OHNE MEDIKAMENTE | Federn, Fell und Freude

01.05.2024 Jenny Nerlich

Tiere tun gut. Dieser Philosophie folgt das Pflegezentrum Reusspark im aargauischen Niederwil mit seinen tiergestützten Interventionen. Hier treten Mensch und Tier regelmässig in Kontakt. Ob in Einzeltherapie oder im Gruppen-Setting: Die Begegnungen schaffen heilsame und wohltuende Momente für die Bewohner. Wir haben uns bei einem Besuch davon überzeugen lassen.

Es quiekt. Sechs aufgeregte Meerschweinchen flitzen vorne zur Gehegebrüstung, heben ihre kurzen Beinchen hinauf und strecken ihre Nasen keck empor. Es ist Zeit für die Fütterung. Nicht nur die Meersäuli freuen sich darauf, sondern auch Margot Scheidegger  (Namen geändert).

Margot ist Bewohnerin im Reusspark, dem einzigen Pflegezentrum in der Schweiz mit eigenem Kleintierpark und regelmässigen Angeboten an tiergestützten Interventionen. Der Reusspark liegt in Niederwil, im Aargau. Die weitläufige Wohn- und Parkanlage direkt an der Reuss bietet ihren Bewohnern zahlreiche Möglichkeiten, mit Flora und Fauna in Kontakt zu treten. Hier leben Esel, Minischweine, Ziegen, Hühner, Enten, Frettchen, Papageien, Kaninchen und: Meerschweinchen.

Einmal in der Woche besucht Margot mit ihrer Ergotherapeutin die Meerschweinchen. Die kleinen Nager sind aktiv und fordern Margot zum Handeln und Bewegen auf. Und sie wecken positive Emotionen. Ihr quirlig-fröhliches Quieken lässt Margot vor Freude eine Träne verdrücken. Sie hält sich, gestützt von ihrer Ergotherapeutin, am Gehegerand fest und reicht den Nagern eine Karotte. Die knabbern gierig daran – doch plötzlich reisst ein kleiner Dieb die Karotte aus Margots Hand. Weg ist er. «Auf Wiedersehen», lacht sie. «Das Meersäuli hat wahnsinnige Kraft.» Als Nächstes bekommt Margot ein Stück Fenchel von der Ergotherapeutin. «Wissen Sie, was das ist?»
«Fenchel», antwortet Margot.
«Der riecht fein, nicht?»
Margot nimmt den Duft der frischen Knolle wahr. «Ja», erwidert sie und lässt die Meersäuli an dem Gemüse nagen.

Riechen, spüren, bewegen und sprechen: All dies verbindet die tiergestützte Therapie im Reusspark. Mit ihr sollen die motorischen, sensorischen und kognitiven Fähigkeiten der Bewohnenden erhalten oder verbessert werden. Die Tiere sind dabei die idealen Co-Therapeuten, denn sie werten nicht und nehmen jeden Menschen, wie er ist. Die Begegnungen mit den Meerschweinchen sind für Margot sehr wertvoll: «Es ist schön für mich. Und die Tiere spüren das», freut sie sich am Ende der Therapie.

Tiergestützte Interventionen mit Profi

Keine tiergestützte Intervention läuft ohne den aufmerksamen Blick von Cornelia Trinkl ab. Die diplomierte Tierpflegerin mit einer Fachausbildung für tiergestützte Interventionen ist für das Wohl der felligen und gefiederten Reusspark-Bewohner verantwortlich. Wie zum Beispiel für die Hühner, die jetzt für die nächste Tierbegegnung parat gemacht werden müssen.

Dafür holt Trinkl zunächst grünen Salat, Körner und Decken und legt sie auf einen Rollwagen. Dann kommen die Hühner an die Reihe. Mit zwei Transportboxen betritt die Tierpflegerin das weitläufige Gehege. Sie schüttelt eine Schachtel mit Körnern und lässt einige davon in die Transportkisten rieseln. Das köstliche Geräusch lockt das Federvieh aus allen Richtungen an. Einige Mutige wackeln unbeirrt in die zwei Transportboxen. «Ich nehme nur Hühner mit, die freiwillig kommen», erklärt Trinkl. «Die Hühner wissen, dass die Box Kontakt mit Menschen bedeutet.»

