PSYCHISCHE GESUNDHEIT | Jetzt in Junge investieren
Übervolle Kinder- und Jugendpsychiatrien in der ganzen Schweiz: Pandemie und Krieg belasten die psychische Gesundheit der Jungen schwer, sind aber nicht allein schuld an der Misere. Diese zeichnet sich schon seit zehn Jahren ab. Nun ist Handeln angesagt, darin sind sich Fachleute und Politikerinnen einig.
Die Jugendpsychiatrien sind am Anschlag. Bereits Anfang 2021 berichtete die «Berner Zeitung» von einem Andrang in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der UPD Bern, «wie wir ihn noch nie erlebt haben».
Auch eine Studie des Kinderhilfswerks Unicef im Sommer 2021 zeigt besorgniserregende Resultate: Von den befragten 1097 Jugendlichen zwischen 14 und 19 Jahren bezeichnet fast jede und jeder Zweite die psychische Gesundheit als «schlechter als vor der Pandemie». Dementsprechend verzeichnete Pro Juventute im Corona-Jahr 2021 fast doppelt so viele Suizid-Beratungen unter der Beratungsnummer 147 wie vor der Pandemie – täglich dachten sieben junge Menschen an Suizid.
Besorgniserregende Ergebnisse aus der stationären Kinder- und Jugendhilfe zeigte auch die Equals-Studie von September 2021 (siehe Link). Und Anfang 2022 berichtete die «Sonntagszeitung», in den beiden Pandemiejahren hätten ambulante Notfalluntersuchungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich um 40 Prozent zugenommen, stationäre Notfalleinweisungen gar um 70 Prozent. Deutliche Zahlen.
Waren Pandemie, Klimakrise und Ukraine-Krieg zu viel für die Psyche unserer Jungen? Alain Di Gallo, Klinikdirektor der Klinik für Kinder- und Jugendliche der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel, sagt: «Ja. Aber nicht nur.»
Verpasst oder zweidimensional erlebt
Tatsächlich sei in der Pandemie viel gelaufen, soziale Ausgrenzung, Einsamkeit, Verlust von Freundschaften hätten eine grosse Auswirkung gehabt, der Leidensdruck sei gross: «Das müssen wir Erwachsenen bedenken, für ein siebenjähriges Kind sind zwei Jahre gefühlt ein ganzes Leben.» In dieser Zeit würden wichtige Entwicklungsschritte tangiert. «Auch Jugendliche können zwei Jahre verpasstes Leben nicht einfach nachholen.» Abschlussfeiern, Maturprüfungen, Schnupperlehren: alles gestrichen. Von Lehrbeginn bis Sportstudium: alles online, zweidimensional. Das habe Spuren hinterlassen.
Hinzu komme, sagt Di Gallo, dass Kinder oft die Symptomträger seien: «Sie reagieren stark auf Unsicherheit und spüren sofort, wenn Eltern gestresst sind.» Deshalb müsse man in der Kinderpsychiatrie ohnehin stark systemorientiert arbeiten, seit der Pandemie erst recht: Auch die Eltern seien in dieser Zeit oft von Haltgebenden zu Haltsuchenden geworden, in dieser Doppelrolle überfordert und unterstützungsbedürftig.
Allerdings ist der Basler Professor mit Fachleuten aus den Kinderpsychiatrien von Genf bis Zürich einig: Der schlechtere psychische Zustand der Jugend zeichnet sich bereits seit zehn Jahren ab. «Corona macht nur diesen Trend noch deutlicher.»
Das Bulletin 2022 des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums Obsan bestätigt das: Im ersten Pandemiejahr 2020 habe sich vor allem ab September eine Zunahme an psychiatrischen Hospitalisierungen gezeigt, heisst es. Aber auch: «Seit 2012 nehmen die psychiatrischen Hospitalisierungen von Kindern und Jugendlichen kontinuierlich zu.»
Woran liegt das? Alain Di Gallo vermutet, dass einerseits psychische Krankheiten in dieser Zeit entstigmatisiert worden seien und zugleich das Bewusstsein dafür gestiegen sei. Und: Psychische Erkrankungen seien nicht kategorial wie eine Schwangerschaft – man ist schwanger oder nicht –, sondern der Übergang sei oft fliessend, die Interpretation veränderbar. Als er noch studiert habe, sei man bei Autismus von einer betroffenen Person auf 1’000 ausgegangen. «Heute, mit der Definition Autismus-Spektrum-Störung in allen Ausprägungsformen, gehen wir von einer betroffenen Person auf 80 aus.»
Medien: Dringend Grenzen setzen
Ausserdem ist Di Gallo überzeugt, dass schon vor Pandemie und Ukrainekrieg andere Herausforderungen den Kindern und Jugendlichen zugesetzt haben: Ein «unglaublich hoher Takt mit laufend neuen Anforderungen und hohem Druck», nicht zuletzt aufgrund extensiver Mediennutzung, sei der psychischen Gesundheit abträglich. «Ich erschrecke, wenn ich sehe, dass die Hälfte der Zweijährigen bereits regelmässig vor einem Tablet sitzt.»
«Rechneten Fachleute 2017 noch mit 15 bis 20 Prozent Kindern und Jugendlichen, die jährlich psychisch erkrankten, sind es heute, nur fünf Jahre später, 20 bis 25 Prozent.»
Er wolle die Medien nicht verteufeln, aber Kinder müssten dringend Resilienz und einen sinnvollen Umgang mit Medien erlernen. Eltern ruft er daher dringend dazu auf, sich Zeit zu nehmen für ihre Kinder. «Kleine Kinder brauchen Aufmerksamkeit, Anregung und Blickkontakt», betont er. «Und ältere Kinder brauchen viel Förderung, aber ohne Überforderung, und klare Grenzen.»
