen?

Gerade Fachleute im Bereich IT sind in allen Branchen sehr gefragt, und deshalb ist es sehr schwierig, diese zu finden. Im Bereich Hotellerie stehen wir in Konkurrenz zur Gastronomie, die derzeit stark leidet, und müssen gut aufzeigen können, weshalb die Arbeit in einer Institution sehr spannend sein kann. In der Hotellerie und der Hauswirtschaft sind ein gutes Ausbildungs- und Berufsmarketing absolut zentral. Die Institutionen haben in diesen Bereichen nämlich auch Mühe, überhaupt genügend Lernende zu finden.



Monika Weder ist Leiterin Bildung der Föderation ARTISET mit ihren Branchen­verbänden CURAVIVA, INSOS und YOUVITA.


Foto: esf


Tagung: wie Arbeitgebende noch ­attraktiver werden können

Unter dem Titel «Hier arbeite ich gerne» organisiert ARTISET Bildung am 23. Juni in der Eventfabrik Bern eine zweisprachige (Deutsch und Französisch) Fachtagung für Mitglieder der Branchenverbände CURAVIVA, INSOS und YOUVITA. Am Vormittag zeigen Expertinnen und Experten aus Praxis und Forschung in Gesprächen und Vorträgen auf, was Arbeitgebende attraktiv macht und weshalb Fachkräfte in einem Unternehmen bleiben. Am Nachmittag ermöglichen vier parallele Sessions Vertiefung und Austausch. 

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ARTISET und CURAVIVA schlagen ein Förderprogramm vor, das dafür sorgt, dass die Leistungserbringer Massnahmen für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen finanziell tragen können. Medienmitteilung