«Mehr Kompetenz, weniger Angst»

03.05.2023 Claudia Weiss

Der Übertritt in die Berufswelt ist schwieriger geworden, besonders für Jugendliche mit psychischen Schwierigkeiten. «Sie brauchen viel mehr Unterstützung und eine viel engere Begleitung», fordert Psychiater Thomas Ihde-Scholl. Er empfiehlt Ausbildenden unter anderem den sogenannten Ensa-Kurs «Erste Hilfe für psychische Gesundheit».

Herr Ihde-Scholl, die Zahl der 18- bis 24-Jährigen, die aufgrund eines psychischen Leidens eine Neurente erhalten, ist heute viermal so hoch wie vor 25 Jahren: Müssen wir uns Sorgen machen um unsere Jungen?

Thomas Ihde-Scholl: Ich möchte nicht katastrophisieren. Aber ja, die psychische Belastung hat stark zugenommen. Ein Teil dieser Entwicklung ist evolutionsbedingt und rührt daher, dass mentale Funktionen viel wichtiger geworden sind: Heutige Stellenprofile verlangen vor allem Fähigkeiten wie gute Kommunikation und rasche Reizverarbeitung. Unser Hirn ist dieser extremen und einseitigen Belastung schlicht noch nicht gewachsen. 
 

Diese Belastung beginnt schon in der Schule…

Ja, Klassenzimmer sind heute herausfordernder, besonders für Jugendliche, die psychisch belastet sind, beispielsweise an einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) leiden, an ADHS, einer Angststörung oder einer Sozialphobie: Schon die Schule funktioniert sehr kommunikativ, mit viel selbstständiger Arbeit in Kleingruppen und sehr lösungsorientiert. Die Wahlmöglichkeiten und die Menge an Reizen sind also viel grösser. Davon profitieren viele Jugendliche, für andere ist das sehr schwierig. 
 

Was benötigt diese vulnerable Gruppe?

Grossbritannien hat die Inklusion vor 30 Jahren eingeführt und gemerkt: Jugendliche, die Mühe haben mit Reiz­überflutung, kann man nicht in traditionelle Systeme inkludieren, dort scheitern sie. Reizüberflutung und die hohen Anforderungen einer Leistungsgesellschaft, die nicht sehr tolerant ist gegenüber nicht voll leistungsfähigen jungen Erwachsenen, fördern Ängste. Und zu merken, dass man nicht in ein System passt, erzeugt zusätzliche Stresssymptome. Früher hatten wir die klassische Trennung in Regel- und Sonderschule, heute sind zwar all diese Übergänge viel fliessender. Aber wir müssen noch bessere Wege finden.
 

Das ist umso dringender vor dem Hintergrund von «CKK», Corona, Klimakrise und Krieg – alles Zusatzbelastungen für die Jungen? 

In den USA kommt vor «CKK» noch ein «T», für Trump, und alles zusammen ergibt dann eine extreme Polarisierung der Gesellschaft, eine immer stärkere Emotionalisierung. ­Unsere Empörungsgesellschaft drängt alle, Stellung zu beziehen, und das erzeugt enormen Druck. Corona hat diesen Druck noch zusätzlich erhöht: Die Jugendlichen haben am meisten unter erschwerten Übergängen wie Schulwechsel und Einstieg ins Berufsleben gelitten.


«Jugendliche brauchen vernünftige ­Anpassungen vonseiten der Arbeitgeber: Wer ausbilden will, muss bereit sein, eine enge und umfassende Begleitung zu ­übernehmen.»

Und sie haben vermehrt Social Media konsumiert, sich mit anderen verglichen, Angst gehabt, nicht dazuzugehören...

Dieses ständige Vergleichen ist überhaupt nicht gesund: Wir wissen, dass nichts das Hirn so sehr erschöpft wie das Nachdenken darüber, was andere von einem halten. Unser emotionales Hirn mag mit dem Verarbeiten nicht nach. Hinzu kommt: Empörung ist das Kokain der Gefühle, macht süchtig – und gibt Klicks. Soziale und andere Medien haben deshalb grosses Interesse, viel Empörung zu erzeugen. Diese Reizüberflutung und die ständige Emotionalisierung überfordern viele Jugendliche.
 

Und dann finden Uni und Ausbildung oft auch noch auf virtuellen Plattformen statt…

Genau, und das wiederum hat mit Unterbrechungen zu tun. In einer Studie, in der Testpersonen zehn Minuten lang Aufgaben lösen sollten, zeigte sich, dass jene, die dabei mehrmals unterbrochen wurden, zwei- bis sechsmal mehr Energie benötigen als die anderen. Paralleles Erledigen von Aufgaben, Präsentsein auf verschiedenen Plattformen, ­Reagieren auf alles, was hereinkommt – das laufende Hin- und Herschalten der Aufmerksamkeit ist wahnsinnig anstrengend. Und es führt dazu, dass nichts mehr ein Ende hat: Die Generation der Über-50-Jährigen hat noch die Idee, dass man den Posteingang öffnet, hereinkommende Mails erledigt und am Abend ein leeres Postfach hat. Die Jugendlichen lachen da nur: Sie betreiben Skimming, «Abschöpfen», also nur noch Relevantes herauspicken. Aber es ist endlos, und das ermüdet stark.
 

