SEELE PFLEGEN | «Viele Heime nützen nicht pharmakologische Therapien zu wenig»

01.11.2023 Elisabeth Seifert

Der demografische Wandel hat eine Zunahme psychiatrischer Erkrankungen bei älteren Menschen zur Folge. Egemen ­Savaskan von der Alterspsychiatrie der Universitätsklinik Zürich erläutert die Krankheitsbilder – und macht sich stark für nicht-pharmakologische Therapien. Dafür braucht es Weiterbildungen der Pflegenden und eine Zusammenarbeit mit der Alterspsychiatrie.

Herr Savaskan, psychiatrische Diagnosen in der Bevölkerung nehmen generell zu: Wie beschreiben Sie den psychischen Gesund­heitszustand von Menschen ­ab 65 Jahren?

Man kann nicht sagen, dass psychiatrische Erkrankungen bei alten Menschen zunehmen. Man kann aber ­sagen, dass die Menschen heute länger leben, wodurch es immer mehr ältere Menschen gibt. Das führt zu einer höheren Zahl psychiatrischer Krankheitsbilder in dieser Altersgruppe.
 

Es gibt also eine durch den demografischen Wandel bedingte ­Zunahme an psychischen Erkrankungen bei älteren Menschen?

Ja, genau. In der Gruppe der betagten und hochbetagten Menschen haben wir es zudem mit spezifischen psychischen Krankheitsbildern zu tun. Ganz besonders sind hier die verschiedenen Arten von Demenz zu nennen. Solche kognitiven Störungen treten vor allem im Alter auf. Demenzerkrankung ist eine globale Hirnerkrankung, das heisst, verschiedene Systeme im zentralen Nerven­system sind betroffen. Deshalb treten mit Demenz eine Vielfalt von psychiatrischen Symptomen auf.
 

Demenzerkrankungen führen also nicht nur zu Gedächtnisproblemen oder kognitiven Störungen? 

Demenzprobleme stellen ein grosses Problem dar, weil sie eben eine Reihe von psychiatrischen Symptomen zur Folge haben. Man spricht hier von den sogenannten BPSD-Symptomen, den Behavioural und Psychological Symptoms of Dementia. Dazu zählen Apathie, Agitiertheit, Angst, Depressivität, Halluzinationen und Wahnvorstellungen sowie Verhaltensstörungen in Form von motorischer Unruhe, unangemessenem Verhalten, sexueller Enthemmung und verbaler oder körper­licher Aggression.
 

Wie oft kommt es zu diesen ­zusätzlichen Symptomen?

Studien zeigen, dass praktisch alle Demenz­erkrankten mindestens ein zusätzliches Symptom entwickeln und zum Teil auch weitere. Die Hälfte der Demenzerkrankten hat eine Depres­sion. Eine solche Depression entwickelt sich oft zu Beginn einer Demenz. Wenn ein älterer Mensch zum ersten Mal in seinem Leben eine Depression entwickelt und zu uns in die Memoryklinik oder in die Alterspsychia­trie kommt, dann nehmen wir alle ­De­menz­­­abklärungen vor.
 

Was unternehmen Sie dann in solchen Fällen? 

Gegen die Demenz an sich können wir noch immer nichts machen, wir können aber die Begleitsymptome behandeln. Wenn man eine Depres­sion gut behandelt, und hier denke ich neben Medikamenten ganz besonders auch an psychotherapeutische Massnahmen, dann kann man einen Teil der Alltagseinschränkungen rückgängig machen. Gerade in den frühen Phasen einer Demenz kann damit die Alltagsfähigkeit gut erhalten werden. Eigentliche psychotische Symptome wie Halluzinationen und Wahn treten erst im späteren Verlauf auf.
 

Psychiatrische Erkrankungen ­im Alter haben oft somatische Ursachen? 

