POLITISCHE PARTIZIPATION | «Ich will Elefanten machen!»
Der 30-jährige Cem Kirmizitoprak ist umtriebiger SP-Politiker, Leiter der Beratungsstelle Inklusion und Initiator eines inklusiven Abstimmungskafis. Inklusion, fordert er, müsse auf allen Ebenen stattfinden. Dafür kämpft er mit viel Schwung und Einfallsreichtum.
Cem Kirmizitoprak konnte gar nicht anders: Sein Weg in die Politik war vorgezeichnet. Er lächelt breit, nimmt einen Schluck Espresso und erklärt in sympathischem St. Galler Dialekt, wie das kam: «Ich bin als Kurde in der Türkei geboren, da bekommt man von klein auf mit, dass Sachen ablaufen, die nicht in Ordnung sind, und wird automatisch politisch geprägt.» Kirmizitoprak sitzt aufgrund einer zerebralen Tetraspastik im Elektrorollstuhl. Ein weiterer Grund, immer wieder für seinen Platz und seine Rechte zu kämpfen.
«Vor zwei Jahren fehlten mir nur 600 Stimmen für den Eintritt ins Stadtparlament. Bei der nächsten Wahl sollte es reichen.»
So entwickelte sich der inzwischen 30-Jährige im Lauf der Jahre zum umtriebigen SP-Politiker. «Vor zwei Jahren fehlten mir nur 600 Stimmen für den Eintritt ins Stadtparlament», sagt er, und ergänzt selbstbewusst: «Bei der nächsten Wahl sollte es reichen.» Und zwar ohne Behindertenquote, bewahre, das wäre ihm ein Graus: «Dann weisst du ja gar nicht, ob sie dich gut finden!»
Er hingegen will komplette Gleichstellung. Deshalb ist Kirmizitoprak, Leiter der Beratungsstelle Inklusion und Initiator eines inklusiven Abstimmungskafis, ganz absichtlich manchmal ein aufmüpfiger Zeitgenosse. Als die regionale Spitex neu organisiert wurde, beschwerte er sich umgehend mit einer Medienmitteilung und Facebook-Posts: Die neue Organisation funktioniere so schlecht, dass er als täglicher Spitex-Kunde sogar mehrmals vergessen worden sei, kritisierte er. Daraufhin habe ihn eine Stadträtin harsch verbal angegriffen, weil er das so öffentlich gemacht habe. Er lacht schelmisch. «Das hat mich extrem gefreut.» Gefreut? «Klar, das heisst, man fasst mich nicht mit Samthandschuhen an, sondern nimmt mich für voll.» Dafür setzt er sich ein, unermüdlich, seit Jahren.
«Ich will als Politiker etwas für die ganze Gesellschaft bewirken.»
Als 17-Jähriger beschloss Cem Kirmizitoprak, Gesellschaftsprobleme konkret anzugehen, und trat der Partei der Jungsozialisten bei. Seine Themen, das liegt auf der Hand, waren seit je Behinderung und Migration, aber auch viele andere: «Ich will als Politiker etwas für die ganze Gesellschaft bewirken.»
Als sich vor ein paar Jahren Jugendliche für eine Beleuchtung an der Skatebahn Kreuzbleicheweg starkmachten, übernahm er kurzerhand ihr Anliegen, lancierte eine Unterschriftensammlung und lieferte schon bald 3000 Unterschriften im Stadtparlament ab. Das half, er strahlt, inzwischen ist der Skatepark beleuchtet. Und auf die oft gestellte Frage, warum er als Rollstuhlfahrer sich ausgerechnet für dieses Jugendthema einsetze, für eine Skatebahn, die er selber nie würde nutzen können, antwortete Kirmizitoprak jeweils lakonisch: «Politik machen wir doch nicht nur für uns. Wenn jemand exkludiert wird, setze ich mich ein!»
Fragen rund um Inklusion und politische Teilhabe, ergänzt er, beträfen schliesslich nicht nur Menschen mit Behinderung, sondern auch Jugendliche, Menschen mit Migrationshintergrund, Frauen und viele andere. Er nimmt einen Schluck Espresso, dann wird er fast philosophisch: «Alles hat einen Zusammenhang.»
