POLITISCHE PARTIZIPATION | Bla-Bla-Vote: Ein integratives Bürgerforum

21.09.2022 Anne Vallelian

Bla-Bla Vote ist das Ergebnis einer Zusammenarbeit zwischen der Stiftung Eben-Hézer in Lausanne und dem Quartierzentrum Chailly. Ziel dieses Bürgerforums ist es, den Bewohnerinnen und Bewohnern des Lausanner Quartiers Chailly die Möglichkeit zu bieten, sich eine Meinung zu eidgenössischen Abstimmungsvorlagen zu bilden. Ein Gespräch mit den beiden Forumskoordinatoren und einem Direktionsmitglied von Eben-Hézer Lausanne.

Die Geschichte beginnt in einem Wohnheim der Institution Eben-Hézer in Lausanne, wo Omar Odermatt als Nachtwächter arbeitet. Bei einer Tasse Tee erklärt der Politikbegeisterte den Bewohnerinnen und Bewohnern die Abstimmungsthemen.

Der Koordinator von Bla-Bla Vote erinnert sich: «Da ich Politikwissenschaften studiert hatte, wurde ich oft zu Abstimmungsthemen befragt.» In Verbindung mit der Annahme der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) durch die Schweiz wurde dann 2015 innerhalb der Stiftung Eben-Hézer die Bewegung «Tous Citoyens!» ins Leben gerufen. Etwas später fand eine Umfrage zu den politischen Rechten und zur Mitsprache von Menschen mit Behinderung statt. Diese zeigte Lücken auf.

Zudem wurde Bruno Wägli, stellvertretender Direktor von Eben-Hézer Lausanne, von zahlreichen Betreuenden darauf angesprochen, was mit den an die Einrichtung geschickten Stimmcouverts geschehen soll. «Viele landeten im Papierkorb», erklärt Bruno Wägli. «Da erfuhr ich von den Gesprächen, die Omar Odermatt mit den Bewohnerinnen und Bewohnern führte.»

Um die ermittelten Schwachstellen zu beheben, wandte sich der stellvertretende Direktor an Omar Odermatt und bat ihn, sein innovatives Konzept auch in der Stiftung Eben-Hézer anzuwenden.

«Die Bewohnerinnen und Bewohner der Institution werden daher als Quartierbewohnerinnen und -bewohner betrachtet, was sehr wichtig ist.»

Eine gewinnbringende Partnerschaft

2015 erfolgt dann der Startschuss für das Projekt. Doch damit die Idee wirklich Gestalt annehmen konnte, nahm die Lausanner Institution Kontakt mit dem Quartierzentrum Chailly auf. «Eben-Hézer ist ein integraler Bestandteil des Quartiers», betont Omar Odermatt. «Die Bewohnerinnen und Bewohner der Institution werden daher als Quartierbewohnerinnen und -bewohner betrachtet, was sehr wichtig ist.» Diese Kontaktnahme kam genau zum richtigen Zeitpunkt.

So verfügte das Quartierzentrum Chailly noch über kein Projekt zur Förderung der politischen Partizipation. «Ein Quartierzentrum ist ein Begegnungsort, der Menschen ermöglicht, soziale Bindungen aufzubauen und Ideen zu entwickeln», so Nadège Marwood, Koordinatorin von Bla-Bla Vote. «Die Förderung der Teilnahme am staatsbürgerlichen und gemeinschaftlichen Leben ist daher Teil unserer Aufgaben.»

Das erste Bla-Bla-Vote-Treffen fand 2016 statt. Am 3. September wurde im Vorfeld der eidgenössischen Abstimmung vom 25. September bereits die siebte Veranstaltung durchgeführt. Die Projektmitglieder arbeiten an der Entwicklung eines Konzepts und einer Methodik, damit das Instrument auch auf andere Einrichtungen übertragen werden kann, die ein ähnliches Bürgerforum einrichten möchten.

«Ob Ausländerinnen und Ausländer, erwachsene Personen mit und ohne Behinderung, Kinder und Jugendliche – Bla-Bla Vote ist für alle ein Gewinn.»