Es verbinden sich physische Krankheitsbilder tatsächlich öfters mit psychischen Erkrankungen. Diabetes zum Beispiel oder Kreislauferkrankungen wie Bluthochdruck, Herzinfarkt oder Schlaganfall können Depressionen hervorrufen. Diese Erkrankungen sind Risikofaktoren für eine Depression, und umgekehrt ist eine Depression ein Risikofaktor für diese Erkrankungen. Aufgrund verschiedener Krankheiten kommt dann auch die Polypharmazie ins Spiel …
 

… kann die Nebenwirkung von Medikamenten auch zu psychischen Erkrankungen führen?

Viele Betagte nehmen eine Reihe von somatischen Medikamenten. Dadurch kommt es vermehrt zu Interaktionen zwischen den Wirkstoffen und zu mehr Nebenwirkungen. Diese können auch Depressionen auslösen. Insbesondere bei Frauen beobachten wir einen vermehrten Konsum von Benzo­diazepinen und Sedativa, um Schlafstörungen zu bekämpfen. Solche Medi­kamente können rasch zu einer krankhaften Abhängigkeit führen. Gleiches gilt ­auch für den Konsum von Schmerzmitteln. 
 

Psychische Störungen treten bei alten und hochbetagten Menschen aber sicher auch un­abhängig von somatischen Ursachen auf?

Ja natürlich, verschiedene alterspsychiatrische Erkrankungen, ganz besonders die Altersdepression, haben nicht nur somatische Risikofaktoren. Es bestehen vielmehr auch soziale Risikofaktoren. An erster Stelle steht hier sicher die soziale Isolation, die Einsamkeit. Risikofaktoren sind auch der Verlust von Mobilität, der Verlust von Angehörigen oder auch der Verlust eines Haustiers. 
 

Wie beurteilen Sie die Häufigkeit von Altersdepressionen?

Aufgrund der demografischen Entwicklung stellen wir bei betagten Menschen neben der Zunahme verschiedener Arten von Demenz vor allem auch eine Zunahme von Depressionen fest. Diese wiederum stehen oft am Beginn einer Abhängigkeitserkrankung. Bei Frauen wird diese vor allem durch Medi­kamente verursacht, bei Männern durch Alkohol. 
 

Depressionen sind die häufigste psychische Erkrankung in der ­Gesellschaft allgemein. Sie ­stehen also auch bei den über 65-­Jährigen ganz weit vorne? 

Depressionen kommen auch bei betagten Menschen oft vor. Sie treten aber in einer anderen Form auf als bei jüngeren Menschen. Wir beobachten oft eine Chronifizierung, und hinzu kommt dann noch eine Resistenz ­gegen medikamentöse Therapien. 


Was meinen Sie mit «Chronifizierung»?

Anders als bei Jüngeren beobachten wir im Alter sehr viele subsyndro­male Depressionen. Das heisst, sie erreichen nicht die Schwelle einer schweren Depression. Zudem stehen sie oft in Verbindung mit körperlichen Symptomen wie Schmerzen, Schwindelgefühl und Schlafstörungen. Depressionen im Alter sind oft auch unterdiagnostiziert. Dies führt dann auch zu einer Zunahme der Suizidalität. 
 

Wie erklären Sie die Therapie­resistenz?

Wenn bei einer Person zum Beispiel schon in jüngeren Jahren Antidepressiva eingesetzt worden sind, dann kann es zu einem Abbau an entsprechenden Rezeptoren im Gehirn kommen. Die betagten Menschen benötigen zudem, wie ich bereits erwähnt habe, viele andere Medikamente, was zu unerwünschten Interaktionen führen kann. Wir setzen Medikamente deshalb in vorsichtiger und niedrigerer Dosierung ein. Damit sind wir im Bereich der medi­kamentösen Behandlung aber ­weniger effektiv.


Sie zeichnen ein komplexes Bild der psychiatrischen Krankheitsbilder im Alter. Ist sich die ­Gesellschaft dieser Problematik bewusst?