Tiere müssen Freude an Menschen haben

Von klein auf sind die Hühner im Reusspark an den Kontakt mit Menschen gewöhnt. Es gibt jedoch auch «Second-­Hand-Tiere», wie Cornelia Trinkl augenzwinkernd erzählt. Die werden nach ihrem Charakter für die tiergestützten Interventionen ausgewählt. Denn nicht jedes Tier eignet sich für den engen Umgang mit Menschen. Es muss, wie Trinkl sagt, einen stabilen Charakter haben und darf durch menschliche Begegnungen nicht gestresst sein. «Wenn das Tier keine Freude hat, dann hat der Mensch auch keine Freude!» Davon ist Cornelia Trinkl überzeugt.

Die passenden Hühner haben sich in den Boxen eingefunden: zwei Zwerg-Cochins und zwei Seidenhühner. Beide Rassen können sehr zutraulich werden und eignen sich daher gut für tiergestützte Interventionen. Jetzt schliesst Trinkl die Boxen, stellt sie auf den Rollwagen und schiebt die friedlich vor sich hin glucksenden Hühnchen zum nächsten Tier-Event: der Aktivierungsgruppe.

Struktur und Freude dank Tierbesuch

Anders als die tiergestützte Therapie, verfolgt die tiergestützte Aktivierung kein therapeutisches Ziel, sondern dient vor allem der Alltagsgestaltung und Freude der Bewohnenden. Deswegen ist die Regelmässigkeit entscheidend. Alle zwei Wochen findet der Tierbesuch pro Wohnbereich statt. Er ist nur eines von vielen Aktivierungsangeboten, aber er ist sehr beliebt. Heute haben sich über zehn Teilnehmer eingefunden. Sie alle wohnen in der Geriatrieabteilung und haben unterschiedliche körperliche und kognitive Verfasstheiten. Einige haben sich selbstbestimmt für den Hühnerbesuch entschieden, andere, zum Beispiel mit Demenzerkrankungen, dürfen heute spüren und wahrnehmen, ob die Tier­begegnung das Richtige für sie ist.

«Nicht jedes Tier eignet sich für den engen Umgang mit ­Menschen. Es muss einen stabilen Charakter haben und darf durch menschliche Begegnungen nicht gestresst sein.»
Cornelia Trinkl, diplomierte Tierpflegerin mit Fachausbildung für tiergestützte Interventionen

Die Teilnehmer sitzen im Kreis im Gemeinschaftsraum und warten geduldig auf die Ankunft der Hühner. Da sind sie! Cornelia Trinkl stellt die beiden Transportkisten auf den Boden und öffnet sie. Schnellen Schrittes kommen die gackernden Besucher heraus. Darunter ist auch Napoleon, ein Hahn mit seidig weissem Gefieder und überzeugtem Auftreten. Sein kräftiges Krähen bringt die Teilnehmer zum Schmunzeln. «Ja, ja! Du bist ein Schöner», lacht Klara Moser*. Sie kommt regelmässig in die tiergestützte Aktivierungsgruppe. Hühner bereiten ihr Freude. Die Begegnung mit Napoleon und seinen Damen weckt schöne Erinnerungen an ihre eigenen Hühner aus früheren Zeiten.

Wie die anderen Teilnehmer bekommt Klara nun ein Stück Salat, mit dem sie die Hühner anlocken und füttern kann. Jene, die beim Füttern motorische Schwierigkeiten haben, werden von den ebenfalls anwesenden Aktivierungsfachpersonen unterstützt. So kann jeder, der will, mit den Hühnern in einen nahen Kontakt treten.