Was benötigen Jugendliche und junge Erwachsene in dieser Situation?

Die neuen Medien versuchen laufend, die Nutzungszeit zu erhöhen, das Suchtpotenzial zu aktivieren. Da braucht es dringend Gegensteuer, wahrscheinlich sogar Technologien, die uns helfen, herauszufiltern, was uns wirklich interessiert: Ich nehme mir 30 Minuten Zeit für Soziale Medien, brauche also vielleicht wiederum eine App, die mir herausfiltern hilft, was wichtig ist. Dort brauchen die Jugendlichen – und wir alle – rasch Unterstützung. 
 

Längerfristig kann das aber nicht die Lösung sein?

Jugendliche überlegen sich sehr aktiv, wie sie Energie generieren und kompensieren können, wie sie Ruhe und Kraft finden. Sie suchen dabei nach fundiertem Wissen, beispielsweise zum Thema Schlaf, und ihnen ist bewusst, dass Beziehungen sehr wichtig sind. Aber es braucht mehr: England hat ein Autismusgesetz, das verlangt, dass Arbeitgeber und Gesellschaft «reasonable adjustments» machen müssen, um annehmbare Arbeitsbedingungen zu schaffen für Menschen mit Autismus. Dasselbe gilt für Jugendliche der Generation Z: Sie brauchen vernünftige Anpassungen vonseiten der Arbeitgeber. 
 

An welche Anpassungen denken Sie konkret?

Den Jugendlichen fehlen pandemiebedingt zweieinhalb Jahre an klaren Strukturen. Die Stufe zur Lehre ist dadurch viel höher geworden, die Jugendlichen brauchen viel mehr Hilfe, um den Übertritt zu schaffen. Übergänge werden wohl auch weiterhin schwieriger sein und eine engere Begleitung erfordern. Wir haben noch zu sehr die Idee, die Berufswelt sei eine Erwachsenenwelt, und es benötige nur noch die fachliche Begleitung. Das ist veraltet: Wer ausbilden will, muss Leute anstellen, die wirklich bereit sind, eine enge und umfassende Begleitung zu übernehmen. Das heisst, Berufsbildende müssen viel besser geschult werden in Weichenführungsfunktionen, darin, Jugendliche Schritt für Schritt zu begleiten.
 

Was brauchen denn die Jugend­lichen, besonders die vulnerablen, beim ersten Schritt in die Ausbildung?

Die Passung ist sehr zentral: Das Potenzial eines Jugendlichen beispielsweise mit ASS ist riesig, wenn er eine Lehrstelle findet, die gut auf seine Fähigkeiten abgestimmt ist. Liegt das schon nur um 10 Prozent daneben, wird die gleiche Person scheitern. Hier müssten die Berufsberatungen und Schulen viel mehr spezialisiertes Know-how bekommen. Ein Rollstuhl wird in die Berufswahl automatisch mit einbezogen, eine psychische Beeinträchtigung geht im Vergleich dazu allerdings noch zu oft unter. 
 

An der Tagung 2022 zeigte Pro Mente Sana vier dringende Handlungsfelder für Psychische Gesundheit auf: Gesundheitsförderung, Prävention, Therapie und Recovery. Dabei zeigte sich, dass besonders Gesundheitsförderung und Prävention noch viel zu kurz kommen. Hat sich im Lauf des Jahres etwas verändert?

Es tut sich vieles, das zeigte sich auch kürzlich an der Nationalen Tagung von Gesundheitsförderung Schweiz zur Förderung psychischer Gesundheit. Aber in der Schweiz haben wir kein Präventionsgesetz, und die Zuständigkeiten sind nicht klar: Wir haben zwar so viel Geld, aber immer wieder ein Gerangel, wer zuständig ist. Oft ist unklar, wie die Regelfinanzierung funktionieren soll, sobald die Projektfinanzierung ausläuft. In Finnland fallen ins Sozialbudget alle Schul- und Ausbildungskosten sowie Gesundheits- und Sozialkosten. Bei uns sind die Systeme unflexibel für solche Querschnitt­themen. Da es fast nur noch Querschnitt­themen gibt, sind die veralteten Finanzsysteme nicht mehr tauglich. Ein Wechsel könnte aber noch dauern.

«Die Bereiche Bildung und Soziales müssen gestärkt werden, indem Arbeitgebende und Ausbildende Kompetenzen erhalten und unterstützt werden.»

