«Wie viel ist uns als Gesellschaft die Inklusion wert?»
Im Verlauf der letzten rund zehn Jahre hat die Branche der Dienstleister für Menschen mit Behinderung aufgrund der UN-BRK einen Paradigmenwechsel erlebt. Diesen notwendigen, aber auch immer wieder von Unsicherheiten geprägten
Wandel hat INSOS-Geschäftsführer Peter Saxenhofer* aufseiten
der Verbandsarbeit begleitet und mitgeprägt. Ende Oktober
geht er in Pension.
Herr Saxenhofer, viele Jahre Ihres Berufslebens haben Sie nicht im Behindertenbereich verbracht. Weshalb haben Sie sich dann im Jahr 2012 für die Aufgabe als INSOS-Geschäftsführer interessiert?
Die Verbandsarbeit hat mich schon immer fasziniert. Ein Verband ist ein «Unternehmen» mit demokratischen Entscheidstrukturen, in welche sowohl die nationale als auch die kantonale Ebene einbezogen werden muss. Verbandsarbeit ist damit nicht immer sehr schnell und effizient, dafür wird sie aber von den Mitgliedern gut mitgetragen. Während ich früher viele Jahre in der Informatik und im Verkehrsbereich tätig war, hat mich bei INSOS der Fokus auf den Menschen sehr interessiert, zudem sind hier politische Grabenkämpfe viel weniger ausgeprägt als in anderen Politikbereichen.
Rund eineinhalb Jahre nach Ihrer Ernennung zum Geschäftsführer hat die Schweiz 2014 die UN-BRK mit ihren Forderungen nach De-Institutionalisierung unterzeichnet. Erinnern Sie sich noch an Ihre damalige Reaktion – gerade auch im Hinblick auf die Zukunft der Institutionen?
Dass die Schweiz damals die UN-BRK unterzeichnet hat, war zwingend, aber nicht selbstverständlich. Die Ratifikation kam vor allem dadurch zustande, dass etliche Politikerinnen und Politiker zu selbstsicher davon ausgingen, dass die Konvention keine grossen Veränderungen in der Organisation und Finanzierung des Behindertenbereichs mit sich bringen werde. Die Befürworterinnen und Befürworter der Konvention haben dieses Denken klugerweise nicht behindert, damit möglichst wenig Kritik aufkommt. Das hat funktioniert.
Sie aber waren sich sehr wohl bewusst, dass die UN-BRK vieles verändern wird, gerade auch im Bereich der klassischen Institutionen?
Die Schweiz musste diese Konvention unterzeichnen. Wir waren damals eines der wenigen Länder, welche die UN-BRK noch nicht ratifiziert hatten. Die Forderung nach De-Institutionalisierung war für uns aber zunächst schon eine grosse Herausforderung. In welche Richtung es gehen könnte, zeigte uns der europäische Dachverband der Dienstleister für Menschen mit Behinderung (EASPD) auf, der damals gerade eine Roadmap zum Thema De-Institutionalisierung verabschiedet hatte.
«Die UN-BRK stellt nicht grundsätzlich alle Institutionen und Organisationen im Behindertenbereich infrage.»
… ein Verband der Dienstleister, der eine Roadmap zur De-Institutionalisierung verabschiedet?
Das war auch für mich überraschend, zumal ich damals ja noch ziemlich branchenfremd war. Es kam dann auch zu einem intensiven Austausch zwischen mir und dem europäischen Dachverband. Dabei wurde mir dann klar, dass die UN-BRK nicht grundsätzlich alle Institutionen und Organisationen im Behindertenbereich infrage stellt. Infrage gestellt wird vielmehr das eng begrenzte Angebot von klassischen Wohnheimen einerseits und geschützten Werkstätten anderseits. Und zwar deshalb, weil Menschen mit Behinderung auf diese Weise gar nicht die Wahl haben, ob sie dort leben und arbeiten wollen oder nicht.
Der geforderte Wandel löste in der Branche damals sicher Verunsicherung aus?
Viele fragten sich, was die UN-BRK für sie als Institution bedeuten wird. Ich versuchte vonseiten des Verbands, eine andere respektive zusätzliche Optik einzubringen. Als Branchenverband ist man ja verpflichtet, die Interessen der Mitglieder, in unserem Fall also der Institutionen, wahrzunehmen. Für mich wurde es immer wichtiger, auch die Interessen der Menschen mit Behinderungen, welche auf Dienstleitungen unserer Mitglieder angewiesen sind, wahrzunehmen.
