Über die Pflegequalität reflektieren

12.06.2024 Elisabeth Seifert

Für viele Heime bedeutet die Erhebung medizinischer Qualitätsindikatoren eine grosse Herausforderung. Die Pflegeverantwortlichen von drei Institutionen, die bereits seit vielen Jahren mit Indikatoren arbeiten, zeigen auf, welchen Nutzen die datenbasierte Pflegeentwicklung für sie hat und sie relativieren die Bedeutung der nationalen Statistik.

Die Arbeit mit medizinischen Qualitätsindikatoren ist nicht neu. In zahlreichen Heimen hat sich die Auseinandersetzung mit einem Set an Indikatoren längst etabliert. Seit 2019 sind nun sämtliche Pflegeinstitutionen in der Schweiz zwecks Qualitätsverbesserung und nationalem Qualitätsvergleich zur Erhebung von Indikatoren im Bereich von vier Messthemen verpflichtet (Mangelernährung, bewegungseinschränkende Massnahmen, Polymedikation und Schmerzen).

Wir haben mit drei Heimen gesprochen, die über eine breite Erfahrung in der datenbasierten Pflegeentwicklung verfügen: dem KZU Kompetenzzentrum Pflege und Gesundheit mit Sitz in Bassersdorf ZH, dem Zentrum Schlossmatt Region Burgdorf BE sowie Les Résidences prendre soin et accompagner (RPSA) La petite Boissière in Genf. Wie beurteilen die Verantwortlichen den Wert medizinischer Qualitätsindikatoren (MQI)?

«Sie dienen der internen Reflexion und sind für mich sehr relevant für das Bewusstsein der Fachlichkeit», sagt Marlies Petrig, Leiterin Health Care Services des KZU in Bassersdorf. Es gehe um zentrale Fragen, die das Wohlbefinden der Bewohnenden betreffen: «Haben die Bewohnenden Schmerzen? Montieren wir ein Bettgitter mit der gebotenen Sorgfalt? Oder: Steht bei uns der Medikamentenschrank allzu weit offen?» Für Lucia Schenk, wissenschaftliche Mitarbeiterin Pflege und Therapie im Burgdorfer Zentrum Schlossmatt, ist es wichtig, dass Pflegende nicht nur ihr Gefühl sprechen lassen, sondern auch «lernen, in Zahlen zu denken». Nur auf diese Weise liessen sich Qualitätsverbesserungen datenbasiert belegen. Und vonseiten RPSA La petite Boissière in Genf unterstreicht Pflegedienstleiterin Anne Plissart: «Wir haben eine umfassende Vision der Verbesserung, die Entwicklung der Pflege mittels Indikatoren ist seit vielen Jahren ein wichtiger Teil davon.»

Vergleichbarkeit erfordert hohe Datenqualität

Während die Vertreterinnen der drei Heime überzeugt sind von der Arbeit mit Indikatoren, relativieren sie die Bedeutung einer nationalen Statistik. Ende Februar hat das Bundesamt für Gesundheit (BAG) erstmals medizinische Qualitätsindikatoren auf Heimebene veröffentlicht, Grundlage sind die Daten des Jahres 2021. Alle drei Pflegeinstitutionen weisen im Vergleich mit den kantonalen Durchschnittswerten gute oder sogar sehr gute Werte aus, wobei RPSA La petite Boissière gemeinsam mit den zwei anderen Standorten der RPSA-Gruppe aufgeführt ist.

Anne Plissart sieht in der nationalen Erhebung vor allem eine Sensibilisierung all jener Institutionen, die bislang noch kaum mit MQI gearbeitet haben. Marlies Petrig vom KZU Kompetenzzentrum Pflege und Gesundheit versteht durchaus, dass der Bund vor dem Hintergrund eines national definierten Katalogs an Pflegeleistungen die Qualität messen will. Und: «Es ist auch nicht schlecht zu sehen, wo man im kantonalen Vergleich steht und sich zu fragen, wie sich die eigenen Daten erklären.» Wichtig aber sei, so Petrig, dass die publizierten Daten nicht dafür verwendet werden, Ranglisten zu erstellen, sondern einzig dem internen Qualitätsverbesserungsprozess dienen.

Petrig begründet dies damit, dass die Zusammensetzung der Bewohnenden die Indikatorwerte beeinflussen kann. Zudem seien die betrieblichen Verhältnisse sehr unterschiedlich: «Es ist zum Beispiel viel leichter möglich, bei der Polymedikation tiefe Indikatorwerte auszuweisen, wenn ein Heim eigene Ärzte anstellen kann und nicht mit zahlreichen Hausärzten gefordert ist, die über wenig Zeitressourcen verfügen.»

