GRENZVERLETZUNGEN | Mit Konflikten ­umgehen lernen – dank dem Bündner Standard

19.09.2024 Reka Schweighoffer

Der Bündner Standard, ursprünglich 2011 für Institutionen im Kinder- und Jugendbereich entwickelt, findet nun auch bei der Prävention von Gewalt und Grenzverletzungen im Altersbereich Anwendung. Erstmals wurde der Bündner Standard jetzt in einem Alters- und Pflegeheim eingeführt. Dominique Cerveny, Leiterin des Alters- und Pflegezentrums Serata in Zizers, erzählt von ihren Erfahrungen.

Im Alters- und Pflegezentrum Serata werden rund hundert pflegebedürftige Betagte und an Demenz erkrankte Menschen betreut. Das Pflegeheim liegt im idyllischen Zizers, eingerahmt von Bündner Bergen und mitten in einer gepflegten Gartenanlage. Es ist Teil der Stiftung «Gott hilft».

Die Stiftung «Gott hilft» entwickelte 2011 den Bündner Standard für Institutionen des Kinder- und Jugendbereichs. Das Produkt wurde ein übersichtliches und anwendungsfreundliches Hilfsmittel, welches dabei unterstützt, Grenzverletzungen zu vermeiden oder professionell aufzuarbeiten. Vor fünf Jahren hat die Stiftung entschieden, dass sie eine zielgruppenunabhängige Version vom Bündner Standard erstellt, die auch in anderen sozialen Einrichtungen genutzt werden kann und online verfügbar ist.

Bei einem Austausch innerhalb der Stiftung entwickelte sich bei Dominique Cerveny, der Institutionsleiterin des Alters- und Pflegeheims Serata, ein grosses Interesse daran, den Bündner Standard auch in ihrer Institution einzuführen. Auf den ersten Blick scheinen Pflege und Pädagogik zwei völlig unterschiedliche Arbeitsfelder zu sein. Wenn man jedoch genauer hinsieht, gibt es gemäss Dominique Cerveny viele Parallelen zwischen der Phase der Kindheit sowie Jugend und der letzten Lebensphase. Die grösste Gemeinsamkeit sei, dass es sich um Menschen handelt, die aus verschiedenen Gründen Unterstützung benötigen. Und überall dort, wo Menschen gemeinsam unterwegs sind, können herausfordernde Situationen entstehen.

Besonders motivierte Dominique Cerveny an der Einführung des Bündner Standards, dass Gewalt und Grenzüberschreitungen Themen sind, die alle Mitarbeitenden betreffen. Im Alterszentrum Serata wurden bis anhin ausschliesslich Mitarbeitende aus der Pflege und Betreuung zum Umgang mit Gewalt geschult, während das Personal aus dem Service oder der Reinigung traditionell keine Schulung erhielt. Das sei schade, denn diese hätten genauso Kontakt mit den Bewohnenden. Es war also eine grosse Chance, dieses Pilotprojekt als gesamten Betrieb in Angriff zu nehmen. Dies, obwohl bis zu diesem Zeitpunkt kaum jemals ein Bericht über eine Grenzüberschreitung bei der Institutionsleiterin eingegangen ist.

Ein erstes Verständnis entwickeln

Im Frühling 2023 fand der Kick-off des Projekts «Bündner Standard» statt. In den Tüten auf den Sitzplätzen der Mitarbeitenden war das Popcorn für den Kick-off-Anlass mit Ras el Hanout gewürzt, einer traditionellen Gewürzmischung aus Nordafrika, die aus bis zu 30 verschiedenen Gewürzen besteht. Genauso reichhaltig wurde das Projekt Bündner Standard angekündigt. Weil der gesamte Betrieb mit dem Bündner Standard arbeiten würde, sollte jeder und jede Mitarbeitende seine eigenen Erfahrungen einbringen. So tauchte der ganze Betrieb entlang der zehn Kernelemente des Bündner Standards ins Thema ein und bekam ein erstes Verständnis für Grenzverletzungen und die dazugehörenden Facetten.

Für die Begleitung der Einführung wurde ein interdisziplinäres, fünfköpfiges Prozessbegleitungsteam gebildet, das bereits Erfahrungen mit der Implementierung des Bündner Standards aus dem Kinder- und Jugendbereich mitbrachte. Gemein­sam wurde beschlossen, dass im ersten Projekthalbjahr die Grundlagen erarbeitet werden, während im zweiten Halbjahr der Bündner Standard im Haus eingeführt und gefestigt wird.

