«Kosten müssen transparent ausgewiesen werden»
Das Monitoring zur Situation des Pflegepersonals belege die Notwendigkeit einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen, betonen CURAVIVA-Geschäftsführerin Christina Zweifel und Catherine Bugmann, Projektleiterin Politik von ARTISET. Sie gehen hart ins Gericht mit dem Entwurf des Bundes zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen: Der Bund sage nichts über die Kosten und deren Finanzierung.
Mit dem nationalen Monitoring des Pflegepersonals, das Anfang Juli lanciert worden ist, soll über die Jahre die Wirksamkeit der Umsetzung der Pflegeinitiative überprüft werden. – Welches Bild zeigt sich jetzt, zu Beginn der Umsetzung?
Catherine Bugmann: Die Daten belegen einen Fachkräftemangel, den man ernst nehmen muss: Die ausgeschriebenen Stellen haben sich seit 2018 praktisch verdoppelt. Man sieht aus den Zahlen auch, dass die Alters- und Pflegeheime bei den Löhnen aufgrund unterschiedlicher Tarife weniger Spielraum haben als die Spitäler und die Spitex.
Die Heime haben innerhalb der Pflegebranche also besonders viele Nachteile?
Bugmann: Das macht für sie die Situation in einem ausgetrockneten Arbeitsmarkt besonders schwierig. Die Verantwortlichen wünschen sich deshalb im Hinblick auf die Löhne gleich lange Spiesse mit den anderen Akteuren. Wir haben eigentlich gehofft, dass der Bundesrat diese Ungleichheit beheben wird im Rahmen der zweiten Etappe zur Umsetzung des neuen Pflegeartikels, bei der es um eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen geht. Das aber ist nicht der Fall.
Christina Zweifel: Was das nationale Monitoring betrifft: Die Daten und die Fakten sind nicht neu, aber wichtig ist, dass wir jetzt das erste Mal national aufbereitete Daten zur Personalsituation haben. Entscheidend ist für mich besonders die Entwicklung dieser Daten in den nächsten Jahren. Damit haben wir einen guten Gradmesser für die Wirksamkeit der Massnahmen, die im Rahmen der Umsetzung der Pflegeinitiative getroffen werden.
Das nationale Monitoring belegt deutlich die Notwendigkeit der Pflegeinitiative.
Bugmann: Die Umsetzung der Pflegeinitiative ist vom Konzept her gut und richtig aufgebaut. Zuerst tragen die Alters- und Pflegeheime im Rahmen der Ausbildungsoffensive dazu bei, mehr Pflegepersonal auszubilden, und dann geht es in einer zweiten Etappe darum, die Arbeitsbedingungen und auch die Weiterentwicklung der Pflegefachpersonen zu verbessern, sodass die Pflegenden auch bleiben.
Zweifel: Das Monitoring des Pflegepersonals belegt klar den Handlungsbedarf in verschiedenen Bereichen. Wichtig scheint mir gerade auch der Stellenwert der Pflege und ganz besonders der Langzeitpflege in der Gesellschaft. Daran müssen wir als Branche arbeiten, um die Herausforderungen der Zukunft angehen zu können.
Anfang Juli ist die erste Etappe der Pflegeinitiative in Kraft getreten: Die Kantone werden verpflichtet, die praktische Ausbildung in den Einrichtungen zu fördern und Studierende mit Ausbildungsbeiträgen zu unterstützen. Was erhoffen Sie sich von solchen Massnahmen?
Zweifel: Diese Massnahmen sind wichtig, sie stellen die Heime aber zum Teil auch vor Herausforderungen. Ich möchte aber unterstreichen, dass sehr viele unserer Mitglieder schon in der Vergangenheit viel in die Ausbildung von Pflegefachpersonen investiert haben.
Inwiefern bedeuten die Massnahmen für die Heime eine Herausforderung?
Zweifel: Problematisch ist für mich insbesondere, wenn die Ausbildungsverpflichtung mit einem Bonus-Malus-System verbunden wird. Unzufrieden sind die Heime vor allem dann, wenn sie eine Busse bezahlen müssen, weil sie nicht genügend Fachpersonen ausbilden. Dies, obwohl es oft sehr schwierig ist, Auszubildende zu finden. Zudem muss man auch bedenken, dass es einen Mangel an Berufsbildenden und Praxisbildenden gibt. Diese sind aber einerseits auch ausschlaggebend, um überhaupt die geforderte Anzahl Pflegefachpersonen auszubilden, und andererseits spielen sie auch eine tragende Rolle bei der Ausbildungsqualität und tragen somit auch zur Zufriedenheit der Auszubildenden bei.
«Die in der Vernehmlassungsvorlage vorgeschlagenen Zuschläge, etwa für Nachtarbeit oder Schichtarbeit, finden wir gut – unter der Voraussetzung, dass sie finanziert sind.» Catherine Bugmann, Projektleiterin Politik von ARTISET
Welche Hoffnungen knüpfen Sie an die von den Kantonen geleisteten Ausbildungsbeiträge für Studierende?