«Wir haben eine umfassende Vision der Verbesserung, die Entwicklung der Pflege mittels Indikatoren ist seit vielen Jahren ein wichtiger Teil davon.» Anne Plissart, Pflegedienstleiterin RPSA La petite Boissière in Genf

Lucia Schenk, Marlies Petrig und Anne Plissart monieren zudem Unregelmässigkeiten bei der Erhebung der Daten oder auch unterschiedliche Erhebungspraktiken, was die Vergleichbarkeit der Indikatorwerte einschränke. Kodierprobleme machen sie bei den drei Messthemen Mangelernährung, Polymedikation und Schmerzen aus. Eher unproblematisch zu erheben sind die bewegungseinschränkenden Massnahmen. Zwecks künftiger Verbesserung der Datenqualität setzen die drei Heimvertreterinnen auf das laufende «Nationale Implementierungsprogramm – Qualität in der Langzeitpflege in Alters- und Pflegeheimen 2022–2026», kurz NIP-Q-Upgrade genannt.

Regelmässige Analyse der Indikatorwerte

Einen Mangel der Ende Februar erstmals publizierten Statistik sehen die Expertinnen auch darin, dass diese auf einer Datengrundlage beruht, die mehrere Jahre zurückliegt. Die Situation in einem Heim und auch die Indikatorwerte haben sich über diesen langen Zeitraum mit hoher Wahrscheinlichkeit verändert. Mit der künftig jährlichen Publikation dürfte sich die Lücke langsam schliessen. Der nächste nationale Bericht, basierend auf den Daten 2022, ist für Ende dieses Jahr geplant.

Um den internen Qualitätsverbesserungsprozess voranzubringen, sind gemäss den Pflegeverantwortlichen selbst jährliche Beobachtungsperioden eine zu lange Zeit. Sie extrahieren die Indikatorwerte vielmehr alle drei bis sechs Monate aus den entsprechenden Erfassungstools. Alle drei Pflegeheime verfolgen dabei für ihre internen Analysen neben den nationalen Messthemen weitere Indikatoren, die sie für ihre Institution als besonders nützlich empfinden: RPSA La petite Boissière hat zusätzlich etwa die Anzahl Stürze, Hospitalisierungen und Fälle von Dekubitus im Blick.

Dekubitus-Fälle, aber nur jene, die innerhalb der Institution entstanden sind, werden auch im Zentrum Schlossmatt zusätzlich unter die Lupe genommen. «Schlossmatt»-Verantwortliche Lucia Schenk interessiert sich weiter für den Indikator «Neuroleptika-Abgabe bei Niederrisikopatienten». Neuroleptika respektive Antipsychotika seien nur in schweren Fällen mit psychotischen Symptomen angezeigt, die zu Aggressivität führen, «nicht aber, um jemanden ruhigzustellen, weil man sich anders nicht zu helfen weiss».

«Es ist viel leichter möglich, bei der Polymedikation tiefe Indikatorwerte auszuweisen, wenn ein Heim eigene Ärzte anstellen kann.» Marlies Petrig, Leiterin Health Care Services des KZU in Bassersdorf ZH

Auch das KZU überprüft neben den nationalen MQI zusätzliche Indikatoren. «Es ist gar nicht so wichtig, welche Indikatoren man überprüft», meint Marlies Petrig, «die Institutionen müssen vor allem wissen, wo sie stehen und wo sie sich verbessern wollen.» Und: «Heime dürfen sich nicht zufrieden zurücklehnen, wenn sie im kantonalen Vergleich gut abschneiden», unterstreicht Petrig, deren Institution im BAG-Bericht von Ende Februar bei sämtlichen Indikatoren deutlich unter dem Zürcher Durchschnitt liegt. «In Qualitätsfragen muss es darum gehen, das Beste für jeden Bewohner und jede Bewohnerin herauszuholen.»

Zusammenarbeit mit Pflegeexpertinnen

Um auf der Ebene der Bewohnenden gute Arbeit leisten zu können, geht das KZU folgendermassen vor: Die Indikatordaten gehen viertel- oder halbjährlich an die Pflegeexpertinnen, die jeweils für eine oder zwei Abteilungen zuständig sind. «Die Daten müssen klar adressiert sein und von Fachpersonen bearbeitet werden, die diese Daten auch wirklich verstehen», erläutert Petrig die «konsequente Zusammenarbeit mit Pflegeexpertinnen». In gemeinsamen Besprechungen mit einem vom Heim angestellten Arzt oder einer Ärztin werde dann in jedem einzelnen Fall nach Erklärungen gesucht – und mögliche Verbesserungen eingeleitet.

