ERFAHRUNG TEILEN | Brückenbauer und Hoffnungsträger
Im Schlossgarten Riggisberg BE hat Peerarbeit einen hohen Stellenwert. Die Institution hat zwei Peers mit Psychiatrieerfahrung angestellt, die von allen Seiten geschätzt werden: Sie unterstützen Bewohnerinnen und Bewohner auf dem Weg zu mehr Selbstwirksamkeit.
Die letzten Herbstblätter leuchten gelb-orange in der Sonne, hinter dem Springbrunnenteich thront das Schloss, dem die Institution Schlossgarten Riggisberg bei Bern den Namen verdankt. Langsam spazieren Pedro Codes und eine Bewohnerin über den Kiesweg, versunken in ein Gespräch. Es sieht gemütlich aus. Solche Spaziergänge beinhalten aber weit mehr: Codes ist einer der beiden festangestellten Peer-Mitarbeitenden mit Psychiatrieerfahrung, und seine Arbeit ist ein wichtiger Bestandteil im Institutionsangebot.
«Die Leute glauben mir aufgrund meiner persönlichen Geschichte einfach mehr.»
Jeden Mittwoch führt er im Schlossgarten Riggisberg drei bis fünf Beratungsgespräche durch. Der ehemalige Musikjournalist hat eine Zusatzausbildung in Psychosozialer Beratung absolviert und kann gut auf die Bewohnenden eingehen. «Das Besondere, das ich bieten kann, ist meine eigene Geschichte und mein persönliches Verständnis», fasst er zusammen. Eine rezidivierende Depression, Angststörung, Migrationserfahrung und eine Mutter mit paranoider Schizophrenie – Codes kennt sich in vielen Themen aus, und das zählt. Nicht die gleiche Diagnose, sondern die gleiche Erfahrung verbindet: «Die Leute glauben mir aufgrund meiner persönlichen Geschichte einfach mehr.»
Gespräche mit Bewohnerinnen oder Bewohnern führt er am liebsten beim Spazieren. «Da läuft auch das Hirn besser», scherzt er. Zu Beginn lässt er sein Gegenüber erzählen und versucht zu erkennen, welche Bedürfnisse ihm entgegenkommen. Er sucht nach Gemeinsamkeiten, baut eine Beziehung auf und gibt eigene Erfahrungen preis. Allerdings ist er auch darauf bedacht, sich mit Ratschlägen zurückzuhalten: «Wenn ich zu viel von mir preisgebe, nehme ich dem Gegenüber die Chance, selbst zu lernen.» Zugleich kommt das Abgrenzen auch ihm persönlich zugute. Anfangs hätten ihn belastende Erfahrungen des Gegenübers ziemlich mitgenommen. «Das ist ein Prozess, inzwischen kann ich das einordnen und weiss, dass ich auch beistehen kann, indem ich einfach nur da bin.» Wird die Belastung zu gross, erhält er Unterstützung durch ein externes Coaching. Das Wohlergehen «ihrer» Peer-Mitarbeitenden liegt Ursula von Bergen, Co-Leiterin Bereich Wohnen und Arbeiten, am Herzen: «Mir ist sehr wichtig zu sehen, wie es ihnen geht, denn sie sind wichtige Mitarbeitende unseres Beratungsteams.» Sie hält kurz inne und doppelt nach: «Ja, Peers sind für eine aufgeschlossene Institution wie den Schlossgarten sogar unverzichtbar.»
Peers: Fest im Beratungsteam
Zu dieser Überzeugung war sie gelangt, nachdem sie vor sechs, sieben Jahren zweimal externe Peers für Anlässe rund um Recovery eingeladen hatte, ein Modell, das Selbstwirksamkeit und Genesungspotenzial unterstützt. Psychiatrieerfahrene Menschen, die andere Betroffene begleiten – das mache so viel Sinn, sagt sie, dass es dringend festangestellte Peers benötige: «Diese sind Brückenbauer und Hoffnungsträger für die Bewohnenden.» Rasch reifte die Idee, je einen Mann und eine Frau anzustellen. Ursula von Bergen schaltete ein Inserat, lud die Bewerberinnen und Bewerber zu offiziellen Vorstellungsgesprächen und wählte dann zwei aus. Als 2019 im Schlossgarten die Beratungsstelle eröffnete, lautete eines der Angebote «Peers. Beratung auf Augenhöhe», darunter die Namen und Mailadressen von Pedro Codes und Daniela Wegmüller.
