SELBSTBESTIMUNG | Zuversicht trotz ungewisser Zukunft

12.06.2024 Anne-Marie Nicole

Celina und Thalya, beide um die 20, haben einen Teil ihrer Kindheit und Jugend in einem Heim verbracht. Vor einem Jahr haben sie an einem Theatervermittlungsprojekt teilgenommen, das einen Wendepunkt in ihrem bisherigen Leben bedeutete und ihnen geholfen hat, den Sprung in die Selbstständigkeit zu schaffen – mit Vertrauen und Wünschen für die Zukunft.

Von der metallenen Passerelle aus lässt Celina Chraiet ihren Blick durch den leeren, halbdunklen Theatersaal schweifen. «In diesem Theater zu sein, weckt schöne Erinnerungen, ich mag diesen Ort», sagt sie. Neben ihr steht Thalya Casmiro und pflichtet ihr bei: «Diese Atmosphäre wieder zu spüren, ist ein bisschen wie nach Hause zu kommen.» Beide waren nicht mehr ins Theater Comédie de Genève zurückgekehrt, seit sie vor einem Jahr an einem Theatervermittlungsprojekt teilgenommen hatten. Entstanden war dieses aus einer Zusammenarbeit zwischen dem Verein Port d’Attache, einer Anlaufstelle für die Unterbringung von Kindern, und dem Foyer de la Servette, einer sonderpädagogischen Institution.

Die Aufführung mit dem Titel «Halte» gab vier jungen Frauen, die einen Teil ihres Lebens in einem Heim verbracht haben, eine Stimme. Sie teilten Emotionen und prägende Momente ihres Lebens – aus einer erschütternden Kindheit und einer chaotischen Jugendzeit – mit dem Publikum. Unter der aufmerksamen und wohlwollenden Leitung von Marika Dreistadt, Schauspielerin und Regisseurin, schrieben die vier jungen Frauen – begleitet von einem jungen Mann – eigene Texte über das Heimleben, die Beziehung zu ihren Eltern sowie die Kämpfe und setzten sie auf der Bühne schliesslich theatralisch um. Das Stück war eine Mischung aus ihren Geschichten, Musik- und Tanzeinlagen sowie einer Prise Humor, die der Aufführung etwas von ihrer Schwermut nahm.

Eine echte Therapie

Celina und Thalya sind sich einig: Diese Aufführung war eine echte Therapie und trotz Publikum ein Moment für sie ganz allein. Sie ermöglichte es ihnen, etwas Abstand vom Erlebten zu gewinnen. «Es hat mich sehr berührt, meine Freunde nach der Aufführung weinen zu sehen. Sie haben mir Emotionen vermittelt, die ich nicht ausdrücken konnte, weil ich zu meinem Schutz so hohe Mauern um mich herum aufgebaut hatte», erzählt Thalya, die diese Erfahrung als beruhigend empfand. Obwohl es schwierig war, von sich zu erzählen: Die Idee einer Aufführung fand bei Celina sofort Anklang. Aufgrund ihrer geschwächten Gesundheit hatte sie jedoch Angst, nicht stark genug zu sein und das Projekt zu gefährden. «Es war viel Arbeit und ein grosses Engagement. Ich bin sehr glücklich, ein Teil davon gewesen zu sein!»

Unter der Anleitung von Marika Dreistadt beschlossen die jungen Frauen, eine besondere Episode ihres Lebens zu beleuchten oder einen Einblick in ihre eigenen Fragestellungen zu gewähren. Thalya entschied sich für eine kritische Situation, die sich bei ihr zu Hause ereignet und ihr gezeigt hatte, dass sie absolut keine Schuld trifft am zahlreichen Hin und Her zwischen Elternhaus und Heim – im Alter von 11 bis 15 Jahren war sie in rund zehn verschiedenen Institutionen. Zudem thematisierte sie, wie sie mit 17 für zwei Monate abgehauen war, und beendete die Aufführung mit einem Lied über Selbstvertrauen und Resilienz. «So konnte ich eine recht lange Phase meines Lebens abschliessen und Autonomie erlangen», sagt sie.

«Man erhält Sozialhilfe, ist aber ganz allein. Am Anfang habe ich oft geweint, als ich nach Hause kam, ich hatte keine Lust mehr auf dieses Leben.» Celina

Celina hingegen wollte ausdrücken, wie sie sich zu jener Zeit fühlte, und ihre Zukunftsängste mit dem Publikum teilen. «Aber ich wollte auch zeigen, dass das Leben trotz dieser ungewissen Zukunft, trotz fehlender Unterkunft und Ressourcen schön ist!» Für sie waren die über die ganze Aufführung verteilten humorvollen Einlagen eine Art zu sagen: «Dass wir Heimkinder sind, bedeutet nicht automatisch, dass wir eine schlechte Erziehung haben oder uns nicht benehmen können – im Gegenteil: Wir können leben wie alle anderen, auch wenn wir nicht die gleichen Chancen hatten.»