Politik heisst Einsatz für alle
Deshalb setzt sich Cem Kirmizitoprak für Gleichstellung auf jeder Ebene ein, findet, nicht nur «gewählt werden können», sondern auch «abstimmen und informiert sein», ohne dass man einen Doktortitel haben muss, um die Vorlagen zu verstehen» gehöre zur Teilhabe: «Wir diskutieren nicht umsonst über das Abstimmungsalter 16.»
Exklusive Veranstaltungen gibt es bei ihm nicht. Für sein Abstimmungskafi beispielsweise habe er Trick 77 angewandt und mit Easyvote zusammengespannt, jener Gruppierung, die vereinfachte Abstimmungsbroschüren für Jugendliche gestaltet: «Dank dieser Zusammenarbeit fühlen sich nicht nur Menschen mit Behinderung angesprochen, sondern auch Jugendliche und bestenfalls deren Eltern.» Ein Anlass für alle, so lautet sein Ziel, Inklusion pur.
«Das ist keine SP-Veranstaltung, sondern Inklusion.»
Am 1. September fand das Kafi zum dritten Mal statt, der Ablauf hat sich gut bewährt: Easyvote erklärt jeweils 20 Minuten lang die Vorlagen, danach äussern sich zwei Politikerinnen oder Politiker, je jemand von Links und Rechts. «Das ist keine SP-Veranstaltung, sondern Inklusion», stellt Kirmizitoprak klar. Finanzielle Unterstützung erhält das Kafi noch bis nächstes Jahr vom Kanton St. Gallen, danach wird er schauen, wie er es weiter finanzieren kann. Aber immerhin, er strahlt, ein Echo habe er geschafft.
«Ich bin Cem, SP-Politiker, Kämpfer für Gleichstellung und Macher.»
Die Idee dazu kam ihm an einem Netzwerktreffen des Brachenverbands Insos, bei dem Arbeitsgruppen jeweils ein inklusives Projekt für politische Teilhabe entwickeln sollten. Eine passende Gruppe für sich fand er dort nicht, sie waren ihm alle zu wenig radikal. Er schüttelt den Kopf, als er daran zurückdenkt, wie die anderen fanden, man müsse unbedingt die Institutionen auf das Thema aufmerksam machen. «Nein, die kennen doch das Thema längst!», ruft er vehement. Er hingegen wollte weit mehr: «Sie sollen es umsetzen!»
Cem Kirmizitoprak ist keiner, der wartet, dass Bund, Gemeinden oder Institutionen etwas für ihn übernehmen, sondern einer, der anpackt, «einer, der nicht aufs Maul hockt». Er setzt sich auf dem Rollstuhl zurecht und sagt klar: «Ich bin Cem, SP-Politiker, Kämpfer für Gleichstellung und Macher.» Ein St. Galler Stadtparlamentarier hatte ihn einst scherzhaft als «Cems Bond, Agent für Inklusion» bezeichnet, und das Wortspiel gefiel ihm so gut, dass er es für seinen Facebook-Account übernommen hat: Er will als Person wahrgenommen und als Politiker ernstgenommen werden.
Sein Blick wird scharf, als er sagt: «Behindert bin ich nur, wenn ich eine Treppe vor mir habe oder kein rollstuhlgängiges WC finde.»
Politik heisst auch gerechte Bildung
Schon als Jugendlicher eckte er öfters an mit seinen klaren Ansichten und dezidierten Aussagen. Er grinst und sagt fast ein bisschen stolz: «Ich war ein unbequemer Schüler.» Mit 18 Jahren schliesslich hätte er um ein Haar den Kanton Appenzell Ausserrhoden angezeigt: In der Sonderschule für Menschen mit Behinderung habe er längst nicht die Förderung erhalten, die ihm mit seinen intellektuellen Fähigkeiten zugestanden habe. «Dadurch habe ich einen grossen Nachteil erlitten», fand er und forderte Entschädigung.
Wenn er über solche Hemmnisse spricht, über «sozialen Gugus» und falsch verstandene Samthandschuhe, rutscht ihm auch schon mal ein Kraftausdruck heraus. «Zum Kotzen », sagt er dann ungeniert. Er, der als Siebenjähriger mit seinen Eltern von Izmir in die Schweiz gekommen war, sei jeweils schon vor dem Unterrichtsbeginn in der Schule gesessen, um schnell Deutsch zu lernen, und die Lehrer hätten ihm attestiert, dass er ein kluger Kopf sei.
