Vielfalt unter einem Dach
Das Centre du Nouveau Prieuré in Chêne-Bougeries (GE) ist ein innovativer Lebensort. Unterschiedliche Generationen und Bevölkerungsgruppen leben hier unter einem Dach zusammen. Nach sechs Jahren evaluieren die Verantwortlichen das Projekt. Eine Studie belegt, dass das Zentrum insgesamt modellhaft für ein erfolgreiches Zusammenleben steht. Daneben zeigt sie auch Verbesserungsmöglichkeiten auf.
Es ist ein ambitioniertes Vorhaben, das vor über 20 Jahren an die Hand genommen wurde: «Le Nouveau Prieuré ist ein grosses Abenteuer, das auf Veränderung setzt. Es ist das Projekt eines lebendigen, offenen Ortes, an dem mehrere Generationen aufeinandertreffen. Wir haben die besten Ideen anderer Einrichtungen von hier und anderswo übernommen und mit unseren eigenen Überlegungen und Erfahrungen ergänzt. Wir möchten uns von einem Ort der Pflege zu einem Ort des Lebens entwickeln, an dem die Autonomie und Selbstbestimmung der Menschen im Mittelpunkt stehen.» Mit diesen Worten stellte das Bureau Central d’Aide sociale (BCAS), eine gemeinnützige Privatstiftung, die Grundzüge des künftigen intergenerationellen Zentrums vor, das in Chêne-Bougeries (GE) errichtet wurde. Das war im Frühjahr 2003, als der Architekturwettbewerb lanciert wurde.
2016, bei der Einweihung des Centre intergénérationnel du Nouveau Prieuré, mangelte es nicht an Attributen und Superlativen, um dieses Zukunftsmodell zu beschreiben: ehrgeizig, vielversprechend, gewagt, noch nie dagewesen, revolutionär ... Es stimmt: Dieses Modell für das Zusammenleben verschiedener Generationen und Bevölkerungsgruppen ist in seiner Art einmalig. Es umfasst vier Partnereinrichtungen und etwa 300 Personen im Alter von vier Monaten bis 104 Jahren. Und wie das BCAS in einer kürzlichen Mitteilung unterstreicht: «Die Aufgabe war nicht leicht. Es waren über zehn Jahre gemeinsame Planung der beteiligten Einrichtungen und Gespräche mit den lokalen Behörden erforderlich, bevor 2011 der Grundstein gelegt werden konnte.»
Heute rahmen drei Gebäude den überdachten Dorfplatz ein. Darin befinden sich das Alters- und Pflegeheim Le Nouveau Prieuré, das in Form von Gemeinschaftswohnungen mit je acht Einzelzimmern und insgesamt 144 Plätzen organisiert ist, eine Einrichtung der Stiftung Clair Bois mit einem Tagesheim und einem Wohnheim für 24 Menschen mit einer Mehrfachbehinderung, eine Kita der Gemeinde Chêne-Bougeries mit 63 Plätzen, auf einer Etage ein Studentenwohnheim mit 24 Plätzen, Mietwohnungen und ein öffentlich zugängliches Restaurant, «Le Trait d’Union», was so viel heisst wie «Bindestrich». Der gesamte Komplex ist fröhlich und leicht gehalten. Die Fassaden spielen mit vortretenden Elementen und Hohlräumen – wie ein Schachbrettmuster aus warmen Tönen, die zwischen Gelb, Orange und Rot abwechseln.
Ein Leitbild für das Zusammenleben
Alle Partnereinrichtungen verfolgen ihre institutionellen Projekte unabhängig voneinander, wobei sie sich jedoch einem gemeinsamen Leitbild – «Vivre ensemble» (zusammen leben) – verpflichtet haben. Es fasst die Philosophie des Zentrums wie folgt zusammen: «Alle Bewohnenden haben unabhängig von ihrem Alter oder ihrer Behinderung ein Recht auf die Achtung ihrer Autonomie und ihrer persönlichen Freiheit durch die Umsetzung eines personalisierten Lebensprojekts. Sie haben Anspruch auf soziale Integration durch Interaktion mit anderen Bewohnenden, insbesondere durch generationsübergreifende Aktivitäten, die von den Partnereinrichtungen angeboten werden.» Um diese Partnerschaft mit Leben zu füllen, wacht auf betrieblicher Ebene ein Direktionskollegium über die Einhaltung der Grundsätze und Werte des Leitbilds von Nouveau Prieuré.