«Wenn wir die Interessen unserer Kundschaft nicht vertreten, dann vertreten wir auch unsere eigenen Interessen nicht.»
Sind das nicht einander widersprechende Interessen?
Es ist ähnlich wie beim Verband für öffentlichen Verkehr: Dieser vertritt unter anderem die Interessen der Bahnbetreiber, welche die Infrastruktur sicherstellen. Diese müssen aber vor allem auch an die Passagiere und Kunden denken, die diese Infrastruktur nützen. Ähnlich ist das auch in unserer Branche. Diese Haltung wurde aber auch kritisiert. An einer Delegiertenversammlung fragte mich jemand, ob ich eigentlich die Interessen von Menschen mit Behinderung vertrete oder die ureigenen Interessen der Institutionen, wie es ja meine Aufgabe wäre.
…und Ihre Antwort?
Ich sagte, das eine geht nicht ohne das andere. Wenn wir die Interessen unserer Kundschaft nicht vertreten, dann vertreten wir auch unsere eigenen Interessen nicht. Es dauerte eine gewisse Zeit, bis sich die Haltung durchgesetzt hat. Es brauchte ein Umdenken. Wir mussten uns von der Idee verabschieden, in erster Linie bestimmte bestehende Angebote aufrechterhalten zu wollen. Die Überzeugung musste wachsen, verschiedenartigste Dienstleistungen bereitzustellen, die von den Menschen mit Behinderung selber gewünscht und benötigt werden.
Sie beschreiben hier den durch die UN-BRK eingeleiteten Paradigmenwechsel, der Leistungserbringer und die bestellenden Behörden gleichermassen fordert …
Lange Zeit glaubten wir zu wissen, was für Menschen mit Behinderung gut ist. Es ist aber eben gar nicht an uns, zu entscheiden, was gut ist. Wir bieten als Branche einfach die ganze Angebotsvielfalt an, und Menschen mit Behinderung entscheiden dann, was sie brauchen.
Wo steht die Branche heute – rund zehn Jahre später?
Die Angebotsvielfalt hat sich in den letzten zehn Jahren stark vergrössert, auch im Wohnbereich. Hier gibt es sehr viele Möglichkeiten zwischen der klassischen stationären Betreuung und der rein ambulanten Begleitung mit einer minimalen Anzahl Begleitstunden. Und im Arbeitsbereich: Hier gibt es heute vielfältige Möglichkeiten einer beruflichen Ausbildung für Junge mit Lernbeeinträchtigungen, berufliche Integrationsangebote mit Jobcoaching und Supported Employment, aber auch mit den Angeboten von spezifischen Arbeitsplätzen in Integrationsunternehmen.
«Ein Hindernis ist oft die fehlende oder zu wenig flexible Finanzierung.»
Wir sind aber noch lange nicht dort, wo wir sein sollten, wie im letzten Jahr auch der UN-Ausschuss für Menschen mit Behinderung festgestellt hat?
Ein grosser Teil der erforderlichen Angebotspalette besteht meiner Meinung nach. Die Frage ist, ob sie auch wirklich genutzt werden kann. Ein Hindernis ist oft die fehlende oder zu wenig flexible Finanzierung. Zudem haben Menschen mit Behinderung oft nicht das nötige Wissen über diese Angebotsvielfalt und die Befähigung, sich für das eine oder andere Angebot zu entscheiden. Hier werden wir in zehn Jahren an einem anderen Ort stehen müssen.
Die Angebotsvielfalt ist das eine – braucht es aber nicht auch eine verstärkte Teilhabe und Partizipation von Menschen mit Behinderung in den strategischen Gremien der Institutionen respektive Leistungserbringer?
Ich möchte das nicht in Abrede stellen. Man darf sich davon aber nicht zu viel versprechen. Betreffend unsere Angebote wäre übrigens entscheidend, dass Menschen mit psychischen oder kognitiven Beeinträchtigungen entsprechend einbezogen werden, da vor allem diese «unsere» Dienstleistungen nutzen. Und zu bedenken ist, dass wichtige Weichen für die Angebote in den Leistungsverträgen der Kantone gestellt werden. Aus unserer Sicht wichtig ist, dass Menschen mit Beeinträchtigung empowered respektive befähigt werden, ihren Lebensplan selbst zu entwickeln und zu diesem Zweck die Angebotspalette zu beurteilen. Sie müssen auch etwas ausprobieren können.