Die Sensibilisierung schreitet voran. Die Schweiz macht sehr viel, gerade auch im internationalen Vergleich. ­Erwähnen möchte ich besonders die nationale Demenzstrategie von 2014 bis 2019. Diese hat im Bereich der ­Prävention und Diagnostik viel bewirkt. Wir von der Schweizerischen Gesellschaft für Alterspsychiatrie und Alters­psychotherapie haben parallel dazu Therapieempfehlungen im Bereich Demenz entwickelt sowie für Alters­depressionen, für Abhängigkeitserkrankungen oder für das Delir im Alter. 
 

Medikamentöse Therapien ­werden zunehmend kritisch ­betrachtet.

Derzeit erarbeite ich gerade eine Revision unserer Empfehlungen, zwei Drittel davon sind nicht-pharmakologische Massnahmen. Für viele alterspsychiatrische Krankheitsbilder reichen diese aus. Es gibt aber Krankheiten, die auf eine medikamentöse Therapie angewiesen sind. Wir müssen dafür die verschiedenen Medikamentengruppen sehr differenziert betrachten. Sedativa, dazu zählen Benzodiapezine und Hypnotica, empfehlen wir wirklich gar nicht. Diese Medikamente können bei alten Menschen Delir verursachen und zu Abhängigkeiten führen. 
 

… kommen solche Medikamente in der Praxis dennoch zum ­Einsatz? 

Das war vor allem noch vor einigen Jahrzehnten der Fall. Heute sind gerade auch in Alters- und Pflegeheimen Antipsychotika verbreitet. Auch diese Medikamentengruppe müssen aber kritisch betrachtet werden, weil es ebenfalls zu Nebenwirkungen kommt. Es gibt sehr starke Antipsychotika, die bei Wahn oder Halluzinationen angewendet werden, und es gibt schwächere Medikamente, die bei Aggressivität und Unruhe oder auch als Schlafmittel zum Einsatz kommen. 
 

Empfehlen Sie den Einsatz von Antipsychotika?

Antipsychotika sind nur in Ausnahme­fällen angezeigt, nämlich in schweren Fällen mit psychotischen Symptomen, die zu Aggressivität gegenüber sich selbst und anderen führen. Das ist vor allem im späteren Verlauf einer Demenz der Fall. Eine weitere Medikamentengruppe sind die Antidepressiva. Diese haben eher wenige Nebenwirkungen. Wir empfehlen sie neben Psychotherapien bei schweren Depressionen. Leichte bis mittelschwere Depressionen können hingegen gut einzig mit Psychotherapien behandelt werden.
 

Sie haben es angesprochen: ­Gerade Antipsychotika sind in ­Alters- und Pflegeheimen ­vielfach verbreitet.

Viele Pflegeheime nützen heute die nicht-pharmakologischen Therapien einschliesslich der Psychotherapien noch viel zu wenig. Wenn wir diese Therapien besser nützen könnten, bräuchten wir weniger Medikamente, gerade auch bei den rund 30 bis 40 Prozent der Bewohnenden in den Alters- und Pflegeheimen, die an Demenz erkrankt sind.
 

Können Sie das näher ausführen?

Nicht-pharmakologische Therapien sollten als Therapien der ersten Wahl bei Demenzpatientinnen und -patienten angewendet werden. Die meisten Demenzerkrankten haben zum Beispiel Schlafstörungen. Das hat wesentlich auch damit zu tun, dass sie sehr zurückgezogen leben. Wenn sie aber jeden Tag aktiviert werden und ausreichend Licht bekommen, können sie auch besser schlafen. Besonders bewähren sich zu diesem Zweck auch eigentliche Lichttherapien. 

«Ein wichtiger Punkt ist die Weiter­bildung der Pflegenden, damit sie all die nicht-pharmakologischen Therapien kennen und anwenden können.»