Intergenerationalität ist für manche ein überstrapazierter Begriff – Augenwischerei. «Denkt man bei Intergenerationalität an vier Generationen, die gemeinsam in einem Haus leben, ist das in der Tat illusorisch. Das gibt es auch ausserhalb des Zentrums nicht, und wir erheben nicht den Anspruch, es zu schaffen», bekräftigt Martine Brügger, Leiterin von Le Nouveau Prieuré. «Es gibt aber viele Aktivitäten und Interaktionen, mit denen man die Begegnung der einzelnen Bevölkerungsgruppen fördern kann. Unsere Aufgabe ist es, den entsprechenden Impuls zu setzen.»
Der Ort, an dem alles zusammenläuft
Daher findet alles – oder fast alles – auf dem Dorfplatz statt, «dem Ort, an dem alles zusammenläuft und der dem Leben der einzelnen Partner als Quelle dient», kann man im Leitbild lesen. «Wir möchten diesen Gemeinschaftsraum nutzen und einen Ort entstehen lassen, an den die Menschen kommen, wo sie verweilen, teilhaben und den sie nach Belieben wieder verlassen», erläutert Martine Brügger. Der Bereich und sein Umfeld eignen sich hervorragend für unterschiedlichste Aktivitäten wie etwa ein Tischtennisturnier, eine Oldtimer-Ausstellung oder ein Riesendiktat. An diesem Vormittag Anfang August ist der Dorfplatz relativ ruhig, aber alles weist darauf hin, dass er tatsächlich das Zentrum des Mehrgenerationenkomplexes ist. Eine Bilderausstellung teilt sich den Platz mit Sofas, niedrigen Tischen und dem grossen Bildschirm der «Fanzone», die für die sommerlichen Sportereignisse eingerichtet wurde – darunter natürlich die Olympischen Spiele in Paris. Eben ist ein Wägelchen aufgetaucht, darauf Bücher zum Lesen vor Ort oder zum Ausleihen. Etwas weiter weg sitzen einige Leute auf der Terrasse des Restaurants, während die Kinder der Kita damit beschäftigt sind, aus Holzklötzen Häuser zu bauen. Der Nachmittag verspricht lebhaft zu werden. Das liegt an der traditionellen Musikstunde am Freitag, die von den Bewohnenden sehr geschätzt wird.
Gemeinsame Aktivitäten anbieten und Begegnungen fördern: Das erfordert einen kleinen Balanceakt zwischen der Wahrung von Autonomie und Selbstbestimmung der hier lebenden Bevölkerungsgruppen einerseits und dem institutionellen Hintergrund der einzelnen Partner andererseits. Das ist in der Studie der Unternehmensberatung Socialdesign AG, die 2023 im Auftrag des BCAS verfasst wurde, auch zwischen den Zeilen zu lesen. Nach sechs Jahren gemeinsamen Lebens sollten die Erfahrungen aus dem Modell Le Nouveau Prieuré und deren Auswirkungen auf die Nutzerinnen und Nutzer ausgewertet werden. Die Studie belegt, dass die Umsetzung des Mehrgenerationenprojekts generell geglückt ist. Der Bericht erwähnt die positiven Rückmeldungen der Dienstleistungsnutzenden, der Angehörigen und des Personals, die sich vor allem auf die Lebensqualität und den bereichernden generationenübergreifenden Aspekt beziehen. «Den befragten Personen zufolge ermöglicht es das Projekt (...), sich an Unterschiede zu gewöhnen und sich auch in Frage zu stellen. Dies fördert ein Umdenken bei den einzelnen Bevölkerungsgruppen (ältere Menschen, Mehrfachbehinderte, Kinder)», schreibt die Socialdesign AG.