Das Prozessbegleitungsteam erklärte den Mitarbeitenden des Alters- und Pflegezentrums beim Kick-off-Event zudem sehr anschaulich, was der Bündner Standard kann und bezweckt. Besonders spannend war das Aufzeigen der unterschiedlichen Sphären des Miteinanders, in denen sich Personen im Pflegeheim bewegen: Für Mitarbeitende eines Pflegeheims ist ihr Arbeitsort eine öffentliche oder professionelle Sphäre, während es für die Bewohnenden ihr Zuhause ist, und sie sich somit in ihrer Privat- und Intimsphäre bewegen. Es kommt also rein deshalb schon zu Grenzverletzungen, weil sich Personen im Pflegeheim in unterschiedlichen Sphären mit unterschiedlichen Intentionen begegnen.

Grenzüberschreitungen durch Bewohnende

Intern wurde eine fünfköpfige Projektgruppe gegründet, in der Vertretende aller Arbeitsbereiche und unterschiedlicher Hierarchiestufen mitgemacht haben. Gemeinsam wurden vier Workshops für die Mitarbeitenden des «Serata» organisiert, in denen Situationen aus dem Alltag aufgearbeitet und diskutiert wurden. Die Mitarbeitenden begannen gemeinsam zu reflektieren, welche konflikthaften Situationen in letzter Zeit vorgefallen sind und wie sie in Zukunft besser damit umgehen könnten. Dabei sei aufgefallen, dass es nicht nur Grenzüberschreitungen von Seiten des Personals gebe, wie ungeduldige Bemerkungen, sondern es häufiger als erwartet auch zu grenzüberschreitendem Verhalten durch Bewohnende kommt. «Oft entsteht grenzverletzendes Verhalten auf Seiten der Bewohnenden durch ein nicht gestilltes Bedürfnis» so Cerveny. «Gerade bei Demenzpatienten, die sich nicht mehr gut verbalisieren können, kommt es häufiger zu aggressivem Verhalten gegenüber dem Personal. Aber dahinter steckt immer ein nicht gestilltes Bedürfnis oder das Nicht-Verstehen einer Situation.»

«Das Thema Grenzüberschreitungen haben wir erfolgreich aus der Tabu-Ecke geholt, und es gehört nun zum Alltag, grenzverletzendes Verhalten zu ­benennen.» Dominique Cerveny. Institutionsleiterin

Sensibilisierung für den Schweregrad

Die Erarbeitung des Einstufungsrasters ist das Herzstück des Bündner Standards, ihm widmeten Dominique Cerveny und ihre Mitarbeitenden besonders viel Aufmerksamkeit. Im Raster wird die Einteilung von Grenzverletzungen in vier Stufen vorgenommen, von «Alltäglichen Situationen» über «Leichte Grenzverletzung» und «Schwere Grenzverletzung» bis hin zu «Massiven Grenzverletzungen». Zudem gibt es eine Einteilung in die verschiedenen Ebenen – also in die Ebene der Bewohnenden untereinander, Bewohnende gegenüber Mitarbeitende oder Mitarbeitende gegenüber Bewohnenden. Zu den jeweiligen Grenzverletzungen, etwa Beleidigung oder Diebstahl, gibt es im Raster Massnahmen.

Während eines Monats hat das Pflegezentrum Beispiele zu grenzverletzendem Verhalten über alle Arbeitsbereiche hinweg gesammelt. «Wir haben für jeden Bereich eine Mappe mit dem Einstufungsraster und Merkblättern gemacht, damit die Mitarbeitenden nachschlagen können. Uns war besonders wichtig, die Handlungen ganz präzise zu benennen und auszuformulieren. Ausserdem haben wir uns zusammen überlegt, was tolerierbare und nicht tolerierbare Handlungen sind. Was darf man bei uns, was gehört zum Pflegeauftrag, was darf man nicht. So sind rund 40 Beispiele entstanden», so Cerveny. Diese Beispiele wurden gemeinsam mit den besprochenen Massnahmen ins Einstufungsraster eingetragen und auf den Stationen und den Arbeitsbereichen hinterlegt.