Die entsprechende Förderung hingegen vermisste er bis über die Schule hinaus. Ob er in der Regelschule eine glücklichere Schulzeit gehabt hätte? «Da sage ich deutsch und deutlich ja!» Und: «Ich habe ja keinen anderen Nachteil, als dass ich nicht laufen kann.» Alles, was er sich seither in unzähligen Weiterbildungskursen selber an Wissen zusammentragen musste, hätte er seiner Überzeugung nach mit entsprechender Förderung viel früher und einfacher erreichen können. Deshalb liess er nicht locker, bis der Kanton Appenzell 4000 Franken «für Grammatikverbesserung » verfügte.
Nach der Schulzeit absolvierte Kirmizitoprak eine Ausbildung zum Industriepraktiker. Eine Notlösung, die ihm wenig Freude bereitete, er hätte sich eine KV-Ausbildung erträumt. Schon bald fiel er durch seine Forderungen und politischen Äusserungen auf und wurde von der Institutionsleitung verwarnt. Er reagierte empört und bezeichnete das als reines Mobbing. «Klar mag es ungewöhnlich sein, dass ein 18-Jähriger so klare politische Meinungen äussert», sagt er. Dennoch sei es gut gewesen, dass er bald darauf ins St. Galler Imbodehuus ziehen konnte: Dort erfuhr er endlich Verständnis und erhielt die Unterstützung, die er lange vermisst hatte, ja, dort ermunterten sie ihn sogar, 2012 seinen ersten politischen Anlass vor der Abstimmung über die Kürzung der Ergänzungsleistungen durchzuführen.
«Warte ich zeige euch jetzt, wie Inklusion geht!»
Er schaffte es, den Regierungsrat ins Haus zu holen, und startete damit seine politische Karriere: «Es machte förmlich Klick!», erinnert er sich, und von da an war er nicht mehr zu bremsen.
Politik benötigt auch Kreativität
Nach vier vergeblichen Arbeitseingliederungsversuchen meinte er: «Warte ich zeige euch jetzt, wie Inklusion geht!» Er organisierte sich eine Weiterbildung in lösungsorientierter Beratung und Konfliktmanagement, zog in eine eigene Wohnung und richtete im Wohnzimmer seine neue Beratungsstelle Inklusion ein: Dort unterstützen er und seine Mitarbeiterin, die er selber bezahlt, andere, die sich von Institutionen, Ämtern oder Mitmenschen ungleich behandelt fühlen oder Schwierigkeiten haben, ihre Bedürfnisse durchzusetzen.
Als Geschäftsform hat er absichtlich die Einzelfirma gewählt; ein Verein, er schüttelt den Kopf, wäre ihm zu schwerfällig gewesen: «Meine Firma ist klein, aber meine Pläne sind gross.»
Tatsächlich sprudelt er fast über vor Ideen: Gegenwärtig steht er in Milo Raus Inszenierung von «Wilhelm Tell» im Zürcher Schauspielhaus auf der Bühne, verhilft Ratsuchenden zu Gleichstellung und leitet das Abstimmungskafi oder Anlässe zu Themen wie Behinderung und Sexualität. In zwei Jahren will er ein eigenes Theaterstück zu diesem Thema produzieren und damit ein Tabu auf die Bühne bringen, und für nächstes Jahr plant er ein Podium zum Thema «Strukturelle Gewalt in Institutionen»: Cem Kirmizitoprak ist flink im Denken und fantasievoll im Umsetzen. Und er besitzt eine gute Portion Selbstbewusstsein. Nach dem Gespräch dreht er im Elektrorollstuhl eine elegante kleine Runde durch die Bahnhofhalle und posiert für das Foto.
Sein höchstes Ziel ist, dass es seine Beratungsstelle eines Tages gar nicht mehr braucht, weil Inklusion etabliert ist. Bis dahin kämpft er mit vollem Einsatz. Übermütig ruft er: «Genau, ich mache keine kleinen Projekte – ich will Elefanten machen!»
Infos
Beratungsstelle: www.beratungsstelle-inklusion.ch
Gemeinsamer Marsch: «Wir lassen uns nicht von euch verwalten!» 29. November 2022, 14 Uhr. Besammlung: St. Leonardspärkli St. Gallen.
Foto: cwe