INKLUSION | Vertrauen fördert den Selbstwert
Im Pflegeheim Wendelin geben sich seit 35 Jahren Mitarbeitende mit und ohne Beeinträchtigung die Klinke in die Hand. Diese Personalpolitik sorgt bei allen Beteiligten für Glücksmomente. Und sie zeigt das grosse Potenzial auf, das Pflegeeinrichtungen bei der Inklusion haben können.
Die schmalen Gänge im Untergeschoss des Pflegeheims Wendelin erinnern an ein Labyrinth. Nur wer sich auskennt, nimmt die richtigen Abzweigungen. Kathrin Fuchs geht zielstrebig durch den Korridor, um an ihren Arbeitsort zu gelangen. Sie betritt die Wäscherei, wo nicht nur die vielen farbigen Kleider der Bewohnerinnen und Bewohner eine gute Stimmung verbreiten, sondern auch die Herzlichkeit ihrer Arbeitskolleginnen.
Die 62-Jährige gehört seit dreieinhalb Jahren zum Team der Hauswirtschaft im Pflegeheim Wendelin. «Ich bin glücklich, dass ich hier arbeiten kann», sagt sie. Ihre Aufgaben sind von Tag zu Tag unterschiedlich und trotzdem fix eingeplant: Am Montag reinigt sie jeweils die Kisten, in denen die Wäsche transportiert wird. Am Dienstag gilt es den Korridor im Untergeschoss zu staubsaugen – und so weiter. Jeden Tag fällt etwas anderes an. Am liebsten sortiere sie die Berufswäsche der Pflegenden, verrät Kathrin Fuchs.
Diese Kleider wecken in ihr Gefühle und Erinnerungen. «Ich bin gelernte Pflegeassistentin», bemerkt sie. 24 Jahre lang habe sie in dieser Funktion in einem Pflegeheim gearbeitet. Bis zu jenem Tag, als es plötzlich nicht mehr ging.
Positive Erfahrungen
Im Wendelin, wie man das Pflegeheim in Riehen umgangssprachlich nennt, sind zurzeit acht Personen beschäftigt, die teilleistungsfähig sind. «Sie haben entweder eine psychische oder geistige Beeinträchtigung und sind deshalb nicht zu 100 Prozent arbeitsfähig», sagt Anita Achermann, Leiterin Hauswirtschaft. A
lle betroffenen Mitarbeitenden würden ergänzend zum Erwerbseinkommen eine Rente oder Teilrente der Invalidenversicherung (IV) beziehen.
«Ich wusste sofort: Das will ich!»
Arbeit und Team sind wichtig
Eine von ihnen ist Kathrin Fuchs. Als sie damals nach jahrelanger Tätigkeit aus dem Arbeitsprozess ausschied, war sie lange arbeitsunfähig. Sie wurde dann von der IV an die Organisation «Kiebitz» in Basel vermittelt, die Menschen bei der beruflichen Wiedereingliederung unterstützt. Dort absolvierte sie ein Arbeitstraining in der Wäscherei und entdeckte dabei ihre Leidenschaft für das Bügeln. «Ich wusste sofort: Das will ich!», sagt sie. Danach klopfte sie im Wendelin an. Anita Achermann erinnert sich gut daran und freut sich, dass die Zusammenarbeit so positiv verläuft. Erstaunlich sei das indessen überhaupt nicht, findet sie. «Wir beschäftigen in diesem Pflegeheim seit 35 Jahren Menschen mit Beeinträchtigungen.» Die Erfahrungen, die man mache, seien rundum positiv.
Sandra Fischer wird bald ihren 50. Geburtstag feiern. Seit 30 Jahren geht sie als Mitarbeiterin im Wendelin ein und aus. Die Frau mit den roten Haaren erklärt, dass sie als Springerin tätig sei. «Ich gehöre zum Team der Reinigung und bin überall im Einsatz», schildert sie. Vom ersten bis zum vierten Stock – und auch die Stationsbüros müssten geputzt werden.
«Ich gehöre zum Team der Reinigung und bin überall im Einsatz.»