Zweifel: Diese Massnahme ist bei den Leistungserbringern unbestritten, weil die Finanzierung geregelt ist und der Kanton sie übernimmt. Es kann aber durchaus sein, dass Studierende die Ausbildung lieber in den Spitälern machen, weil hier die Löhne höher sind als in den Pflegeheimen. Deshalb braucht es in diesem Bereich unbedingt gleich lange Spiesse.
Bugmann: Wie bei der Förderung der praktischen Ausbildung gibt es auch bei den Ausbildungsbeiträgen unterschiedliche kantonale Umsetzungen. Das entspricht unserem Föderalismus. St. Gallen will zum Beispiel, dass in gewissen Fällen die Ausbildungsbeiträge zurückgezahlt werden.
Zweifel: Je nach Kanton sind die Ausbildungsbeiträge zudem unterschiedlich hoch. Das erklärt sich mit den jeweiligen Lebenshaltungskosten. Umliegende Kantone kommen dadurch unter Druck.
Bugmann: Die Pflegeheime stehen bei der Rekrutierung von Personal vor einer doppelten Herausforderung: Zum einen gibt es den kantonalen Wettbewerb und zum anderen den Wettbewerb zwischen den Versorgungsbereichen. Hier bildet die Kampagne «Karriere machen als Mensch» ein wichtiges Instrument, um die Vorteile und Chancen der Langzeitpflege besser bekannt zu machen.
Während acht Jahren wollen Bund und Kantone die Massnahmen je zur Hälfte mit bis zu einer Milliarde fördern. Und was ist dann?
Bugmann: Mit dem nationalen Monitoring Pflege haben wir ein gutes Instrument, um die Wirkung der Massnahmen zu messen. Wir sehen dann auch, wo allenfalls weitere Massnahmen ergriffen werden müssen. Als Vertreter der Interessen unserer Mitglieder werden wir die Situation genau beobachten und bei den Behörden Druck machen, wenn wir Handlungsbedarf sehen.
Zweifel: In der föderal organisierten Schweiz wird die Milliarde nicht gleichmässig verteilt sein. Wenn ein Kanton höhere Beiträge zahlt, zahlt auch der Bund mehr. In gewissen Kantonen dürfte sich die Situation stärker verbessern als in anderen, sofern es sich um die richtigen Massnahmen handelt. Wir werden genau beobachten, wo es am besten läuft. Und: Vor Ablauf der acht Jahre werden wir uns gemeinsam mit unseren Kantonalverbänden dafür einsetzen, dass die wirksamen Massnahmen, die langfristig finanziert werden müssen, in die Regelfinanzierung übergehen.
Ende August endete die Vernehmlassung für die Umsetzung der zweiten Etappe des Pflegeartikels, bei der es vor allem um die Arbeitsbedingungen geht. Wie fällt Ihr Urteil insgesamt zu den vorgeschlagenen Massnahmen aus?
Bugmann: Wir schätzen es sehr, dass der Bund sich dafür einsetzt, die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Er schlägt dazu eine Reihe von arbeitsrechtlichen Massnahmen vor, von denen einige unserer Meinung nach den Gestaltungsfreiraum der Arbeitgebenden allerdings zu stark einschränken. Unsere hauptsächliche Kritik bezieht sich aber auf die Finanzierung. Der Bund sagt nichts über die Kostenfolgen der Massnahmen und die Finanzierung.
Der Bund schreibt, dass die Finanzierung durch eine interne Umverteilung erfolgen soll. Was sagen Sie dazu?
Zweifel: In den Alters- und Pflegeheimen geht dies nicht. Was mich vor allem stört: Die Grundannahme eines solchen Satzes ist, dass es genug Geld im System gibt und die Gesundheitseinrichtungen einfach besser wirtschaften müssten. Das ist eine Anmassung gegenüber unseren Mitgliedern. In einer so stark regulierten Branche kann man nicht einfach umverteilen.
Bugmann: Wir stellen bereits seit Jahren eine stattliche Finanzierungslücke bei den Heimen fest. Die Gelder der Versicherer und der Kantone als Restfinanzierer reichen nicht, um die Kosten zu decken.
Zu den arbeitsrechtlichen Massnahmen, die der Bund vorschlägt, gehören diverse Zuschläge, auch eine Reduktion der (Höchst-)Arbeitszeiten. Das sind doch sehr vernünftige Massnahmen?
Bugmann: Die in der Vernehmlassungsvorlage vorgeschlagenen Zuschläge, etwa für Nachtarbeit oder Schichtarbeit, finden wir gut – unter der Voraussetzung wie gesagt, dass sie finanziert sind. Vorsicht ist aber angebracht bei anderen Vorschlägen, welche die Höchstarbeitszeit und die wöchentlichen Normalarbeitszeiten senken oder auch spezifische Vorgaben zu den Dienstplänen machen. So sollen zum Beispiel die geteilten Dienste nicht mehr möglich sein.
