SELBSTBESTIMUNG | Die Prioritäten der Seniorinnen und Senioren

12.06.2024 Anne-Marie Nicole

Die Seniorenresidenz Les Bennelats mit 48 betreuten Wohnungen im Zentrum von Porrentruy (JU) ist seit Dezember 2023 in Betrieb. Ihre Besonderheit: Sie wurde mit und für Menschen im Alter konzipiert und gestaltet, die im Rahmen eines partizipativen Ansatzes mit dem Senior Lab in Lausanne ihre Erwartungen äussern konnten.

Jean-Marie Voirol empfängt uns in seiner 2,5-Zimmer-Wohnung im dritten Stock der Seniorenresidenz Les Bennelats im Herzen der Stadt Porrentruy (JU). Der 91-Jährige war der erste Mieter dieser neuen Residenz. Seit der Eröffnung am 1. Dezember 2023 wohnt er hier. Die 48 betreuten Wohnungen der Seniorenresidenz Les Bennelats gehören zur Gruppe Les Pénates, die ihren Namen den römischen Schutzgöttern des Haushalts verdankt. Dieses 2022 von der Gemeinde Porrentruy gegründete Unternehmen umfasst auch das Pflegeheim Les Planchettes, das Tageszentrum Le Bois Husson sowie den Spitex-Dienst Seraino.

Der Eingangsbereich der Wohnung führt in ein grosses Wohnzimmer mit integrierter und voll ausgestatteter Küche. In diesem hellen und geräumigen Raum bewegt sich unser Gastgeber mühelos mit dem Rollator, denn seine Knie tragen ihn nicht mehr allein, wie er uns erklärt. Vom Wohn- und vom Schlafzimmer aus hat er Zugang zu einer Loggia mit Blick auf die belebte Strasse, den Park und die Geschäfte im Quartier. Aus seinem alten Zuhause hat Jean-Marie Voirol mehrere Möbel mitgenommen: einen Sessel, ein Sofa, einen Schrank, eine Anrichte, einen Tisch, Stühle – alles Bezugspunkte, die von einem langen Lebensweg zeugen. Ein Porträt seiner Frau, ein grosses Familienfoto und ein Bild, auf dem eine Dorfstrasse und im Hintergrund sein Elternhaus zu sehen sind, zieren die weissen Wände. «Ich fühle mich hier zu Hause», sagt er mit einem Lächeln im Gesicht.

Eigentlich war geplant, dass er hier zusammen mit seiner Frau einzieht. Doch leider hat sich ihre Gesundheit so stark verschlechtert, dass ein Eintritt ins Pflegeheim Les Planchettes für sie die bessere Wahl war. «Für mich war das Pflegeheim zu früh», betont Jean-Marie Voirol. «Ich bin noch gesund, ich schätze meine Autonomie, will mich frei bewegen und selbst über mein Leben entscheiden können. Hier sind alle frei, niemand wird zu etwas gezwungen.» Er geht gerne einkaufen und kocht selbst, besucht aber auch regelmässig seine Frau im Pflegeheim, um dort gemeinsam mit ihr zu Mittag zu essen.

Unbestrittene Vorteile

Um bei unserem Besuch nichts zu vergessen, hat Jean-Marie Voirol im Vorfeld auf einem Zettel alles notiert, was ihm am Leben in der Seniorenresidenz gefällt – ohne dabei auf eine bestimmte Reihenfolge zu achten: eine durchdachte Wohnung mit allem Nötigen und guter Schalldämmung, eine ideale Lage im Stadtzentrum und eine schöne Aussicht auf das Schloss. Hinzu kommt ein interner Fernsehkanal – «wie im Hotel» – mit Informationen zum Wetter des Tages, zu den verfügbaren Menüs der Woche, den angebotenen Aktivitäten und der Belegung der drei auf die Stockwerke verteilten Gemeinschaftsräume, die den Mieterinnen und Mietern zur Verfügung stehen. Ausserdem schätzt der kontaktfreudige Mann neue Begegnungen und die Aktivitäten, an denen er jeden Montag- und Donnerstagnachmittag teilnehmen kann: Filme, Spiele, Vorträge, Ausflüge und sogar Übungen zum Gedächtnistraining. In seinen Augen liegen die Vorteile auf der Hand, und er versteht nicht, warum ältere Menschen mit kleineren Gesundheitsproblemen zögern, in eine betreute Wohnung zu ziehen.