Besonders gerne mag sie den Kontakt zu den Bewohnerinnen und Bewohnern. Manchmal hilft sie auch beim Frühstücksservice aus. «Wenn ich nicht mehr weiss, was die Leute gerne essen, helfen sie mir immer weiter», sagt die Mitarbeiterin. Sandra Fischer hat aufgrund einer kognitiven Beeinträchtigung eine Sonderschule besucht und anschliessend in der gleichen Institution eine Ausbildung im Bereich Hauswirtschaft absolviert.
Unmittelbar nach dem Abschluss konnte sie im Pflegeheim Wendelin ihre Arbeitsstelle antreten. Das war 1992. Sie bezieht eine IV-Rente und Ergänzungsleistungen sowie eine bescheidene Erwerbsentschädigung. «Meine Arbeit und das Team bedeuten mir sehr viel», sagt sie. Und ergänzt: «Wenn ich müde bin, freue ich mich aber auch über den Feierabend.»
«Das sind Arbeitsplätze. Bei uns gibt es dafür keine extra Bezeichnung.»
Die Arbeitsabläufe sind ideal
Inklusion in der Arbeitswelt scheint dann geglückt zu sein, wenn aus Mitarbeitenden ein Team von Gleichberechtigten wird, obwohl sie unterschiedliche Hintergründe und Lebenssituationen mitbringen. Im Wendelin ist dieser Prozess ziemlich weit fortgeschritten. A
Auf die Frage, wie die Jobs für Menschen mit Beeinträchtigung benannt werden, folgt die Antwort ganz selbstverständlich: «Das sind Arbeitsplätze», sagt Regula Kunz, Leiterin Administration und HR, schlicht. «Bei uns gibt es dafür keine extra Bezeichnung.» Die Personalfachfrau betont, dass im Haus – nebst jenen Personen, die eine IV beziehen – noch andere Personen tätig seien, die auf dem ersten Arbeitsmarkt wohl einen eher schwierigen Stand hätten. Das Wendelin tue dies einerseits aus Tradition, da die Geschäftsleitungsmitglieder in dieser Hinsicht sensibilisiert und engagiert seien. Andererseits findet Regula Kunz, dass ein Pflegeheim aufgrund der Arbeitsabläufe ideale Voraussetzungen für die berufliche Integration biete.
«Wir beschäftigen in diesem Pflegeheim seit 35 Jahren Menschen mit Beeinträchtigungen. Die Erfahrungen sind rundum positiv.»
Zertifikat «Arbeitsmarkt für alle»
Für ihr Engagement wurde die Institution 2019 mit dem Label «iPunkt» lizenziert. Diese Auszeichnung kommt Unternehmen zu, welche die Fähigkeiten von Erwerbstätigen mit Beeinträchtigungen bei der Gestaltung des Arbeitsumfelds berücksichtigen, sodass auch sie ihr Potenzial als Fachkräfte wertschöpfend einbringen können.
Das Label wird von der Organisation «Impuls» vergeben, die sich «für einen Arbeitsmarkt für alle» einsetzt. Das Zertifikat sei ein einzigartiges Instrument zur Kommunikation der Corporate Social Responsibility, also der sozialen Verantwortung, und stärke die Marke eines Unternehmens, heisst es bei den Organisatoren.
Dies kommt einer Wertschätzung gleich und honoriert den Mehraufwand, den eine Organisation bei der Inklusion von Menschen mit Leistungsbeeinträchtigungen hat. Damit die Zusammenarbeit im Alltag reibungslos funktioniert, ist eine geschickte Planung notwendig. So werden im Wendelin Mitarbeitende wie Kathrin Fuchs und Sandra Fischer stets von einer Teammitarbeiterin begleitet. «Sie sind nie alleine im Einsatz», so Rahel Reber, die als stellvertretende Leiterin Hauswirtschaft für die Wäscherei zuständig ist.