«Es interessiert mich nicht so sehr, wie hoch ein Indikatorwert ausfällt, wichtig ist vielmehr, ob jeder einzelne Fall wirklich begründet ist», sagt Petrig. Aufgrund komplexer gesundheitlicher Situationen könne es nämlich sein, dass ein Heim auch mal höhere Werte hat. Über die laufenden Bemühungen hinaus nimmt das KZU auch immer wieder mal ein übergeordnetes Projekt an die Hand: Derzeit finden etwa interne Audits statt, um zu prüfen, ob die bewegungseinschränkenden Massnahmen «state-of-the-art entschieden, dokumentiert und evaluiert werden».

Ganz ähnlich ist das Vorgehen auch bei RPSA La petite Boissière in Genf und dem Zentrum Schlossmatt in Burgdorf. Alle drei Monate, so Anne Plissart, werden die Indikatorwerte gemeinsam mit Pflegeexpertinnen analysiert und falls nötig Verbesserungen eingeleitet. «Am Ende jedes Quartals schaue ich mir die Indikatorwerte an und informiere die einzelnen Teams», schildert Lucia Schenk das Vorgehen. Die Teams analysieren dann mit Unterstützung von Pflegeexpertinnen jeden einzelnen Fall. Darüber hinaus finden monatliche Treffen der Arbeitsgruppe Pflegequalität statt, in der unter anderem auch Auffälligkeiten bei den Indikatorwerten zur Sprache kommen.

Besonderes Augenmerk: Polymedikation

Wie gerade auch die erste nationale Statistik deutlich macht, ist der Anteil der Bewohnenden, die viele respektive zu viele Medikamente einnehmen, in einem grossen Teil der Heime hoch. Im schweizweiten Durchschnitt sind es etwa 42 Prozent der Bewohnenden, die täglich neun Wirkstoffe und mehr zu sich nehmen. Dem Indikator Polymedikation muss deshalb die besondere Aufmerksamkeit der Pflegeverantwortlichen gelten. In Genf ist dazu letztes Jahr sogar ein kantonales Pilotprojekt lanciert worden, an dem mit «Les Charmilles» auch der grösste Standort der RPSA-Gruppe teilgenommen hat. Mittlerweile werden die Massnahmen in allen drei Standorten der RPSA-Gruppe umgesetzt: Gemeinsam mit dem für das Heim zuständigen Arzt oder der zuständigen Ärztin prüft eine klinische Pharmazeutin in regelmässigen Abständen die Medikation der Bewohnenden. «Im Rahmen des Pilotprojekts konnte die Medikation deutlich reduziert werden», sagt Anne Plissart. Bei der flächendeckenden Umsetzung erweise sich jetzt aber die Zusammenarbeit mit den individuellen Hausärzten und Hausärztinnen der Bewohnenden als Herausforderung.

«Am Ende jedes Quartals schaue ich mir die Indikatorwerte an und informiere die einzelne Teams. Diese analysieren mit Unterstützung von Pflegeexpertinnen jeden einzelnen Fall.» Lucia Schenk, wissenschaftliche Mitarbeiterin Pflege und Therapie im Zentrum Schlossmatt Burgdorf BE

Im Zentrum Schlossmatt in Burgdorf ist der Anteil der Bewohnenden mit Polymedikation reduziert worden, indem die Teams der einzelnen Abteilungen die Medikation der Bewohnerinnen und Bewohner alle drei Monate konsequent überprüfen – und gemeinsam mit der Heimärztin entsprechende Massnahmen besprechen. «Die gesundheitliche Situation verändert sich laufend, und deshalb braucht es eine kontinuierliche Anpassung der Medikamente», sagt Lucia Schenk. Mit den Hausärztinnen und Hausärzten lassen sich die Medikamente nicht so rasch anpassen. Die individuellen Ärzte seien aufgrund ihrer knappen Ressourcen im Übrigen froh, wenn sie durch die Heimärztin entlastet sind.

Ähnlich funktioniert es im KZU, wie Marlies Petrig erläutert: «Wir haben auch bei uns die freie Arztwahl, die Bewohnenden stellen aber jeweils schnell auf die vom Heim angestellten Ärztinnen und Ärzte um, weil deren Erreichbarkeit viel höher ist.» Über die Jahre habe sich bei der Pflege und der Heimärzteschaft eine hohe Sensibilität bezüglich einer adäquaten Medikation entwickelt.
 



Foto: KZU