Eine Meldestelle für Mitarbeitende

Seit November 2023 arbeitet die ganze Institution mit dem neuen Instrument. In jedem Arbeitsbereich gibt es nun eine grüne Mappe mit den erarbeiteten Dokumenten, unter anderem mit dem Einstufungsraster und Merkblättern. Wöchentlich findet im Team ein Austausch statt, und monatlich gibt es Rapporte, um sich über grenzverletzende Erfahrungen auszutauschen. Hilfreich sei zudem die Einrichtung einer unabhängigen, internen Meldestelle für die Mitarbeitende – in Pflegezentrum Serata handelt es sich hierbei um eine Fachperson Aktivierung. Dieses Angebot empfindet Dominique Cerveny als unbedingt nötig, da sich die Mitarbeitenden so auch im geschütztem Rahmen Unterstützung bei heiklen Themen holen können.

«Das Thema Grenzüberschreitungen haben wir erfolgreich aus der Tabu-Ecke geholt, und es gehört nun zum Alltag, grenzverletzendes Verhalten zu benennen», meint Dominique Cerveny. Dabei helfe insbesondere die gemeinsam entwickelte Sprache. Viele Mitarbeitende seien nun sensibilisiert und viel eher dazu bereit, sich im Team Unterstützung zu holen – auch zum Zweck des Selbstschutzes.

Dank den Kommunikationsgefässen wie dem Rapport und den Teammeetings hat man nun auch Zeit und das Bewusstsein, brenzlige Situationen aufzuarbeiten: Eine Bewohnerin wehrte sich zum Beispiel am Morgen vehement gegen die Körperpflege und wurde verbal ausfällig. Dies wurde bis anhin zur Kenntnis genommen und es kostete alle Beteiligten viel Energie, die Bewohnerin doch zur Körperpflege zu bewegen. Im Rahmen des Bündner Standards wurde diese Situation evaluiert und festgestellt, dass die Bewohnerin sich früher immer abends geduscht hat. Die Körperpflege wurde deshalb auf den Abend gelegt und funktionierte ab dann ohne Auseinandersetzungen. Ohne den Bündner Standard Rapport hätte es womöglich länger gedauert, diese und andere Situation anzusprechen und gemeinsam eine Lösung zu finden. Ein besonderes Augenmerk liegt nun auch darauf, schnell zu handeln, wenn vermeintlich leichte Grenzverletzungen – wie abwertende Bemerkungen oder Drohungen – zeitlich gehäuft auftreten.

Eine Kultur des Hin- und Nicht-Wegschauens

«Bereichsübergreifend ein thematisches Projekt zu realisieren, ist zwar bereichernd, aber immer auch eine Herausforderung. Die Denkart ist in den Arbeitsbereichen unterschiedlich, der Umgang mit dem Dokumentieren ist ebenfalls herausfordernd, da es nicht in allen Bereichen eigens dafür ausgelegte Systeme gibt. Da sind wir noch am Tüfteln», sagt Dominique Cerveny.

Die Herausforderung sei, alle Mitarbeitenden im Boot zu haben. Dass das Alters- und Pflegezentrum Serata den Bündner Standard mit eigenen Beispielen selbst erarbeitet hat, habe geholfen, die Mitarbeitenden für das Projekt zu begeistern. «Wenn man beteiligt ist, fühlt man sich automatisch auch als Teil davon.» Neu werden im Rahmen des Projektes weitere Themen bearbeitet, zum Beispiel die Einbindung der Nachtwachen sowie die Erweiterung auf grenzüberschreitendes Verhalten unter Mitarbeitenden. «Wir haben vor und nach der Einführung des Bündner Standards eine Evaluation gemacht, und auf dem Papier haben die Fälle von Grenzüberschreitung seit letztem Jahr exponentiell zugenommen. Also ist es gefährlicher bei uns geworden?», fragt Cerveny mit einem Augenzwinkern. «Nein, natürlich nicht! Wir haben unterdessen eine Kultur des Hinsehens entwickelt und sind jetzt mit dem Thema professionell und selbstbewusst unterwegs.»


Der Bündner Standard

Der Bündner Standard ist ein Instrument, das im Kinder- und Jugendbereich entwickelt wurde, um Grenzverletzungen zu vermeiden oder professionell aufzuarbeiten. Die neue Version des Standards ist online verfügbar und kann auch für andere Institutionen genutzt werden, beispielsweise für Institutionen für Menschen mit Behinderung oder für Pflegeheime. Das Einstufungsraster, welches die Grenzverletzungen auf allen Beziehungsebenen definiert, lässt sich für jede Organisation individuell anpassen.

Ein Video zur Einführung des Bündner Standards im Pflegezentrum Serata


 

Foto: Serata