«Peers sollte es überall geben.»
Daniela Wegmüller, die zweite angestellte Peer, ist beim Interview nicht vor Ort, hat aber ihre Gedanken schriftlich mitgeteilt: «Die Bewohnerinnen und Bewohner erzählen im Wissen, dass ihr Gegenüber nachvollziehen kann, wovon sie reden, wenn psychische Erschütterungen die Welt auf den Kopf stellen», erklärt sie. Oft werde sie nach ihren eigenen Erfahrungen und Strategien gefragt. Ihre Arbeit empfindet sie als «anspruchsvoll und herausfordernd, aber auch inspirierend». Noch lebhaft erinnert sie sich an einen Spieltag, an dem sie einen wortkargen und zurückgezogenen Bewohner zu einem gemeinsamen Spiel einlud. «Aus einem Spiel wurden zwei, drei, vier Es war so schön zu sehen, wie er lächelte, seine Augen während des Spiels leuchteten und wie motiviert er in diesen Stunden war.» Auch die Zusammenarbeit im Team erlebt sie als sehr angenehm, es herrsche ein freundliches, vertrauensvolles Klima. «Ausserdem bekomme ich sowohl von Mitarbeitenden als auch von Bewohnenden öfters positives Feedback, wie wertvoll die Peer-Arbeit für sie ist.»
Auch Pedro Codes merkt immer wieder, wie gut die Bewohnerinnen und Bewohner auf sein Angebot ansprechen: «Sie vertrauen mir, weil ich auch zugebe, dass es mir nicht immer gut geht – und weil ich zeige, wie ich damit umgehe.» Er könne aus eigener Erfahrung den Leuten näherbringen, dass es okay sei, nicht immer okay zu sein. Auch wenn sein Gegenüber und ihn nicht dieselbe Krankheitsgeschichte verbinde, hätten sie immer ein gemeinsames Minimum: «Wir haben Erfahrung mit Leiden, Klinikaufenthalten, Medikamenten und Diagnosen», sagt er. «Und wir kennen das Gefühl, mit einem Stigma zu leben.»
Fürsprecher der Bewohnenden
Für Ursula von Bergen ist es heute selbstverständlich, dass Peers fix zum Beratungsteam gehören: «Das ist ein Zeichen dafür, wie wichtig uns Selbstwirksamkeit für unsere Bewohnerinnen und Bewohner gemäss den Forderungen der Uno-BRK ist.» Sie koordiniert die Peer-Arbeit, damit das Angebot für das ganze Haus verfügbar ist. Im Alltag muss Pedro Codes allerdings ab und zu nach der Balance seiner Aufgabe suchen: «Auch wenn ich von der Institution angestellt bin, muss ich dennoch eine kritische Haltung behalten: Ich bin der Fürsprecher der Bewohnenden!»
«Es braucht jedoch viel mehr Ausbildungs- und Arbeitsplätze für Peers.»
Ursula von Bergen nickt. Das sei sehr wichtig, sagt sie, genau diese Haltung habe auch bei ihr ein noch tieferes Verständnis für die Bewohnenden geweckt. Sie findet es deshalb auch wichtig, dass die Peers laufend Weiterbildungen besuchen, einen Austausch mit anderen Recoverygruppen beispielsweise oder Fachtagungen: «Das Angebot muss sich weiterentwickeln und die Peers damit.» Im Schlossgarten sei man sich bewusst, dass viele psychisch belastete Menschen in einem Haus nicht ideal seien und dass es einen tiefgehenden Wandel brauche: institutionelle Veränderungen, neue Wohnformen, ermöglichende Haltung, Prozessbegleitung statt Fürsorge. Und: «Peers sollte es überall geben, es braucht Menschen, die ihre Erfahrung zur Verfügung stellen und zeigen, dass man mit oder trotz bestimmten Diagnosen ein gutes Leben führen kann.» Pedro Codes seinerseits schätzt, dass er gefördert wird. «Es braucht jedoch viel mehr Ausbildungs- und Arbeitsplätze für Peers, da diese helfen, den Menschen als Individuum mit allen Teilen zu sehen.»