Derweil kommen auch Therapie und Recovery zu kurz. Was wäre also dringend nötig?

Weltweit erleben wir gegenwärtig eine Pandemie der psychischen Belastung. Die Weltgesundheitsorganisation warnt, die Psychiatrie werde das nie allein beheben können: Die Versorgung sei viel zu medizinlastig und müsse wesentlich breiter abgestützt werden. Das können wir aber nur erreichen, indem die Bereiche Bildung und Soziales gestärkt werden, indem Arbeitgebende und Ausbildende Kompetenzen erhalten und unterstützt ­werden. 

Ausbildungsverantwortliche müssten also lernen, wie sie sich verhalten müssen, wenn sie bei Jugendlichen psychische Not feststellen? 

Ja. Momentan herrscht eine generelle Überforderung mit diesem Thema, alle haben universelle Ängste. Fragen heisst ja letztlich eine Tür aufstossen, da überlegt man schon: «Was mache ich, wenn ein Jugendlicher über Suizidgedanken spricht? Löse ich mit meinen Fragen sogar Suizidgedanken aus? – Jedenfalls bin ich überfordert, darum frage ich lieber gar nicht.» Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Aber viele haben Sorge, danach die Verantwortung zu tragen, weil die Versorgungslage so schlecht ist. 
 

Es mangelt ja tatsächlich überall an rasch verfügbarer Hilfe wie beispielsweise Traumatherapie.

Ja, ich erlebe das auch in unserer Region: Schwer belastete Jugendliche erhalten in der Jugendpsychiatrie ein paar Stunden Krisenintervention, müssen dann aber zwölf Monate warten auf ein spezifisches Programm, das ihnen hilft, mit Suizidalität umzugehen! In diesen zwölf Monaten hängen Lehrer, Lehrmeisterin oder Fussballtrainer im Leeren. Viele leiden unter dieser Last und fühlen sich alleingelassen.
 

Wie könnten sie den Jugendliche in solchen Momenten helfen? 

Das ist sehr unterschiedlich. Die einen brauchen Schonraum, die anderen stützende Strukturen. Für die einen ist Sonderbeschulung die beste Möglichkeit, für andere Inklusion. Insgesamt müsste man eine Querschnittfunktion aus Psychiatrie, Bildung und Sozialem entwickeln, und es wird Fachpersonen benötigen, welche die nötigen Angebote erarbeiten. Vorerst gibt es diese aber noch nicht, deshalb können wir vor allem sensibilisieren und Lehrkräfte ermutigen, die Schüler anzusprechen. 
 

Sollten Ausbildende also am besten einen «psychologischen Erstehilfekasten» erhalten? 

Ja. In Australien sind «Erste-Hilfe-Kurse für psychische Gesundheit» seit 30 Jahren obligatorisch. Bei uns gibt es seit fünf Jahren eine Schweizer Version, den Ensa-Kurs. Inzwischen gibt es Firmen, bei denen alle Lehrlingsbeauftragten einen solchen Kurs absolviert haben. Das bewirkt einiges, auf der fachlichen Ebene, aber vor allem auf der Haltungsebene: Die so Ausgebildeten gehen anders auf junge Leute zu, sie machen bei psychischer Belastung nicht den Schritt zurück, sondern den Schritt auf sie zu. Wer sich in einem Ensa-Kurs mithilfe von Rollenspielen in Jugendliche hineinversetzt hat, kann besser nachvollziehen, wie sie sich fühlen. Das fördert Empathie und baut Schwellen ab, und das Wissen bewirkt eine Entstigmatisierung.
 

Wie schätzen Sie die Zukunft ein: Werden junge Menschen lernen, mit den neuen Anforderungen umzugehen?

Mir gefällt dazu ein Bild: Bambus wiegt im Wind, ist biegsam und daher letztlich widerstandsfähiger als Stahl. Das wird die Zukunft sein. Die Generation Z wird weiterkommen als wir, sie wird die Chancen der Reizreduktion entdecken und merken: Weniger ist mehr. Vermutlich werden sie später zurückblicken und wegen uns die Hände verwerfen.


 

Thomas Ihde-Scholl ist Chefarzt der Psychiatrie der Spitäler fmi AG in Inter­laken, Präsident der Stiftung Pro Mente Sana und Referent an der Mai-Tagung von INSOS und YOUVITA.

Foto: Spitäler fmi AG


Ensa-Kurs: «Erste Hilfe für psychische Gesundheit»

Ensa ist ein Projekt der Schweizerischen Stiftung Pro Mente Sana, unterstützt von der Beisheim Stiftung. Es wurde aus dem australischen Programm «Mental ­Health First Aid» für die Schweiz adaptiert. «Ensa» heisst in einer der 300 Sprachen der australischen Ureinwohner «Antwort». Das Programm eignet sich für Lehrpersonen und Ausbildende, aber auch alle anderen Interessierten.