«Die Selbstbestimmung der Menschen zu respektieren, bedeutet, ihnen zuzuhören, sie zu verstehen, ihre Anliegen zu berücksichtigen und in die Realität umzusetzen. Nur so kann es funktionieren.» Julien Loichat, Direktor des
Unternehmens Les Pénates

Jean-Marie Voirol war von Anfang an überzeugt von dieser Wohnform. Der ehemalige Gemeindepräsident von Porrentruy hat sich immer für die Entwicklung von Betreuungseinrichtungen für diverse Zielgruppen mit Unterstützungsbedarf eingesetzt. So ab dem Ende der 1980er-Jahre auch für den Bau des Heims Les Planchettes. Heute ist es ein Pflegeheim, was allerdings nicht immer der Fall war. Bei der Eröffnung im Jahr 1992 und bis 1998 bestand die Einrichtung aus Studios mit Badezimmer und Kochnische für relativ selbstständige Menschen im Rentenalter. Damals sprach man noch nicht von einer Seniorenresidenz, das Prinzip war aber sehr ähnlich. «Schon vor 30 Jahren beschäftigte man sich mit dem Erhalt der Autonomie von Menschen im Alter», berichtet Julien Loichat, Direktor des Unternehmens Les Pénates.

Eine Residenz von und für Senioren

Die Konzeption der Seniorenresidenz Les Bennelats ist weder ein Zufall, noch haben sie die Projektierenden aus dem Hut gezaubert. Noch bevor der erste Grundstein gelegt wurde, war sie Gegenstand eines partizipativen Ansatzes unter der Leitung des Senior Labs – einer interdisziplinären Plattform für Innovation und angewandte Forschung mit Sitz in Lausanne, die von drei Waadtländer Hochschulen gegründet wurde: dem Institut et Haute École de la Santé La Source, der Haute École d’Ingénierie et de Gestion du Canton de Vaud (HEIG-VD) und der École cantonale d’art de Lausanne (ECAL). «Ziel war es, das Projekt zusammen mit potenziellen zukünftigen Mieterinnen und Mietern zu entwickeln», erklärt Rafael Fink, Community Manager des Senior Labs. In dieser Funktion ist er zuständig für die Koordination der Plattform für angewandte Forschung und Innovation, die der Lebensqualität älterer Menschen gewidmet ist, und realisiert partizipative Projekte unter Einbezug von Seniorinnen und Senioren.

Der Sinn einer solchen partizipativen Vorgehensweise liegt darin, ein besseres Verständnis der Bedürfnisse und Erwartungen älterer Menschen zu entwickeln sowie mit ihnen und für sie nach innovativen umfassenden Lösungen zu suchen. «Die Herausforderung eines solchen Ansatzes besteht darin, die Repräsentativität der Seniorinnen und Senioren, die eine sehr heterogene Zielgruppe bilden, auch tatsächlich zu berücksichtigen und einen Rahmen zu schaffen, der die Äusserung ihrer Bedürfnisse begünstigt», so Rafael Fink. Denn «die Senioren, die an solchen Projekten mitwirken, sind nicht einfach dazu da, eine bereits vorgegebene Lösung gutzuheissen». Vielmehr bringen sie einen realen sozialen Nutzen in die Entwicklung von Projekten ein, die ihren Wünschen entsprechen.

Ein partizipativer Ansatz umfasst in der Regel drei Phasen, erklärt Rafael Fink: eine Explorationsphase, um die Bedürfnisse und Erwartungen der Senioren zu ermitteln und zu verstehen, gefolgt von einer gemeinsamen Lösungsentwicklung und schliesslich der Umsetzung, Anpassung und kontinuierlichen Verbesserung. Für das Projekt der betreuten Wohnungen in Porrentruy nahmen im Herbst 2019 rund 20 Personen an mehreren Workshops teil: Seniorinnen und Senioren, Pflegefachkräfte, Architektinnen und Bauprojektträger. Ziel war es, das zukünftige Dienstleistungsangebot zu definieren. Die Teilnehmenden erörterten die Gründe, die für oder gegen ein Leben in einer solchen Wohnform sprechen könnten, und stellten sich die ideale Wohnung und das ideale Quartier vor. «Wir gehen immer von einer Idealvorstellung aus und konfrontieren sie mit der lokalen Realität und dem, was tatsächlich umsetzbar ist. Diese Konfrontation erlaubt uns, unter den von den Senioren geäusserten Erwartungen Prioritäten zu setzen und zu bestätigen», erläutert Rafael Fink.