Fakt ist: Rechneten Fachleute 2017 noch mit 15 bis 20 Prozent Kindern und Jugendlichen, die jährlich psychisch erkrankten, sind es heute, nur fünf Jahre später, 20 bis 25 Prozent. Eine massive Zunahme für einen Bereich, der ohnehin personalmässig ebenso unterdotiert ist wie finanziell. «Klar, dass da unser Jugendpsychiatriesystem dekompensiert», findet Alain Di Gallo: «Ein Bett» sei auch in der stationären Jugendpsychiatrie ‘nicht einfach ein Bett’, sondern benötige vor allem genug gut ausgebildetes Personal, viel Beziehungsarbeit, Zeit und Geld. Dort hapere es.
Besonders stark gelitten haben – wie in anderen Zeiten auch – Kinder und Jugendliche mit psychisch und sozial belasteten Eltern oder solche, die in engen Platzverhältnissen von sozialen Kontakten abgeschnitten waren und still vergessen gingen.
«Offensichtlich erfahren Jugendlichen von den Erwachsenen innerhalb ihrer eigenen Systeme nicht mehr ausreichend Stabilität.»
Paradoxerweise sei es einigen nach der Lockerung noch beinahe schlechter gegangen, sagt Di Gallo, weil es ihnen enormen Druck bereitete, als alles wieder scheinbar normal lief: «Jetzt hatten sie das Gefühl, auch wieder funktionieren zu müssen.» Zwar seien sehr viel mehr vorbelastete Kinder und Jugendliche in der Psychiatrie vorstellig geworden, «aber nicht nur». In den Institutionen, in denen ohnehin stark vorbelastete Kinder und Jugendliche leben, hätten die Liaisondienste, die in enger Zusammenarbeit die Kinder- und Jugendinstitutionen psychiatrisch begleiten, vieles auffangen können.
Rappelvoll wegen zu viel Druck
Matthias Luther, Leitender Arzt des Zentrums für Liaison und aufsuchende Hilfen der Klinik für Kinder und Jugendliche der UPK in Basel, sagt allerdings: «Die Anzahl der Platzierungen ist seit dem ersten Lockdown merklich in die Höhe geschnellt, weil die Systeme Familie und Schule überfordert sind, sodass inzwischen die meisten Schulheime und Wohngruppen rappelvoll sind.»
Dies bedeute mehr problematische Interaktionen zwischen den platzierten jungen Menschen und daher auch mehr emotionale Krisen. Die Themen «Klimakrise und Ukraine-Krieg» hingegen erlebt Luther nicht als präsent bei platzierten Jugendlichen: «Für sie sind ihre eigenen Belastungen rund um Familie, Schuldruck und Freundeskreis entscheidend, die merklich zugenommen haben: Offensichtlich erfahren sie von den Erwachsenen innerhalb ihrer eigenen Systeme nicht mehr ausreichend Stabilität.»
Gemäss Studien – die allerdings oft nicht untereinander vergleichbar sind, weil sie nicht die gleichen Alterssegmente erforschen – geht es zwar knapp vier von fünf Kindern und Jugendlichen psychisch gut.
«Der Mangel an geeigneten Therapieangeboten muss durch zusätzliche Finanzierung behoben werden.»
Das heisst aber: Die anderen benötigen Hilfe, und manche von ihnen nicht in sechs oder zehn Monaten, sondern rasch. «Die Hälfte der psychischen Erkrankungen tritt vor dem 16. Lebensjahr auf, und oft helfen schon wenige Interventionen viel Leid vermeiden», sagt Alain Di Gallo. «Geht es um Kinder und Jugendliche, ist jeder Franken gut investiert.»
Handeln ist also dringend angesagt, darin sind sich Fachleute und Politikerinnen einig. An der Nationalen Fachtagung «Jugend im Stresstest» des Schweizerischen Roten Kreuzes vom letzten November forderte Kinderarzt Daniel Frei, Vorstandsmitglied Public Health Schweiz: «Psychisch gefährdete junge Menschen dürfen von Politik und Gesellschaft nicht ihrem Schicksal überlassen werden. Der Mangel an geeigneten Therapieangeboten muss durch zusätzliche Finanzierung behoben werden.»
Sofortmassnahme: Ausbau der Anlaufstellen
Unterstützt wird er von SP-Nationalrätin Sandra Locher Benguerel, die sich seit Jahren für dieses Thema einsetzt und unlängst eine von 18 Parlamentarierinnen und Parlamentariern mitunterzeichnete Interpellation eingereicht hat: Sie spricht von einer «Notsituation», und es dauere Jahre, bis die psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung verbessert sei.
Als dringende Sofortmassnahme verlangt sie deshalb einen Ausbau der niederschwelligen psychosozialen Anlauf- und Beratungsstellen und die dafür nötigen finanziellen Mittel.
Trotz allen besorgniserregenden Meldungen sieht Jugendpsychiater Alain Di Gallo einen Silberstreifen. Noch nie habe man öffentlich so viel über die Situation in der Kinderpsychiatrie geredet, sagt er. Das lasse hoffen. Und: «Kinder haben ein unglaubliches Potenzial und können viel aushalten, wir können in ihre Entwicklung vertrauen.» Sie hätten es aber verdient, dass wir uns in ihre Situation hineinversetzen und uns daran erinnern, wie wir unsere Jugend erlebt haben. «Die zwei Jahre können wir ihnen nicht zurückgeben. Aber wir können sie jetzt unterstützen.»