Streicheln tut Mensch und Huhn gut

Nach dem Essen möchte man ruhen. Das gilt auch für Hühner. Deswegen setzt Cornelia Trinkl nun einigen Teilnehmenden je ein Huhn auf den Schoss. Auch Klara bekommt eins. Unter ihren sanften Streicheleinheiten wird das kleine Huhn ganz ruhig. Es setzt sich nieder, schliesst die Augen. Das leichte Gewicht des Huhns auf den Beinen, sein weiches Federkleid an den Händen, sein leises Glucksen – diese sinnlichen Erfahrungen machen die tiergestützte Aktivierung zu einem ganzheitlichen Erlebnis für die Bewohner des Reussparks. «Tiere können beruhigend auf uns wirken, aber auch wir können beruhigend auf Tiere wirken», erklärt Cornelia Trinkl. «Wenn aber jemand angespannt ist, merkt das auch das Tier.»

Für Klara ist es wunderschön, das Huhn auf ihrem Schoss zu haben. «Es gibt Wärme in der Seele», lächelt sie. Wie sie profitieren auch die anderen Bewohner von den regelmässigen Tierbegegnungen. Die Tiere regen an, motivieren, verbesserten die Lebensqualität und fördern soziale Interaktionen. Die Teilnehmer wirken wacher und aktiver. Sie tauschen sich aus und erinnern sich. Die Hühner von Cornelia Trinkl sind Balsam für Körper und Geist.

Der Mensch braucht die Natur

Aber warum ist das so? Cornelia Trinkl erklärt: Weil wir Menschen mit dem Ökosystem verbunden sind. Darum brauchen wir, um ganzheitlich gesund zu sein, Beziehungen zur belebten und unbelebten Natur. «Die Bindung zum Tier ist in der Therapie genauso wichtig wie die Bindung zum Therapeuten. Sympathien und Wertigkeiten kann ich nämlich nicht nur auf Menschen, sondern auch auf Tiere übertragen.» Und eine stabile Bindung gibt Sicherheit und reduziert Stress.

Ein Kleintierpark mit professionellem Tierpflegepersonal kostet. Dank seinem Trägerverein Gnadenthal kann der Reusspark den Unterhalt der Tiere, samt Tierarztkosten und Futter, gut abdecken. Die Löhne der Tierpflegerinnen werden über die Pauschale für nicht KVG-pflichtige Pflege- und Betreuungsleistungen finanziert. Die tiergestützten Interventionen der Ergotherapeutinnen werden durch die obliga­torische Krankenpflegeversicherung abgegolten. Aber auch ohne hauseigenen Kleintierpark lassen sich tiergestützte Interventionen für Alters- und Pflegeheime realisieren. Mittler­weile gibt es in der Schweiz zahlreiche Angebote von Privatpersonen oder Vereinen, die gerne mit ihren Tieren auf einen Besuch vorbeikommen.

Zurück zum Reusspark. Hier ist nun Ruhe für die Hühner eingekehrt. Wieder in ihrem grossen Aussen­gehege scharren und picken sie oder lassen sich die Frühlings­sonne auf ihr Federkleid scheinen. Auch die Meerschweinchen sind wieder unter sich und mümmeln frisches Heu. So endet ein schöner Tag für Mensch und Tier im Reusspark. 


Wirksamkeitsstudie zur tiergestützten Therapie

Wie gut und nachhaltig tiergestützte Therapien auf Menschen wirken, ist bisher kaum erforscht. Daher führt die Universität Zürich in Zusammenarbeit mit dem Pflegezentrum Reusspark aktuell eine mehrjährigen Wirksamkeitsstudie durch. Untersucht wird auch die Frage, ob der regelmässige therapeutische Kontakt mit Tieren eine Medikamentenreduktion ermöglicht.


Video

Napoleon und seine Damen in Aktion: Ein Reusspark-eigener Film über Cornelia Trinkl und ihre Tiere

Video Cony und ihre Co-Therapeuten




Foto: Marco Zanoni