Das dürfte keine einfache Aufgabe sein …
Der dafür nötige Wandel ist ein Generationenprojekt. Das wird weitere rund zwanzig Jahre dauern. Menschen mit Behinderung haben oft jahrzehntelang in klassischen Behinderteninstitutionen gelebt und sind entsprechend sozialisiert. Auch aufseiten der Branche und der Behörden braucht es weitere Entwicklungsschritte, die sich an den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderung orientieren müssen. Die einzelnen Dienstleistungen und die Struktur der Branche werden sich über die Jahre verändern.
Wie haben Sie diesen Wandel auf Seiten der Branche mitgeprägt?
Nicht ich allein, sondern die Verbände der Leistungserbringer haben gemeinsam im Jahr 2019 als erste nationale Organisationen einen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-BRK entwickelt mit klaren Zielen und Massnahmen. Keine Behindertenorganisation war schneller, auch nicht Bund oder Kantone. Wir haben relativ rasch erkannt, dass wir unseren Beitrag leisten wollen und müssen. Wichtig war und ist in diesem Zusammenhang auch die Vernetzung mit den Behindertenorganisationen sowie den Behörden und der Politik. Dieser stetige Dialog hat mitgeholfen, dass alle Akteure mit dem Veränderungsprozess begonnen haben.
«Gerade für Menschen mit kognitiven oder psychischen Beeinträchtigungen fehlt oft die politische Vertretung.»
Eine wesentliche Aufgabe des INSOS-Geschäftsführers ist die Mitgestaltung der Rahmenbedingen auf nationaler, aber auch auf kantonaler Ebene – wie konnten Sie hier im Sinne der UN-BRK gestaltend mitwirken?
Die Behörden haben relativ schnell die Behindertenorganisationen in ihre Überlegungen und Planungen einbezogen. Und das finde ich auch gut und sehr wichtig. Im ersten Schritt hat man nicht daran gedacht, auch die Seite der Dienstleister zu berücksichtigen. Ich bin zudem überzeugt, dass auch die Angehörigen in diese Diskussion einbezogen werden müssen und zudem auch die Betroffenen selbst. Gerade für Menschen mit kognitiven oder psychischen Beeinträchtigungen fehlt oft die politische Vertretung. Ich habe immer wieder darauf hingewiesen, dass alle Organisationen und Gruppen berücksichtigt werden müssen.
Gerade Menschen mit psychischen oder kognitiven Beeinträchtigungen sind es auch, die auf unterstützende Angebote angewiesen sind?
Wir versuchen im Gespräch mit den Behörden immer wieder die Bedürfnisse dieser Gruppen von Menschen mit Behinderungen in Erinnerung zu rufen. Sie benötigen spezifische Angebote, um in ihrer Selbstbestimmung gefördert zu werden. Wichtig sind unter anderem die Unterstützte Kommunikation oder auch spezifische Massnahmen, um die politische Teilhabe zu fördern. Das Projekt für ein Abstimmungsbüchlein in Leichter Sprache ist bei uns entstanden, wir haben es dann Insieme übergeben.
«Inklusion erfordert entsprechende Unterstützungsleistungen, und diese kosten etwas.»
Wo stehen wir als Gesellschaft heute?
Wir sind auf dem richtigen Weg, haben hier aber noch eine lange Wegstrecke vor uns. Wie schnell und gut wir auf diesem Weg vorankommen, hat auch damit zu tun, wie viel uns die Integration und Inklusion als Gesellschaft tatsächlich wert ist. Inklusion erfordert entsprechende Unterstützungsleistungen, und diese kosten etwas. Erwähnen möchte ich auch die Wohnungspreise, die sich Menschen mit Behinderung oft gar nicht leisten können. Es braucht von vielen Kantonen und Städten ein höheres Engagement im sozialen Wohnungsbau.
Neben der Gesellschaft als Ganzes braucht es auch auf der Seite der Arbeitgebenden verstärkte Anstrengungen?