Die acht Schlüsselfaktoren für den Erfolg

Der partizipative Ansatz hat die Mindestgrundlagen für den Bau der Seniorenresidenz Les Bennelats hervorgebracht und ermittelt, was das Projektteam des Senior Labs als «Schlüsselfaktoren für den Erfolg» bezeichnet: nämlich jene Elemente, die «bei der Konzeption von Wohnungen als unerlässlich zu betrachten sind und ohne die es schwierig oder sogar unmöglich ist, Seniorinnen zu gewinnen». Das Projekt der Residenz zählt acht Schlüsselfaktoren für den Erfolg: 1. Den Erhalt der Lebensgewohnheiten und der Unabhängigkeit der Mieter, 2. Das Vorhandensein eines Balkons, 3. Ein sozialer Betreuungsdienst, 4. Eine Dusche anstatt eine Badewanne, 5. Eine gut erschlossene Lage im Stadtzentrum, 6. Parkplätze, 7. Ein Waschturm in der Wohnung und 8. Keine Wohngemeinschaft.

Die Seniorenresidenz Les Bennelats erfüllt alle Kriterien. Sie hat diese acht Schlüsselfaktoren für den Erfolg perfekt in die Konzeption der Wohnungen integriert. «Wir verfügen über die Erfahrung und Kompetenzen im Bereich der Menschen im Alter, behaupten aber nicht, alles zu wissen», betont Julien Loichat, der diesen partizipativen Ansatz begrüsst. «Er fördert eindeutig die Autonomie der Personen», fährt er fort. «Die Selbstbestimmung der Menschen zu respektieren, bedeutet, ihnen zuzuhören, sie zu verstehen, ihre Anliegen zu berücksichtigen und in die Realität umzusetzen. Nur so kann es funktionieren.»

Der Direktor nennt auch einige in seinen Augen überraschende Resultate. So zum Beispiel den Wunsch, über Parkplätze zu verfügen. «Wir dachten, dass die Seniorinnen und Senioren mit dem Umzug ins Stadtzentrum ihr Auto abgeben werden, aber das ist nicht der Fall.» Die Projektträger sahen eine gemeinsame Waschküche vor, um einen Treffpunkt zu schaffen. Doch die potenziellen Mieter fanden dies zu umständlich. Sie waschen lieber in ihrer Wohnung. Ausserdem wollen auch die Senioren keine Badewanne mehr, sondern eine ebenerdige Dusche. «Was sich die Menschen hier wünschen, ist eine Sicherheit und eine Autonomie, die sie zu Hause aufgrund von diversen Schwierigkeiten sowie fehlenden Infrastrukturen und Nahversorgungsbetrieben nicht mehr haben.»

Mit der Eröffnung der betreuten Wohnungen Les Bennelats, der Inbetriebnahme der Spitex-Organisation Seraino, der Einführung einer neuen IT-Ausrüstung für die Teams und des elektronischen Pflegedossiers sowie eines internen Kommunikationstools war das Jahr 2023 besonders intensiv! Deshalb müsste 2024 das Jahr der Stabilisierung sein. Oder doch nicht?

Zukünftigen Entwicklungen vorgreifen

Julien Loichat und seinem Managementteam mangelt es nie an Überlegungen und Ideen, um zukünftigen Entwicklungen im Bereich der Betreuung und Pflege von älteren Menschen vorzugreifen. «Wir wollen weiterhin Dienstleistungen und Strukturen entwickeln, die die Autonomie von Menschen fördern», so der Direktor. «Die demografische Entwicklung und die Fragen in Zusammenhang mit der Finanzierung müssen uns dazu bewegen, weiterhin langfristig zu handeln.» Die Seniorenresidenz Les Bennelats folgt einer fortschreitenden Logik: Eine modulare Struktur und eine flexible Organisation ermöglichen es, den Dienstleistungsumfang je nach den Bedürfnissen und dem Gesundheitszustand der Mieterinnen und Mieter zu reduzieren oder zu erweitern. In den verschiedenen Strukturen der Gruppe könnten Synergien genutzt werden, unter anderem beim Mahlzeitendienst und durch einen Zusammenschluss der Dienste in den Bereichen Rechnungsstellung, Hauswirtschaft und Aktivierung. Gestützt auf ihre Erfahrung und ihr Fachwissen könnte die Gruppe ausserdem ihre Kompetenzen zur Verfügung stellen, um mit privaten oder öffentlichen Partnern neue Modelle für die Betreuung und Pflege zu Hause zu entwickeln. Dafür könnte sie Sozialreferentinnen einsetzen, mobile Teams schaffen oder betreute Wohnungen in bestehende Mehrfamilienhäuser in den umliegenden Dörfern und Gemeinden integrieren. Ziel dabei ist es, den Verbleib der Menschen in ihrer gewohnten Umgebung zu fördern und ihre Autonomie bestmöglich zu erhalten.
 


 


Foto: amn