Der Wille, es zu schaffen

Celina ist 21 Jahre alt, Thalya wird im September 20. Ihre Wege kreuzten sich um einige Jahre verschoben in den gleichen Heimen. Beide hatten bisher einen ähnlichen Lebensweg, was eine gewisse Verbundenheit weckt, wenn sie von ihrem Erlebten und ähnlichen Situationen erzählen. Ihre Persönlichkeit scheint ganz unterschiedlich zu sein, und dennoch haben sie etwas gemeinsam: die innere Kraft, den Willen, es zu schaffen und zu leben. Hinter ihren Worten versteckt sich eine grosse Klarheit, Aufrichtigkeit und Entschlossenheit. Wenn es um die Vergangenheit geht, kommen auch Emotionen hoch.

Mit 17 Jahren kam Celina erst spät ins Heim. Auslöser war der x-te Familienstreit, der heftiger ausgefallen war als sonst. Ein Ereignis, dass sie kaputtgemacht hat, wie sie offenbart: Bruch mit den Eltern, psychologischer Druck, grosse Einsamkeit. Zuerst kam es zu einer Notfallunterbringung, danach zur Platzierung in einem Jugendheim. In den Monaten nach dem besagten Streit rutschte sie in eine Depression und Magersucht. «Ich hätte viel früher platziert werden müssen», findet sie. Denn schnell hatte sie das Alter von 18 Jahren und damit die Volljährigkeit erreicht. Viele Jugendliche freuen sich auf diesen Moment. Für sie bedeutete dies jedoch «tschüss, meine Liebe!», wie sie sagt, und den Beginn der Schwierigkeiten: keine Unterkunft, keine Unterstützung, sich anhäufende Rechnungen und Träume, die sich in Luft auflösten. Als gute Gymnasialschülerin wollte sie Medizin studieren, ihr Gesundheitszustand liess dies jedoch nicht zu.

«Das Schwierigste ist die 
fehlende familiäre Unterstützung. 
Du kommst nach Hause und 
es ist niemand da. Du musst alles allein bewältigen, das Essen, 
die Wäsche, die Rechnungen.» Thalya

Alarmiert von Celinas Situation, wies der Sozialdienst ihr eine Beiständin zu. Diese unterstützte sie bei der Erledigung ihrer Angelegenheiten und organisierte ein Zimmer in einer Institution, die sich an junge Menschen zwischen 16 und 25 in Ausbildung oder mit einem tiefen Einkommen richtet und den Übergang in die Selbstständigkeit und ins Erwachsenenalter erleichtert. Auch Thalya war mit 18 in diesem Heim. «Ich habe es gehasst!», sagt sie, «zu viele Jugendliche, mangelnde Hygiene, keine Privatsphäre.» Und obwohl auch sie eine gute Schülerin war, brach sie die Schule ab.

Der lange Weg in die Selbstständigkeit

Es braucht Mut, um wie die beiden jungen Frauen auf der Bühne öffentlich von sich zu erzählen – zumal auch Angehörige im Publikum sitzen können und einen vielleicht nicht verstehen. Genauso viel Mut braucht es, um das eigene Leben in die Hand zu nehmen und selbstständig zu werden. Leider ähneln die Erfahrungen von Celina und Thalya jenen von vielen anderen Careleaverinnen und Careleavern – jungen Menschen, die einen Teil ihres Lebens in einem Heim oder einer Pflegefamilie verbracht haben und mit dem Erreichen der Volljährigkeit den Weg in die Selbstständigkeit gehen. Diese jungen Menschen sehen sich in Bezug auf Wohnsituation, Ausbildung und finanzielle Mittel mit grossen Herausforderungen konfrontiert und stossen auf strukturelle und gesetzliche Hürden, manchmal auch auf Lücken im System. Meistens fehlt auch die familiäre Unterstützung. Die nationale Studie «Jugendhilfeverläufe: Aus Erfahrung lernen» (JAEL) hat zum Ziel, die unterschiedlichen Entwicklungsverläufe von ehemalig ausserfamiliär platzierten Kindern und Jugendlichen zu untersuchen.