Dabei handelt es sich aber doch um Massnahmen, welche die Mitarbeitenden entlasten?
Zweifel: Die Politik zeigt ein grosses Interesse an einer Verbesserung der Situation, was wir begrüssen. Das Problem besteht aber darin, dass sie dies mit sehr viel Regulierungen erreichen wollen. Wenn der Bundesrat aber die Arbeitszeiten reguliert und die Art der Dienstpläne vorschreibt, verlieren die Arbeitgebenden und auch die Arbeitnehmenden die Flexibilität, um die für sie passenden Modelle zu finden. Betriebe brauchen den nötigen Spielraum, um auf die individuellen Bedürfnisse vor Ort eingehen zu können. Zum Beispiel können geteilte Dienste für bestimmte Mitarbeitende attraktiv sein.
Bugmann: Arbeitgebende bieten heute bereits vor dem Hintergrund des Arbeitskräftemangels ihren Mitarbeitenden zeitgemässe Arbeitsmodelle an und schaffen auch ein gutes Arbeitsumfeld. Regulierungen sollen zudem zum Ziel haben, den Mitarbeitenden wirklich zu helfen. Bei etlichen der vorgeschlagenen Massnahmen ist aber eher eine Schlechterstellung zu befürchten.
Inwiefern führt eine Reduktion der Arbeitszeit zu einer Schlechterstellung?
Bugmann: In einer Zeit des Personalmangels wird auf diese Weise die Arbeit auf noch weniger Schultern verteilt, was zu Überlastung führen kann. Sobald man die Arbeitsstunden heruntersetzt, braucht es mehr Personal. Das Problem aber ist, dass wir dieses nur schwer finden.
Zweifel: Die Ausbildungsoffensive soll helfen, künftig mehr Personal zu finden. Die demografische Alterung stellt uns jedoch vor weitere Herausforderungen. Der Fachkräftemangel wird durch die Pensionierung der Babyboomer in den nächsten Jahren noch grösser. Und wenn wir jetzt noch überall und gleichzeitig die Arbeitszeit heruntersetzen, funktioniert das nicht. Wir können noch so viel ausbilden, wir werden einen Mangel haben.
Wenn man mehr Personal einstellt, hat das natürlich dann auch wieder mehr Kosten zur Folge.
Zweifel: Und diese Folgenabschätzung ist nicht gemacht worden. Das ist unsere hauptsächliche Kritik an der Vorlage. Bessere Arbeitsbedingungen sind wichtig, sie müssen aber auch entgolten werden. Zu diesem Zweck müssen die Kostenfolgen transparent ausgewiesen werden. Meine Erwartung wäre deshalb gewesen, dass der Bund ein Preisschild an die Massnahmen hängt. Dann könnten sich nämlich die Kantone und Versicherer darauf einstellen und auch eine Kosten-/Nutzenanalyse machen. Der Bund scheute sich aber davor.
Diese Scheu erklärt sich wohl mit der Angst davor, dass sich die Krankenversicherer an den Kosten beteiligen müssten und dadurch die Prämien steigen?
Zweifel: Der Bund stellt sich auf den Standpunkt, dass er keine Kompetenz dafür hat, die angemessene Abgeltung im Bereich der Pflege zu regeln. Diese Argumentation ist nicht nachvollziehbar. Aufgrund der Verfassung steht der Bund gemeinsam mit den Kantonen in der Pflicht, für eine angemessene Abgeltung der Pflegeleistungen zu sorgen. Der Bund regelt diese Abgeltung über die Krankenversicherung, und die Kantone beteiligen sich mittels Restfinanzierung daran.
Um die arbeitsrechtlichen Massnahmen zu finanzieren, fordern Sie also eine Anpassung der Pflegefinanzierung?
Zweifel: Um die Umsetzung des Gesetzes sicherzustellen, fordern wir vonseiten ARTISET eine Erhöhung des Beitrags der obligatorischen Krankenversicherung (OKP), sobald die Vorlage in Kraft tritt. Wir haben dazu einen konkreten Vorschlag erarbeitet. Dazu gehört auch, dass die Kantone die übrigen Mehrkosten im Rahmen der Restfinanzierung übernehmen.
Die Kantone, so ist anzunehmen, sind mit diesem Vorschlag einverstanden?
Zweifel: Die Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK) bemängelt die fehlende Klarheit bei der Finanzierung. Die Arbeitgeberverbände sehen es wie ARTISET, die Finanzierung muss durch die Kostenträger sichergestellt sein.
Bugmann: Wir brauchen eine Finanzierung der arbeitsrechtlichen Massnahmen. Ohne eine solche Finanzierung droht die Vorlage kontraproduktiv zu werden. Sie weckt nämlich Erwartungen auf eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen, die in der Umsetzung daran scheitert, dass die Leistungserbringer sie nicht finanzieren können. Das führt zu Frust auf allen Seiten.
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