Weil solche nicht-pharmako­­­­­­­­­­­lo­gi­schen Therapien aber sehr ­personalintensiv und damit teuer sind, kommen dann aber eben oft Medikamente zum Einsatz?

Ja, aber ich möchte das nicht als Vorwurf formulieren. Viele Pflegeheime machen eine sehr gute Arbeit. Vielfach fehlen aber die Ressourcen für die Fachpflege und das Fachpersonal. Und selbst wenn genügende Geld vorhanden wäre, ist es sehr schwierig, das entsprechend ausgebildete Fachpersonal zu finden. Gerade im internationalen Vergleich verfügt die Schweiz aber doch über eine gute Situation, wir haben bei der Förderung von nicht-­pharmakologischen Therapien aber klar Nachholbedarf.
 

Was ist gerade auch unter den gegebenen Rahmenbedingungen zu tun? 

Ein wichtiger Punkt ist die Weiterbildung der Pflegenden, damit sie all die nicht-pharmakologischen Therapien kennen und anwenden können. Es gibt sehr viele solcher Therapien, etwa die Ergotherapie, die Musiktherapie, Tiergestützte Therapien, Physiotherapie, mobilitätsfördernde Therapie, aber auch gemeinsame Anlässe und psychotherapeutische Therapien. 
 

Braucht es für diese Weiterentwicklung der Pflegenden nicht auch spezialisierte Ärztinnen und Ärzte in den Heimen?

Wir plädieren von der Schweizerischen Gesellschaft für Alters­psy­chiatrie und Alterspsychotherapie dafür, dass jedes Heim den Zugang zu einem Alterspsychiater oder eine Alterspsychiaterin haben sollte. Neben der Versorgung durch Hausärztinnen und Hausärzte braucht es eine solche Spezialisierung. Eine gute Möglichkeit dafür bieten die Konsiliar- und Liaison­dienste von alterspsychiatrischen ­Klini­ken. Diese müssen wir ausbauen. Es gibt aber schweizweit ­zu wenige spezialisierte Kliniken.
 

Im Kanton Zürich gibt es eine vergleichsweise sehr gute ­Versorgung.

Im Kanton Zürich gibt es insgesamt vier Alters­psychiatrische Kliniken, und alle verfügen sie über Konsiliar- und Liaison­dienste. Unsere Klinik zum Beispiel betreut in der Stadt Zürich 34 privat geführte Alters- und Pflegeheime. Für die direkt von der Stadt Zürich geführten Heime ist der stadtärztliche Dienst verantwortlich. Obwohl die Versorgung grundsätzlich gut funktioniert, ist die Finanzierung unserer Dienstleistungen ein Problem. Über den ambulanten KVG-Tarif ­Tarmed sind nur die ärztlichen Leistungen gezahlt. Wir arbeiten aber in der Begleitung der Heime mit interprofessionellen Teams. Die Abgel­tung dafür ist ungenügend. 
 


Altersdepression – was ist zu tun? 

Diagnostik und Therapie der Altersdepression können nur interprofessionell und interdisziplinär angegangen werden. Daher hat eine Expertengruppe unter der Federführung der Schweizerischen Gesellschaft für Alterspsychiatrie und -psychotherapie (SGAP) Empfehlungen erarbeitet, um die diagnostischen und therapeutischen Interventionsmöglichkeiten im Alltag übersichtlich darzustellen und um die Früherkennung und Therapie der Altersdepression zu fördern. 

sgap-sppa.ch


Unser Gesprächspartner

Egemen Savaskan, Jg. 1964, Prof. Dr. med., ist Chefarzt  / Direktor a. i. der Klinik für Alters­­psychiatrie der Psychiatrischen Universitäts­klinik Zürich und Titularprofessor an der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich. Er ist Co-Präsident der Schweizerischen Gesel­lschaft für Alters­psychiatrie und Alters­psychotherapie (SGAP).


Foto: PUK