«Es gibt viele Aktivitäten und Interaktionen, mit denen man die Begegnung der Bevölkerungsgruppen fördern kann.» Martine Brügger, Leiterin des Alters- und Pflegeheims Le Nouveau Prieuré
Mehr Spontaneität, Integration und Öffnung
Die in der Auswertung ermittelten Verbesserungspotenziale, die auch den Feststellungen des Direktionskollegiums entsprechen, betreffen vor allem die Spontaneität von Begegnungen, die Integration der Studierenden und die Öffnung für das Quartier. «Jeder Partner hat sich in einen Rahmen einzufügen, mit Standards, Leitlinien, Rhythmen und Besonderheiten, die nur für ihn gelten und gelegentlich Spontaneität verhindern», bekennt Martine Brügger. Zugleich versichert sie jedoch, dass die Einrichtungen bereits mit der Durchführung von Aktivitäten begonnen haben, die den spontanen Austausch fördern. Auch die Gemeinschaftsbereiche werden mit mehr Angeboten noch stärker genutzt: Spiele, Konzerte, körperliche Aktivitäten, generationenübergreifende Feste oder Apéros. Dazu kommen ein Riesenaquarium, das im Sommer auf dem Dorfplatz aufgestellt ist, und ein Anschlagbrett für Kleinanzeigen, um den Tauschhandel zu fördern. Besondere Aufmerksamkeit gilt der Bekanntgabe von Veranstaltungen und Events im Quartier. Das Personal hat Anspruch auf Immersionstage nach dem Motto «Lebe mein Leben». Damit sollen die Mitarbeitenden besser verstehen, in welchem Kontext die anderen Einrichtungen arbeiten und wie sie Menschen begleiten. Ziel ist es, neue Ideen für gemeinsame Aktivitäten auszutauschen.
Auf der Studierendenetage zählt die 27-jährige Anna zu den wenigen Mieterinnen und Mietern, die zu dieser Jahreszeit anwesend sind. Die Jurastudentin lebt seit zwei Jahren im Nouveau Prieuré. Ihr gefällt, wie bunt gemischt dieser Ort ist. Sie hat freiwillig beim Frühlingsfest im Zentrum mitgewirkt, pflegt aber keine regelmässigen Kontakte zu Bewohnenden des Alters- und Pflegeheims, den Dienstleistungsnutzenden von Clair-Bois oder den Kindern der Kita. Hingegen hat sie eine enge Beziehung zu einem älteren Ehepaar in der Résidence de La Gradelle, einem Haus mit Betreuung, das ebenfalls dem BCAS gehört. Tatiana Butinof, Leiterin der Studierendenetage und der Résidence de la Gradelle sowie Mitglied des Direktionskollegiums, räumt ein, dass es noch keinen ausreichenden Austausch zwischen den Studierenden und den Bewohnenden des Zentrums gibt. Grund seien vor allem unvereinbare Zeitpläne. Sie hat jedoch viele Ideen, um die Aktivitäten in der Résidence de La Gradelle auch für Nutzerinnen und Nutzern von Le Nouveau Prieuré zu öffnen – unter anderem Aufführungen und den Bücherbus alle zwei Wochen mittwochs mit verschiedenen Animationen. Sie hat auch Spezialpreise ausgehandelt, um die Studierenden zu einem Besuch im Restaurant Le Trait d’Union auf dem Dorfplatz zu animieren.
Eine positive Dynamik
Bei Clair Bois freut man sich über diesen Erfolg, der die Sozialisierung fördert und Menschen mit Mehrfachbehinderung gemeinsam mit anderen Bevölkerungsgruppen am Leben teilhaben lässt. «Das Tolle ist, dass wir bei den Dienstleistungsnutzenden trotz den unterschiedlich ausgerichteten Lebensprojekten einen gemeinsamen Nenner finden: das Zusammenleben unterschiedlicher Generationen und Bevölkerungsgruppen», unterstreicht Pierre Coucourde, Geschäftsführer der Stiftung Clair Bois. Ihm zufolge müsste sich das Modell Le Nouveau Prieuré jedoch noch weiter vom institutionellen Weg entfernen. «Die Ortsgeografie führt dazu, dass jede Einrichtung eine natürliche Tendenz hat, im Quartier zu bleiben und es nur für spezielle gemeinsame Anlässe mit anderen zu verlassen.»
Es geht daher darum, eine grössere Offenheit, ja sogar eine Deinstitutionalisierung anzustreben – mit unabhängigeren Wohnungen, einer grösseren Durchmischung im Nouveau Prieuré und einer stärkeren Integration ins Quartierleben. Dafür ist eine regelmässige Überarbeitung des Konzepts erforderlich – im Wissen, dass es in einem Quartier verankert ist, das sich schnell verändert und strukturiert. «Dies erfordert auch geistige Anstrengungen. Wir müssen ständig die anderen Partner im Hinterkopf haben und überlegen, was wir gemeinsam machen können. Die Teams sind sehr offen, und die Dynamik ist für alle Beteiligten positiv», freut sich Pierre Coucourde.
Foto: amn