Bla-Bla Vote steht unabhängig von ihrem Stimmrecht allen Menschen offen. «Ob Ausländerinnen und Ausländer, erwachsene Personen mit und ohne Behinderung, Kinder und Jugendliche – Bla-Bla Vote ist für alle ein Gewinn», so Nadège Marwood. Denn selbst für viele Stimmbürgerinnen und Stimmbürger ohne Behinderung sind die Abstimmungsunterlagen angesichts der verwendeten Fachbegriffe bisweilen schwer verständlich. «Bla-Bla Vote ist so in der Lage, möglichst vielen Menschen zu helfen.»


Bla-Bla Vote | Bilderreportage

Der Podcast zur Debatte vom 3. September ist auf "L'Écho des Chavannes", dem Webradio von Eben-Hézer Lausanne (radio.eben-hezer.ch), verfügbar.


Vorbereitungs-Workshops

Vor jedem Bla-Bla-Vote-Treffen organisieren die beiden Koordinatoren ein Vorbereitungsgespräch mit den Heimbewohnenden. «Dieser Schritt ist wichtig. Ziel ist es, die Bewohnerinnen und Bewohner zu begleiten, damit sie unter optimalen Bedingungen und Voraussetzungen am Bla-Bla-Vote teilnehmen können», betonen Omar Odermatt und Nadège Marwood. Gemeinsam wählen sie nach verschiedenen Kriterien eine Abstimmungsvorlage aus. «Wir versuchen jeweils, ein Thema herauszugreifen, das für die interessierten Personen sowohl relevant als auch möglichst zugänglich ist. Und wir wählen kontroverse Themen aus. Je mehr die Ansichten auseinandergehen, desto einfacher ist es, sich eine Meinung zu bilden.»

Während dieser Vorbereitungsveranstaltung stellen die beiden Koordinatoren den Bewohnenden auch die zur Debatte eingeladenen Rednerinnen und Redner vor. Um ihnen die gewählten Abstimmungsvorlage zu erläutern, verwendet das Koordinatorenduo eine leicht lesbare und verständliche Sprache. «Wir greifen auch gerne auf YouTube-Videos zurück, in denen die Vorlage vorgestellt wird, oder spielen die Filme in Zeitlupe ab, um das Verständnis zu erleichtern.»

«Bla-Bla Vote ist ein effizientes Kommunikationsmittel, das ein besseres Verständnis politischer Vorgänge vermittelt.»

Am Ende des Workshops formulieren alle gemeinsam Fragen, die anlässlich der Debatte an die eingeladenen Personen gerichtet werden sollen. «Diese Phase ist entscheidend», fügt Bruno Wägli an. «Beim ersten Bla-Bla-Vote 2016 hatten die Bewohnerinnen und Bewohner keinen Vorbereitungs-Workshop besucht und hinkten den übrigen Quartierbewohnerinnen und -bewohnern bezüglich Wissensstand hinterher.»

Für eine optimale Teilnahme braucht es daher im Vorfeld des Anlasses Unterstützung. «Die Bewohnerinnen und Bewohner sehen sich nicht unbedingt Nachrichten im Fernsehen an und hören auch kein Radio. Bla-Bla Vote ist in seiner Funktion als Bürgerforum ein effizientes Kommunikationsmittel, das Zugang zu aktuellen Informationen verschafft und ein besseres Verständnis politischer Vorgänge vermittelt.»

Im Schnitt nehmen rund zehn Personen an den Vorbereitungs-Workshops teil und meistens sind es die gleichen. «Sie fühlen sich in der Gemeinschaft wahrgenommen und werden in erster Linie als Einwohnerinnen und Einwohner von Chailly angesehen. Das ist sehr wertvoll», erklären die beiden Koordinatoren begeistert. Die Sitzung ist auch eine gute Gelegenheit zur Nachbesprechung der letzten Bla-Bla-Vote-Ausgabe. «Es ist von zentraler Bedeutung, ihre Eindrücke zu sammeln, um die folgenden Bla-Bla-Vote-Treffen zu verbessern.»

Politikerinnen und Politiker machen mit

Am Tag der Debatte im Quartierzentrum von Chailly geht es vor allem darum, dass das Publikum den eingeladenen Personen Fragen stellt. «Unsere Aufgabe besteht darin, die Fragen des Publikums und die Antworten der Gäste zu begleiten, zu moderieren und gegebenenfalls neu zu formulieren oder die Heimbewohnerinnen und Heimbewohner beim Lesen ihrer Notizen zu unterstützen.» Von den Projektmitgliedern wurden dafür entsprechende Rahmenbedingungen erarbeitet. «Wir haben eine Bla-Bla-Charta eingeführt, die sich für die Achtung der Meinungsvielfalt und das gegenseitige Wohlwollen einsetzt.»