Zurzeit scheint es für Arbeitgebende nicht besonders attraktiv zu sein, Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung zur Verfügung zu stellen, gerade für Menschen mit kognitiven oder psychischen Beeinträchtigungen. Hier müssen wir Lösungen finden. Vermehrt umgesetzt werden könnte zum Beispiel der Personalverleih. Dabei erfolgen die Anstellung und die ganze Administration über eine Institution, diese übernimmt auch das Risiko der Anstellung. Eine weitere Variante ist die Festlegung von Quoten, wobei sich dies in anderen Ländern nicht immer als sehr wirksam erwies. Neben den Arbeitgebenden ist aber auch jeder Einzelne gefragt: Sind wir bereit, uns zum Beispiel im Restaurant von jemandem bedienen zu lassen, der eine offensichtliche Behinderung hat?
Wo liegen neben der UN-BRK aus Ihrer Sicht weitere zentrale Herausforderungen der Branche?
Der Fachkräftemangel, der im Pflegereich stark präsent ist, wird zunehmend auch im Sozialbereich ein Thema. Schon jetzt haben wir Probleme, genügend Personal zu finden. Die Entwicklung ist erst am Anfang, hier droht ein Notstand. Genau gleich wie der Pflegebereich müssen wir uns als attraktive Arbeitgeber positionieren. Dazu müssen wir eine Diskussion mit den Kantonen führen, die bei der Finanzierung von Unterstützungsleistungen eine zentrale Rolle spielen.
«Fachkräfte sollen nicht mit administrativer Arbeit blockiert werden.»
Welche Funktion hat vor dem Hintergrund des Personalmangels die Digitalisierung?
Die Digitalisierung hilft mit, den Mangel im Personalbereich zu mildern. Damit meine ich zunächst Unterstützungsleistungen in der Administration und im Controlling. Fachkräfte sollen nicht mit administrativer Arbeit blockiert werden. Darüber hinaus müssen wir aber auch darüber nachdenken, wie die digitale Welt Menschen mit Unterstützungsbedarf unabhängiger machen kann von der Unterstützung durch Fachpersonen.
Seit Januar 2022 gehört der Branchenverband INSOS zusammen mit CURAVIVA und YOUVITA zur Föderation ARTISET. Wie beurteilen Sie die gemeinsame Arbeit?
Die Einbettung von INSOS in der Föderation ARTISET war ein kluger Schritt. Der Sozialbereich und der Gesundheitsbereich haben immer mehr Überschneidungen. Die Herausforderungen in den verschiedenen Branchen sind ähnlich. Mit der Föderation haben wir gemeinsam mehr Kraft, diese Herausforderungen gemeinsam effizient anzugehen. Gegenüber Politik und Behörden sind wir vereint ein starker Player.
INSOS-Kongress 2023
Der diesjährige INSOS-Kongress (30. und 31. August im Stadion Wankdorf in Bern) widmet sich den grossen Veränderungen und Herausforderungen der aktuellen Zeit: Wertewandel, Generationenwechsel, Fachkräftemangel, Anforderungen der UN-Behindertenrechtskonvention und Digitalisierung. Die Teilnehmenden erwartet ein abwechslungsreiches Kongressprogramm, das Wissen zahlreicher Expertinnen und Experten sowie spannende Diskussionen und Workshops zur praxisorientierten Vertiefung. Zur Einstimmung auf den Kongress findet bereits am 29. August ab 18 Uhr ein Abend-Event im Schwellemätteli statt. Anmeldeschluss für den Kongress ist der 3. August.
Unser Gesprächspartner
Peter Saxenhofer (1958) studierte Ökonomie mit Arbeitspsychologie im Nebenfach. Er arbeitete 10 Jahre in einer mittelgrossen Informatikfirma, 10 Jahre bei einem nationalen Verkehrsverband und nun 10 Jahre bei INSOS. Er hat zwei erwachsene Töchter. Zu seinen Hobbys gehören Wandern, Biken und Musizieren. Diesen wird er sich nach seiner Pensionierung im Oktober 2023 wieder verstärkt widmen.
Nachfolgerin von Peter Saxenhofer ist Rahel Stuker. Sie tritt ihre Stelle als INSOS-Geschäftsführerin am 1. Oktober an.
Foto: esf