QUALITÄT | Trockene Zahlen zum Leben erwecken

13.12.2023 Elisabeth Seifert

Ein Pflegeexpertise-Team von drei Personen ist in der Residio AG im luzernischen Hochdorf damit beauftragt, gemeinsam mit den Pflegefachpersonen die Pflegeentwicklung und die damit verbundene Pflegequalität voranzutreiben. Eine Rolle spielen dabei auch medizinische Qualitätsindikatoren. Es sind ­allerdings zahlreiche Bemühungen erforderlich, damit solche Kennzahlen einen echten Mehrwert haben.

Die beiden Häuser Sonnmatt und Rosenhügel stehen, unweit voneinander entfernt, mitten in der stattlichen Gemeinde Hochdorf im Luzerner Seetal, umgeben von einer idyllischen Landschaft. Gegen 180 auf Unterstützung angewiesene Seniorinnen und Senioren werden hier von über 200 Mitarbeitenden gepflegt und betreut. Die beiden Häuser sowie 67 Wohnungen mit Dienstleistungen werden durch die Residio AG betrieben.

In das Besprechungszimmer der «Sonnmatt» dringt Hämmern und Bohren. Teile des Hauses werden umgestaltet und erneuert, um für die aktuellen und künftigen Bedürfnisse gerüstet zu sein. Neben Investitionen in die bauliche Infrastruktur haben Geschäftsleitung und Verwaltungsrat der gemeinnützigen AG wichtige Weichen für die Zukunft ­der Pflege gestellt: Seit Anfang 2023 werden die Pflegeteams der beiden Häuser durch je eine Pflegeexpertin fachlich unter­stützt. Komplettiert wird das Pflegeexpertise-Team durch Sever Draganescu, er ist Bereichsleiter Pflegeentwicklung, und hat einen Masterabschluss in Pflegewissenschaft.

Pflege nach allen Regeln der Kunst

«Die Bewohnerinnen und Bewohner werden älter und haben oft auch mehrere Krankheiten, was die Pflege immer anspruchsvoller macht», erläutert Sever Draganescu den Entscheid der Residio-Verantwortlichen, in die Pflegeexpertise zu investieren. Im Kern bestehe die Aufgabe des Teams ­darin, die Pflegenden in ihrer täglichen Arbeit für und mit den Bewohnenden zu beraten und zu coachen, über die eigenen Handlungen und Standards professioneller Pflege zu reflektieren und sich nach diesen auszurichten. Im Gespräch mit dem Bereichsleiter Pflegeentwicklung fallen immer wieder die Ausdrücke «evidenzbasiert» und «an Standards und Guide­lines orientiert». Diese Maximen gelten entlang dem ganzen Pflegeprozess: von der Ermittlung des Bedarfs einer Person sowie der Definition der Pflegeziele und Pflege­diagnose über die Durchführung der Pflegemassnahmen bis zur Überprüfung von deren Wirksamkeit und der Anpassung der Massnahmen. Draganescu: «All diese Schritte ­sollten sich am neuesten Stand der Forschung ausrichten und wirksam sein.» 

Damit gehört auch die Teilnahme an entsprechenden Studien zum Portfolio von Draganescu. Derzeit engagiert sich die Residio AG am nationalen Implementierungs­programm – Qualität der Langzeitpflege in Alters- und Pflege­heimen 2022 – 2026, kurz NIP-Q-Upgrade genannt. Unter der wissenschaftlichen Leitung des Instituts für Pflegewissenschaft (INS) der Uni Basel wird in enger Zusammen­arbeit mit interessierten Institutionen ein Massnahmenpaket entwickelt, das die datenbasierte Qualitätsentwicklung landes­weit und nachhaltig verankern soll (siehe dazu auch Seite 26). Das Programm knüpft an die Erhebung der sechs medizinischen Qualitätsindikatoren (MQI) an, zu der seit 2019 alle Pflegeinstitutionen in der Schweiz verpflichtet sind. «Es war ein Entscheid der Geschäftsleitung, an diesem Programm teilzunehmen», unterstreicht Draganescu. «Wenn wir die nationalen Indikatoren erheben, dann möchten wir damit auch wirklich etwas machen können.» Nach bestimmten Vorarbeiten ist Ende November in den beiden Häusern der Residio AG mit einem Projekt gestartet worden, bei dem überprüft werden soll, ob die Daten für die Berechnung der MQI auch wirklich korrekt erfasst werden. «Nur wenn wir messen, was wir messen sollen, können die Daten für die Weiterentwicklung der Pflege genutzt werden», betont der Pflegewissenschaftler. Als Folge des Projekts erhofft sich ­Draganescu auch eine Vereinfachung der «teilweise zu kompli­zierten» Datenerfassung. 

Die Teilnahme an NIP-Q-Upgrade interessiert den Pflege­experten auch deshalb, weil er damit aus nächster Nähe mitverfolgen kann, wie sich die Indikatoren und auch die Pflege weiterentwickeln. «Mit der Teilnahme werden wir noch mehr über Qualität in der Pflege reflektieren und unser Qualitätsdenken weiter sensibilisieren.» Als sehr sinnvoll und anregend erachtet er unter anderem den Austausch mit anderen Institutionen im Rahmen von Workshops. «Wir können auf diese Weise voneinander lernen und uns so gemeinsam weiterentwickeln.» 