Was ist das Besondere an Bla-Bla Vote? «Das Schwergewicht der Veranstaltung liegt auf den Publikumsfragen.» Die eingeladenen Personen werden angewiesen, ihre Aussagen möglichst zu vereinfachen. «Die Rückmeldungen der Politikerinnen und Politiker sind sehr positiv», bestätigen Nadège Marwood und Omar Odermatt. «Sie nehmen unsere Einladung gerne an. In der Schweiz haben wir zum Glück zugängliche Volksvertreterinnen und Volksvertreter, die gern mitmachen.»

So ergriff bereits eine Reihe prominenter Waadtländer Politikerinnen und Politiker der kommunalen, kantonalen und nationalen Ebene in Chailly das Wort, um die Fragen der Quartierbewohnerinnen und -bewohner zu beantworten: Unter ihnen auch der FDP-Politiker Laurent Wehrli (Nationalrat und Stadtpräsident von Montreux). Laurent Wehrli ist Co-Präsident der Föderation ARTISET. Engagierte Auftritte in Chailly hatten auch sein Parteikollege Olivier Français (Ständerat und Lausanner Stadtrat), SP-Politikerin Rebecca Ruiz (Waadtländer Staatsrätin) und ihr Parteikollege Roger Nordmann (Nationalrat).

«Im Anschluss an Bla-Bla Vote erhalten Stimmberechtigte, die abstimmen möchten, Unterstützung beim Ausfüllen der Stimmzettel», erläutert Bruno Wägli.

Eine vielversprechende Zukunft

Die erste Veranstaltung von Bla-Bla Vote hatte grossen Zulauf. «Danach liess der Erfolg ein wenig nach», räumt Bruno Wägli ein. «Wir mussten auch mit den Einschränkungen der Pandemie zurechtkommen und boten Bla-Bla-Vote als Podcast über unser Webradio an. Wir mussten uns neu erfinden, um den Fortbestand des Projekts zu sichern.»

«Die Reaktionen aus Medien und Politik sind sehr positiv.»

Nach Ansicht des stellvertretenden Direktors hat Bla-Bla Vote jedoch eine grosse Zukunft vor sich. «Die ersten fünf Jahre waren für uns eine Entwicklungs- und Versuchsphase, in der wir jedoch viel Erfahrung sammeln konnten.» Copil, das strategische Organ von Bla-Bla Vote, dem unter anderem die beiden Koordinationsverantwortlichen und Bruno Wägli angehören, ist entschlossen, mit Bla-Bla Vote einen zweiten Anlauf zu nehmen und dazu verstärkt auf die Quartierbewohnerinnen und -bewohner zuzugehen.

«Die Reaktionen aus Medien und Politik sind sehr positiv, doch fehlt uns noch die Meinung der Menschen im Quartier. Deshalb würden wir gern die Restaurants in der Umgebung einbeziehen. Das ist ein Projekt, in das wir grosse Hoffnungen setzen.»


Eben-Hézer Lausanne

Eben-Hézer Lausanne ist Teil der Stiftung Eben-Hézer, die 1899 von Schwester Julie Hofmann gegründet wurde. Die Institution hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Wohlbefinden und die Entwicklung der aufgenommenen Menschen zu fördern. «Neben unserer Betreuungsarbeit werben wir für einen positiven Blick auf Menschen mit Behinderungen und setzen unsere Kompetenzen ein, um ihnen eine Mitwirkung und den Einbezug in die Gesellschaft im weiteren Sinne zu ermöglichen», erklärt Bruno Wägli. Soziale Teilhabe, Inklusion und staatsbürgerliche Verantwortung sind daher Themen, die für die Lausanner Einrichtung von besonderer Bedeutung sind. Last but not least bietet sie ihren Bewohnenden eine breite und vielfältige Palette an Leistungen: Unterkunft (Wohnungen im Quartier, Studios im Heimgebäude oder begleitetes Wohnen), Werkstätten zur Sozialisierung, Tageszentrum sowie Sport- oder Freizeitaktivitäten.

www.eben-hezer.ch


 

Fotos: Hélène Tobler