PSYCHISCHE GESUNDHEIT | «Alles Vertraute ist auf einen Schlag weg»

18.07.2022 Claudia Weiss

Kinder und Jugendliche, die nach einer Flucht bei uns gelandet sind, müssen oft mit enormen psychischen Belastungen umgehen. Sie brauchen Sicherheit und Stabilität, wie Traumatherapeutin Andrea Sehn aus ihrer Arbeit mit sehr traumatisierten jungen Menschen weiss.

Frau Sehn, wie wirkt sich eine Flucht auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen aus?
Das lässt sich nicht so einfach verallgemeinern: Zum einen hängt es davon ab, wie ihre Flucht abläuft, ob sie von Eltern oder Verwandten begleitet wurden oder ob sie auf sich allein gestellt sind.
Zum anderen ist es ein Unterschied, ob sie im Flugzeug oder im eigenen Auto geflüchtet sind, wie das etliche Menschen aus der Ukraine jetzt gerade durchgemacht haben, oder ob sie im überfüllten Gummiboot über das Meer flüchten und fürchten mussten, zu ertrinken. Oder ob sie mit Schleppern durch den Wald geführt wurden und sich unterwegs in Flüchtlingslagern aufhalten mussten.
Und dann kommt es sehr darauf an, wie viel Schrecken und Gewalt sie im Herkunftsland schon mit ansehen oder selber erleben mussten.

Spielt es auch eine Rolle, wie alt die Kinder und Jugendlichen dabei sind, können es die einen besser verarbeiten als die anderen?
Kinder und Jugendliche sind generell besonders vulnerabel, weil sie sich noch in Entwicklung befinden und von Erwachsenen abhängig sind. Sie verstehen vieles noch nicht und verfügen über weniger Ressourcen. Tatsächlich ist es für ein Baby ein schützender Faktor, wenn die Mutter verlässlich da ist. Zugleich sind besonders kleine Kinder voll abhängig von den Eltern, sie verstehen kognitiv nicht, was abläuft, reagieren aber sehr körperlich auf die Ängste der Eltern und übernehmen sie. Später können sie das Erlebte aber nicht bewusst verarbeiten, sondern leiden unter diffusen Beschwerden.
Ältere Kinder und Jugendliche hingegen erleben alles schon sehr bewusst, was einerseits sehr belastend ist, aber später beim Verarbeiten hilfreich sein kann, weil man vieles erklären und einordnen kann.

«Auf der Flucht sind Mädchen und junge Frauen besonders gefährdet: Sie laufen Gefahr, Opfer von sexualisierter Gewalt oder Ausbeutung zu werden.»

Welche Traumata wiegen Ihrer Erfahrung nach am schwersten bei Kindern und Jugendlichen?
Am schwersten traumatisierend wirkt interpersonelle Gewalt, also wenn Menschen anderen Menschen Gewalt antun. Besonders wenn diese Gewalt wiederholt stattfindet, steigt das Risiko für eine posttraumatische Belastungsstörung stark an.
Auf der Flucht sind Mädchen und junge Frauen besonders gefährdet: Sie laufen Gefahr, Opfer von sexualisierter Gewalt oder Ausbeutung zu werden.
Teils haben sie diese sogar bereits in ihrer Heimat erlebt, aber auch auf der Flucht oder im Gastland wird die Notsituation von Frauen oft ausgenutzt, vor allem wenn sie allein unterwegs sind. Bei den Ukrainerinnen haben zum Glück die Medien darauf aufmerksam gemacht.

Männer versuchten, ankommende Ukrainerinnen mit dubiosen Versprechungen anzulocken. Sind Kollektivunterkünfte besser geeignet?
Nein, die Wohnsituation in Kollektivunterkünften ist für Frauen und Mädchen herausfordernd: Diese sind sehr männlich dominiert. Besonders für Mädchen und junge Frauen aus traditionelleren Gesellschaften ist es schwierig, sich darin zu bewegen. Insbesondere wenn sie sexualisierte oder andere Gewalt erlebt haben, wirkt eine solche Unterkunft auf sie sehr beängstigend, ja, oft sogar retraumatisierend.
In der Ambulanz erlebe ich auch junge Frauen, die ohnehin schon schwerwiegende psychische Belastungen aus ihrer Heimat mit sich tragen: Manche haben keine Ausbildung, wurden zwangsverheiratet oder haben eine Genitalverstümmelung erlitten.