Umfassendes Verständnis von Pflegequalität 

NIP-Q-Upgrade soll dazu beitragen, so Draganescu, dass die Erhebung der nationalen medizinischen Qualitätsindikatoren nicht als «unangenehme Pflicht» wahrgenommen wird. Der Pflegewissenschaftler fühlt sich dabei einem umfassenden Verständnis von Pflegequalität verpflichtet: «Es gibt einen fachlichen Konsens, dass sich Pflegequalität nicht nur auf Zahlen respektive quantitative Daten reduzieren lässt, sondern vielmehr multifaktoriell zu verstehen ist.» ­Draganescu betont ganz besonders die Bedeutung der Vertrauens- und Beziehungsarbeit. Zur Pflege gehören für ihn deshalb zwingend die Betreuung und die Erhaltung der ­Lebensqualität. 

Dies bedeute auch, dass man aufgrund der Indikatoren nicht einfach auf gute oder schlechte Pflegequalität schlies­sen dürfe. Die Daten der Indikatoren können aber sehr wohl Hinweise auf gewisse Probleme sein. «Es ist deshalb wichtig, genau hinzuschauen und nach Erklärungen für schlechte oder auch gute Indikatorergebnisse zu suchen.» Um einen fortlaufenden Optimierungsprozess einzuleiten, sei dabei eine regelmässige Auseinandersetzung mit den Indikator­ergebnissen erforderlich, wie Draganescu betont. 

In den Häusern der Residio AG finden neben Befragungen von Bewohnenden, Angehörigen sowie Mitarbeitenden denn auch regelmässige Auswertungen der medizinischen Qualitätsindikatoren statt. Zusätzlich zu den sechs nationalen Indikatoren im Bereich der vier Messthemen Mangel­ernährung, bewegungseinschränkende Massnahmen, Polymedikation und Schmerz betreffen diese Auswertungen vier weitere, nur intern erhobene Indikatoren: Medikamentenfehler, Stürze, Dekubitus sowie Aggressionsereignisse.

Fachforen mit dem Pflegefachpersonal

Seit das Pflegeexpertise-Team rund um Sever Draganescu in der Residio AG tätig ist, finden diese Auswertungen auf mehreren Ebenen statt: Jeweils Anfang Jahr erfolgt zuhanden der Geschäftsleitung eine Auswertung über das letzte Jahr hinweg. «In einem Qualitätsbericht interpretieren und plausibilisieren wir die Kennzahlen und leiten daraus Empfeh­lungen sowie konkrete Massnahmen ab.» Dass die Pflege­entwicklung zuhanden des obersten Kaders Massnahmen formulieren darf, sei keine Selbstverständlichkeit, sagt ­Draganescu. Die Empfehlungen und Massnahmen können beispielsweise neue Hilfsmittel betreffen oder auch Verbesserun­gen bei der Infrastruktur.

Ab dem kommenden Jahr will der Pflegeexperte diesen Qualitätsbericht auch gemeinsam mit dem Pflegefach­personal besprechen. «Wenn die Pflegenden feststellen können, dass mit den Zahlen etwas geschieht und wir konkrete Verbesserungen einleiten können, dann erleben sie die ­Erfassung der Zahlen als sinnvoller.» 

Um den Pflegenden aufzuzeigen, wie man die Indikatoren sinnvoll für die tägliche Arbeit nutzen kann, erarbeitet das Pflegeexpertise-Team zudem monatliche Auswertungen der Kennzahlen und stellt diese, ergänzt mit einer ersten Interpretation, den Pflegeteamleitungen zu. Diese analysieren mit den Pflegefachpersonen die Zahlen an monatlich stattfindenden Fachforen und geben Empfehlungen ab. «Wir konnten auf diese Weise bereits Auffälligkeiten erkennen und Verbesserungen einleiten.» Und: «Durch die monat­lichen Überprüfungen lässt sich dann auch die Wirkung von Massnahmen rasch erkennen.»

«Es ist wichtig, genau hin­zu­schauen und nach Erklärungen für schlechte oder auch gute Indikatorergebnisse zu suchen.»
Sever Draganescu, Bereichsleiter Pflegeentwicklung

 

Kritik an der Erhebungspolitik 

Solche Erfolge führen dazu, dass innerhalb der Pflegeteams die Überzeugung wächst, dass die Erfassung der Kennzahlen einen Mehrwert bedeutet. Neben dem obersten Kader spürt Draganescu gerade auch die Unterstützung durch die Pflege­teamleitungen. Ein Dämpfer für all diese Bemühungen ist gemäss Draganescu aber die Erhebungspolitik der natio­nalen Indikatoren.

Wie einige andere Institutionen auch erfasst die Residio AG aus Gründen der Effizienz sämtliche Pflegeleistungen sowie die Daten für die internen und auch die nationalen Qualitäts­indikatoren mit einem Pflegedokumentations­system und nicht über eines der beiden in der Deutschschweiz üblichen Bedarfserfassungsinstrumente Besa oder Rai. Das aber bringt zum einen bei der Übermittlung der Daten für die natio­nalen Indikatoren an das zuständige Bundesamt einen Mehraufwand mit sich: Statt diese gleichsam automatisch verschicken zu können, müssen diese aus dem Pflegedokumentationssystem herausgezogen und in eine Excel-­Liste übertragen werden.

Zum anderen dürfen die Anbieter der Pflegedokumen­tationssysteme gewisse der zur Vergleichbarkeit der Indikatoren wichtigen Daten für die Risikoadjustierung nicht implementieren. Für Draganescu ist klar: Es braucht gleich lange Spiesse für die Pflegedok-Anbieter. «Denn mit der heutigen Einschränkung entfällt die Möglichkeit, dass wir unsere Zahlen mit den Zahlen anderer Institutionen ­unkompliziert vergleichen können.» Solche partnerschaft­lichen Vergleich erachtet er indes als sehr sinnvoll.


 


Foto: Residio AG