«Das Schwierigste ist die fehlende familiäre Unterstützung», betont Thalya. «Du kommst nach Hause, und es ist niemand da. Du musst alles allein bewältigen, das Essen, die Wäsche, die Rechnungen. Und wenn es dir nicht gut geht, ist niemand da, der dir zuhört.» Ebenso schwierig sei es, alle Entscheidungen allein zu treffen. Celina stimmt dem zu: «Man erhält Sozialhilfe, ist aber ganz allein. Am Anfang habe ich oft geweint, als ich nach Hause kam, ich hatte keine Lust mehr auf dieses Leben. Was habe ich nur getan, um das zu verdienen? Ich muss viel aushalten.» Zum Glück konnte und kann sie immer auf die Unterstützung und das offene Ohr ihres Partners zählen.

Disziplin und harte Arbeit

Während Celina heute zwischen dem Zuhause ihres Freundes und der Institution hin- und herpendelt, wohnt Thalya in einem grossen Studio. «Ich bin selbstständig, bezahle meine Rechnungen und kann Musik machen», freut sie sich. Beide erhalten Unterstützungsleistungen für die Bezahlung von Miete, Krankenkasse, Essen, Unterhalt und Körperpflege. «Wir dürfen arbeiten, aber nicht mehr als 300 Franken pro Monat verdienen», erklärt Thalya. «Wie soll man so den Kopf aus der Schlinge ziehen?»

Beide jungen Frauen haben wieder angefangen zu studieren: Thalya Musik und Celina Soziale Arbeit. Ihr Ziel ist es, die Maturität zu erlangen und dadurch ihre Ausbildung fortsetzen zu können. Und sie haben Ehrgeiz: Thalya strebt Musiktherapie an, Celina schwankt zwischen Psychologie und Kriminologie, weil ein Medizinstudium nicht möglich ist. «Das ist nicht schlimm, die Hauptsache ist, dass es mir Spass macht und ich glücklich bin.» Mit Tränen in den Augen erklärt sie weiter: «Ich bin so froh, das Umfeld verlassen zu haben, in dem ich mich nicht weiterentwickeln konnte. Seither habe ich einen langen Weg hinter mir. Aber ich muss noch lernen, mit mir selbst zurechtzukommen.» Im Moment stellt sie sich im Alltag kleinen Herausforderungen wie Joggen oder Essen. Um mit ihrem Körper Frieden zu schliessen.

Thalya will sich ein gutes Leben erkämpfen, auch wenn sie sich dafür disziplinierter verhalten und hart arbeiten muss. «Mein Leben ist keine Katastrophe, nur weil ich teilweise in einem Heim aufgewachsen bin.» Ihr Ziel ist es, gut zu verdienen, um in einer schönen Wohnung leben und ihre Halbschwestern in die Ferien einladen zu können. «Ich will Ende Monat nicht Pasta essen, sondern Kaviar!», lacht sie.

Im Theater sind die Lichter ausgegangen. Die beiden jungen Frauen verlassen den Ort durch den Künstlereingang. Celina steigt auf ihr Motorrad – «ich fahre liebend gern, so fühle ich mich frei!» Und Thalya begibt sich in die Musikschule, um für die kommenden Konzerte zu proben – «kommt doch vorbei!» Alle sind sich einig: Sie hat eine wunderschöne Stimme.


Infos zur Studie «Jugendhilfeverläufe: Aus Erfahrungen lernen» (JAEL)


Hilfe für Careleaverinnen und Careleaver

Das Kompetenzzentrum Leaving Care (KLC): Entstanden im Jahr 2019 etablierte sich das KLC als nationale Drehscheibe zum Thema Leaving Care und leistet schweizweit Sensibilisierungsarbeit. Seit 2023 ist es Teil von YOUVITA, dem Branchenverband der Dienstleister für Kinder und Jugendliche. Der Übergang ins Erwachsenenleben ist für Careleaverinnen strukturell erschwert. So endet die ausserfamiliäre Unterbringung in vielen Kantonen bereits mit der Volljährigkeit oder mit dem Abschluss der Ausbildung. Das KLC fördert über verschiedene Aktivitäten, dass Carelaeverinnen und Careleaver bedarfsorientierte und niederschwellige Unterstützung sowie Chancen- und Rechtsgleichheit im Übergang in die Eigenständigkeit erhalten.
leaving-care.ch

Der Verein Careleaver Schweiz: Entstanden im Sommer 2021 ist der Verein eine schweizweite Dachorganisation, mit der Careleaverinnen und Careleaver in der ganzen Schweiz erreicht werden sollen. Die Unterstützung erfolgt etwa durch die Vertretung von Anliegen gegenüber von Behörden und Gremien sowie den einfachen Zugang zu Informationen.
careleaver.ch

 


 


Foto: amn