Routinearbeit eignet sich
Wenn Kathrin Fuchs jeweils am Vormittag ihre Arbeiten erledigt, darf sie darauf zählen, dass Rahel Reber oder ein Teammitglied der Wäscherei in ihrer Nähe ist. «Ich kann jederzeit Fragen stellen», meint sie, was allerdings selten vorkommt. «Kathrin ist sehr zuverlässig und exakt», sagt Rahel Reber über ihre Mitarbeiterin. Es kann allerdings vorkommen, dass neue Geräte oder Aufgaben das Gewohnte durcheinanderbringen. Dies scheint ein Element zu sein, das bei teilleistungsfähigen Personen grundsätzlich zu Mehrbelastung führen kann. Sandra Fischer hat auch nach 30 Jahren immer mal wieder Mühe, wenn bei der Reinigungsarbeit Änderungen angesagt sind. «Dann muss ich halt fragen», erklärt sie.
«Wer hier tätig sein möchte, sollte diese Philosophie unterstützen.»
Aus diesem Grund werden Mitarbeitende, die weniger leistungsfähig sind, mehrheitlich zur Erledigung von Routineaufgaben eingesetzt, wie sie in der Hauswirtschaft anfallen. Ganz im Gegensatz zum Pflegebereich, wo mehr Flexibilität gefragt ist: «Mit dieser Arbeit wäre ich wieder überfordert», sagt die ehemalige Pflegeassistentin Kathrin Fuchs.
Alle tragen die Philosophie mit
Dem Team kommt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle zu. Im Wendelin weist man deshalb in Bewerbungsgesprächen darauf hin, dass im Haus teilleistungsfähige Personen arbeiten. «Wer hier tätig sein möchte, sollte diese Philosophie unterstützen», betont HR-Fachfrau Regula Kunz. Das Modell funktioniere nur dann optimal, wenn es von allen mitgetragen werde. Kommt es kurzfristig zu Ausfällen, müssen diese vom Team aufgefangen werden. Zudem legt man im Alltag Wert auf eine gute Kommunikation, denn in der Zusammenarbeit tauchen manchmal Konflikte auf.
Wenn beispielsweise in der Wäsche ein Pullover eines Bewohners eingegangen sei, dann bestehe Erklärungsbedarf – auch gegenüber den Angehörigen, stellt Anita Achermann klar. Sie arbeitet seit 23 Jahren im Wendelin und hat im Lauf der Zeit vielen Menschen eine Chance auf einen Arbeitsplatz gegeben und sie ins Team aufgenommen.
Dabei konnte sie eindrückliche Entwicklungen beobachten. «Häufig sind diese Personen innert kurzer Zeit viel selbstsicherer, da sie eine sinnstiftende Tätigkeit ausüben können», so ihr Fazit.
Fördern ohne Vorurteile
Nebst der Hauswirtschaft gibt es im Wendelin weitere Tätigkeitsbereiche, etwa im Technischen Dienst oder in der Küche, die Arbeitsplätze für weniger leistungsfähige Personen zur Verfügung stellen. Die Definition von Inklusion wird im Haus breit ausgelegt. Man beschäftigt nicht nur Menschen, die von externen Stellen vermittelt werden, sondern schafft auch Angebote für interne Leute, die im Pflegeheim angestellt sind, zum Beispiel im Rahmen von arbeitsplatzerhaltenden Massnahmen der IV.
Ein besonderes Augenmerk legen die Verantwortlichen auf die Integration von jungen Erwachsenen. Wer Freude, Interesse und die nötige Motivation an der Arbeit mitbringe, habe die Möglichkeit, eine Ausbildung zu absolvieren, sagt Anita Achermann. «Es ist erstaunlich, was man aus jungen Menschen herausholen kann, wenn man ihnen ohne Vorurteile begegnet und Vertrauen schenkt.»
Fotos: Marco Zanoni
Bild links: Das Befüllen der Waschmaschine gehört zu den Aufgaben von Hauswirtschaftsmitarbeiterin Kathrin Fuchs.
Bild rechts: Sandra Fischer (rechts) arbeitet seit 30 Jahren im Pflegeheim Wendelin – manchmal mit Begleitung, manchmal selbstständig.
Das pflegeheim wendelin
Das Pflegeheim Wendelin in Riehen bietet Platz für 84 Bewohnerinnen und Bewohner. Ergänzt wird das Angebot durch ein Tagesheim mit 20 Plätzen sowie einen offenen Mittagstisch. Das Haus beschäftigt 150 Mitarbeitende und wird von einer ökumenischen Stiftung getragen.