«Ein ganz besonders einschneidendes Trauma für Kinder und Jugendliche ist der Verlust von Eltern oder anderen Angehörigen während der Flucht.»

Für uns unvorstellbare Erlebnisse …
Tatsächlich. Und ein ganz besonders einschneidendes Trauma für Kinder und Jugendliche ist der Verlust von Eltern oder anderen Angehörigen während der Flucht. Machen sich Jugendliche sowieso schon Sorgen um ihre Familienangehörigen, die im Heimatland zurückgeblieben sind, werden die Sorgen und Ängste noch viel grösser, wenn es zu Trennungen auf der Flucht kommt. Stellen Sie sich eine Jugendliche vor, die mit ihren Eltern und dem jüngeren Bruder auf der Flucht war. Unterwegs wurde die Familie getrennt, die Eltern wurden von der Polizei aufgegriffen und in das Herkunftsland zurückgeschafft. Die Jugendliche flüchtete allein weiter, und ihr jüngerer, zwölfjähriger Bruder ist seither verschollen.

Daneben wirken Geschichten wie die der beiden Jugendlichen aus der Ukraine, die wir in unserem Online-Beitrag vorstellen, fast harmlos. Und doch bedeutet Flucht per se eine schwere Erschütterung?
Ja, allein die Tatsache, dass sie Verwandte, Freunde, Haustiere, Hobbys, ihr Zuhause, ja, ihr ganzes bisheriges Leben abrupt hinter sich lassen mussten, ist sehr belastend.
In vielen Kulturen spielt die weitere Verwandtschaft mit Grosseltern, Tanten und Onkeln eine sehr wichtige Rolle. Fällt die Sicherheit dieser Grossfamilie weg, stellt das oft alles in Frage: Alle bisherigen Sicherheiten und alles Vertraute sind auf einen Schlag weg, das Leben ist komplett anders geworden.

«Ausserdem belasten Scham- und Schuldgefühle viele Geflüchtete.»

Die Jugendlichen finden sich plötzlich in einem fremden Land wieder …
Und damit haben sie ihren Halt verloren, ihren Alltag, ihre kulturelle Einbettung und ihre Heimat hinter sich gelassen. Und mit der fremden Sprache verlieren sie auch vorübergehend die Möglichkeit, sich mitzuteilen. Solch einschneidende Ereignisse können massive Auswirkungen auf die psychische Gesundheit darstellen.

Und dann sind sie in diesem Gastland manchmal nicht willkommen.
Genau, das stellt dann gleich eine weitere Belastung dar. Die Kinder und Jugendlichen müssen oft mit enttäuschten Erwartungen umgehen und mit mangelnden Perspektiven was die Ausbildung anbelangt. Ausserdem belasten Scham- und Schuldgefühle viele Geflüchtete.

Scham- und Schuldgefühle?
Scham empfinden viele, nachdem sie beispielsweise sexualisierte Gewalt erlebt haben. Oder weil sie zu Handlungen gezwungen wurden, für die sie sich schämen und wegen denen sie sich zugleich schuldig fühlen.
Schuldgefühle entstehen auch manchmal allein daraus, dass sie überlebt haben. Und Scham empfinden manche darüber, dass sie es hier besser haben als andere Landsleute, die in der Heimat zurückgeblieben sind.

Wie äussern sich die daraus entstehenden psychischen Probleme?
Typisch sind sogenannte Flashbacks, Erinnerungen, die durch ein Geräusch oder eine Situation ausgelöst werden können und die traumatische Situation wiedererleben lassen. Probleme zeigen sich auch in einer hohen Anspannung, mit Selbstregulationsproblemen und Reizbarkeit oder Launenhaftigkeit.
Auch Vermeidung von allem, was an das Erlebte erinnern könnte, ist ein typisches Symptom. Das kann dahin führen, dass jemand unversehens in Ohnmacht fällt, sobald irgendein Trigger, ein Auslöser, sie in die traumatisierende Situation zurückversetzt, wie ich das auch schon erlebt habe.

«Längst nicht alle, die Schlimmes erlebt haben, entwickeln eine Posttraumatische Belastungsstörung: Viele erholen sich in einer geschützten Umgebung. Sie können das Erlebte nicht vergessen, aber lernen, damit zu leben.»