Im Schlosspark plätschert der Springbrunnen, Herbstblätter segeln zu Boden. Pedro Codes und die Bewohnerin haben sich für den Rest ihres Gesprächs auf eine Parkbank gesetzt, beide wirken entspannt. Eine beruhigende Umgebung sei hilfreich, erklärt Codes später. Die Leute melden sich jeweils von sich aus bei ihm, weil sie beim Eintrittsgespräch von diesem Angebot erfahren haben, oder jemand von der Pflege empfiehlt ihnen ein Peergespräch – oder fragt an, ob die Peers sich beim Bewohner melden können.
«Etliche Bewohnerinnen und Bewohner nehmen unsere Peers als Vorbild.»
Die Themen, sagt Codes, seien dann völlig offen: «Jemand wünscht, dass es ihm besser geht, ein anderer hat Sorgen, weil zwei nahestehende Personen im Spital sind, und die dritte Person hat endlich eine Therapeutin gefunden, die sie in ihrer Landessprache behandelt.» Wenn jemand etwas Wichtiges erreicht, findet er das jeweils besonders schön, solche Erfolge feiert er mit den Leuten.
Die beste Rückmeldung für ihn ist, wenn sich jemand für die nächste Woche wieder zum Gespräch anmeldet. Oft endet die Peerberatung erst, wenn jemand auszieht, so wie demnächst ein Bewohner, der seit Codes’ allererstem Arbeitstag bei ihm Unterstützung suchte. «Etliche Bewohnerinnen und Bewohner nehmen unsere Peers als Vorbild und wollen selbst auch Peers werden», weiss Ursula von Bergen.
Deshalb erhalten die Peers auch weitgehend freie Hand, wenn sie neue Ideen einbringen wie den Vorschlag, monatliche Filmabende zu veranstalten: Bis zu 20 Zuschauerinnen und Zuschauer schauen sich zusammen die Filme an, die einen Zusammenhang mit dem Recovery-Gedanken haben, wie den deutschen Kinofilm «Vincent will Meer». Nach dem Kinoerlebnis samt Popcorn bleiben viele noch zur Diskussionsrunde. «Solche Abende vermitteln Normalität, Selbstwirksamkeit und Selbstbestimmung», fasst Codes zusammen. Noch seien sie längst nicht dort, wo sie hinwollten, aber Peerarbeit sei ein guter Schritt.
Wichtige Selbstfürsorge
Draussen wird es kühler, die Sonne schickt die letzten flachen Strahlen über das Dach des Wohnhauses. Pedro Codes’ Beratungsspaziergang ist zu Ende. Er verabschiedet sich von der Bewohnerin, dann setzt er sich kurz zu Ursula von Bergen an einen Tisch, um ein paar offene Fragen zu klären. Danach hat er Feierabend. Und Zeit, sich um seine eigenen Themen zu kümmern: Fitness, Gesundheit und persönliche Weiterentwicklung als Mensch liegen ihm am Herzen, dabei kann er sich nach den Gesprächen erholen.
Nach einer grossen Krise vor fünf Jahren achtet der 44-Jährige noch mehr darauf, seine Wünsche und Träume zu verwirklichen: Wenn er gut auf sich und seine Bedürfnisse achtet, hilft das nicht nur ihm, sondern auch den Bewohnerinnen und Bewohnern des Schlossgarten Riggisberg. Viele freuen sich schon auf ihren wöchentlichen Peer-Termin, um sich von Pedro Codes oder Daniela Wegmüller und ihrem Weg anregen zu lassen.
Foto: Marco Zanoni