Was benötigen traumatisierte Kinder und Jugendliche für ihre psychische Gesundheit?
Ein stabiles Umfeld und Bezugspersonen, die ihnen Halt vermitteln. Längst nicht alle, die Schlimmes erlebt haben, entwickeln eine Posttraumatische Belastungsstörung: Viele erholen sich in einer geschützten Umgebung. Sie können das Erlebte nicht vergessen, aber lernen, damit zu leben, den Alltag zu bewältigen, die Erinnerungen zu kontrollieren.
Jene, die ins Ambulatorium kommen, haben aber oft sehr viele wiederholte Gewalterlebnisse hinter sich, die kumuliert haben. Sie haben extrem Schweres durchgemacht. Wir sehen hier die Spitze des Eisbergs.

Und wie gehen Sie in solchen Fällen an eine Therapiesitzung heran?
Das hängt vom Alter der Kinder und Jugendlichen ab. Häufig steige ich über Hilfsmittel ein: farbige Styroporklötze, mit denen wir zusammen eine schützende Burg bauen. Handpuppen, mit deren Hilfe ich ein Kind ansprechen kann, das vielleicht zu verschüchtert ist, wenn ich es direkt anspreche. Oder Figuren, mit denen ein Jugendlicher eine Szene aufstellen und etwas erzählen kann, ohne von sich zu sprechen.
Im Gespräch können wir diese Situation gemeinsam verändern und der Figur des oder der Jugendlichen eine andere Rolle geben oder ein Krafttier zur Seite stellen. Das hängt sehr von der Person und Situation ab.


Wahre Geschichte

Lesen Sie wie die Geschwister Anna und Bogdan Motruk ihre Flucht aus der Ukraine und die Ankunft in der Schweiz erlebten, wie es ihnen hier geht und was sie beschäftigt.

Geschichte von Anna und Bogda lesen


Bis dahin müssen Kinder und Jugendliche oft wochenlang auf einen Therapieplatz warten.
Deshalb versuchen wir, vermehrt Gruppenangebote aufzubauen: Es kann ein gutes Erlebnis sein zu merken, dass sie nicht allein sind. Und in der Gruppe können sie voneinander lernen. Oft ist es schon wichtig zu merken, dass ihre Gefühle normal sind, dass sie nicht krank sind, sondern traumatisiert.
Auch ein sicherer Alltag mit Struktur und Kontrolle kann abfedernd wirken, sodass das Warten auf einen Therapieplatz weniger tragisch ist. Allerdings wirkt sich ein unsicherer Aufenthaltsstatus sehr kontraproduktiv auf die psychische Gesundheit geflüchteter Kinder und Jugendlicher aus.

Was entscheidet darüber, ob sie ihre Traumata verarbeiten können?
Sicherheit, Geborgenheit und Akzeptanz. Ausserdem hängt die Fähigkeit zum Verarbeiten von individuellen Merkmalen wie Alter und Persönlichkeit ab und davon, ob Kinder oder Jugendliche erschwerende Faktoren mitbringen: eine Behinderung, eine Aufmerksamkeitsstörung wie ADHS oder eine depressive Veranlagung. Auch die Intelligenz spielt eine Rolle: Je nachdem kommt jemand besser zurecht, kann sich rascher anpassen und lernt die Sprache einfacher. Nicht zuletzt spielt die Schule eine zentrale Rolle: Sie vermittelt Normalität und Struktur.
Das sind schützende Faktoren, damit sich Kinder und Jugendliche ungehindert entwickeln und ihre Erlebnisse in den Lebenslauf einbetten können.


Unsere Gesprächspartnerin

Andrea Sehn, 58, ist Fachpsychologin für Kinder- und Jugendpsychotherapie am Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer des SRK in Bern. Sie therapiert regelmässig schwer traumatisierte geflüchtete Kinder und Jugendliche.
 

Foto: Claudia Weiss

 


Unterstützung rund um Traumata

Das Schweizerische Rote Kreuz SRK unterstützt Fachpersonen und Gastfamilien: Die Kantonalverbände bieten Kurse zu Trauma und Flucht und Traumapädagogik an. Ausserdem entwickelt das SRK gegenwärtig zusammen mit Geflüchteten aus dem arabischsprachigen Raum ein E-Mental-Health-Programm. Wenn es sich bewährt, soll es künftig in mehreren «Flüchtlingssprachen» zugänglich sein.

Informationsbroschüre zur Posttraumatischen Belastungsstörung

Kurse und Ausbildungen des Schweizerischen Roten Kreuz