KOORDINIERT BETREUEN | «Wir müssen das Verständnis von Betreuung immer weiter schärfen»
Mit der Vorlage zu Ergänzungsleistungen für betreutes Wohnen stehe das Thema Betreuung jetzt fest auf der politischen Agenda, sagt Remo Dörig, stv. Generalsekretär der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK). Knacknuss ist aus Sicht der Kantone die Finanzierungsfrage. Und: Er plädiert dafür, dass auch psychosoziale Leistungen in die Vorlage aufgenommen werden.
Herr Dörig, die SODK verfolgt seit 2021 ihre Vision für das selbstbestimmte Wohnen von älteren Menschen und Menschen mit Behinderungen. Was sind die wichtigsten Eckpunkte dieser Vision?
Zentral ist, dass das selbstbestimmte Wohnen für betagte Menschen und Menschen mit Behinderung zusammen gedacht werden. Dieses Anliegen hat jetzt auch der Bundesrat in seiner Botschaft zu den Ergänzungsleistungen (EL) für betreutes Wohnen aufgenommen. Selbstbestimmtes Wohnen bedeutet, dass die Menschen eine echte Wahl haben, wo und wie sie wohnen und leben möchten, im angestammten Zuhause, in einem institutionalisierten betreuten Wohnen oder in einem Heim.
Eine echte Wahl besteht nur, wenn es bezahlbare Unterstützungsleistungen gibt.
Ja, gleichzeitig braucht es eine klare Ausrichtung am Bedarf. Die staatliche Unterstützung für Menschen, die sich Betreuung nicht leisten können, orientiert sich am individuellen Bedarf. Dafür braucht es eine Bedarfsabklärung im Dialog mit der betroffenen Person. Diese erfolgt im Wissen darum, dass die finanziellen Mittel der öffentlichen Hand beschränkt sind, gleichzeitig aber darf das Angebot nicht unnötig eingeschränkt werden.
Kommen wir der Vision der SODK mit der vom Bundesrat verabschiedeten Botschaft zu EL für betreutes Wohnen ein gutes Stück näher?
Ich würde sagen, wir kommen der Vision ein Stück näher. Sie ist ein wichtiger erster Schritt in diese Richtung. Für jene Personen, die EL beziehen, kommt die Vorlage unserer Vision schon sehr nahe. Für viele Menschen allerdings, die keinen Zugang zu EL haben, wird es schwierig bleiben, die für sie nötigen Betreuungsleistungen finanzieren zu können. Um diese Menschen angemessen zu unterstützen, muss die Politik noch nach Lösungen suchen.
Wo sehen Sie die Vorzüge und wo die Knackpunkte der EL-Vorlage des Bundes?
Mit dieser Vorlage steht das Thema auf der politischen Agenda des Bundes. Die Diskussionen haben zu einer hohen Dynamik auf allen Staatsebenen und unter den Stakeholdern geführt. NGOs und Branchenverbände haben viel dazu beigetragen, dass heute Klarheit darüber besteht, wie wichtig Betreuungsleistungen sind. Sowohl aufgrund der demografischen Entwicklung und auch, weil die Menschen möglichst lange selbstbestimmt zu Hause leben möchten.
Vermehrte Betreuung ausserhalb der klassischen Heimstrukturen hat den grossen Vorteil, dass wir damit auch der Problematik fehlender Heimplätze und dem Fachkräftemangel begegnen können.
Und wo sehen Sie Knackpunkte?
Knacknuss – wie Sie es nennen – ist aus Sicht der Kantone die Finanzierungsfrage. An den EL für Betreuungsleistungen will sich der Bund gemäss der vorliegenden Botschaft des Bundesrates nicht beteiligen. Die Kantone sind sich der Notwendigkeit der Vorlage sehr bewusst, sie fordern aber auch eine Mitbeteiligung des Bundes.
Entgegen dem Vorschlag der Kantone will sich der Bund nicht an der Finanzierung beteiligen, da es sich um ein Aufgabenfeld der Kantone handelt und die Kantone von verzögerten Heimeintritten profitieren würden. Verstehen Sie das?
Es gibt vier Punkte, die aus unserer Sicht dafür sprechen, dass der Bund sich beteiligt: Erstens geht es um die fiskalische Äquivalenz. Wir pochen darauf, dass dieser Grundsatz eingehalten wird. Jetzt ist es so, dass der Bund mittels des ELG legiferiert, aber Kantone und Gemeinden müssen zahlen. Zweitens werden die prognostizierten Einsparungen aufseiten der Kantone wohl nicht in der erwarteten Höhe ausfallen, vor allem auch aufgrund der demografischen Entwicklung. Die Belastung der Kantone durch die EL, die derzeit ohnehin schon hoch ist, wird sich zusätzlich verschärfen. Ein dritter Punkt ist, dass die alleinige Finanzierung durch die Kantone aus unserer Sicht nicht der EL-Logik entspricht.
Der Bund schlägt ja hier etwas ganz Neues vor: Pauschalen im Rahmen der Krankheits- und Behinderungskosten. Wie beurteilen Sie das?
Wir finden es sehr gut, dass der Bund Betreuungsleistungen über eine Pauschale abgelten will. Man fügt diese Pauschale aber jetzt dort im Gesetz ein, wo die Kantone die alleinige Verantwortung tragen, nämlich bei den Krankheits- und Behinderungskosten. Dabei handelt es sich bisher aber um Einzelfallrechnungen, die von EL-Beziehenden eingereicht und dann rückerstattet werden. Die jährlich ausbezahlten EL hingegen, an der sich Bund und Kantone gemeinsam beteiligen, betreffen die Existenzsicherung. Wiederkehrende Kosten für Betreuungsleistungen sind aus systemischen Gründen hier besser angesiedelt. Und so komme ich zum vierten Punkt, warum der Bund betreutes Wohnen in der EL mitfinanzieren sollte: Betreuungsleistungen tragen zur Sicherung der Existenz von Personen bei, die diesen Bedarf haben. Demzufolge gehören die Kosten für Betreuung in die jährlich ausbezahlte EL, und diese Leistungen werden von Bund und Kantonen gemeinsam getragen.
Der Bund argumentiert auchdamit, dass er sparen muss. Sind die Kantone vor diesem Hintergrund bereit, die Betreuungskosten zu tragen?
Nicht nur der Bund ist in finanzieller Schieflage, sondern auch mindestens die Hälfte der Kantone. Dementsprechend stellt das die Kantone vor gewisse Herausforderungen. Mit dieser Vorlage wird die Voraussetzung dafür geschaffen, einen kostenintensiven Bereich, nämlich die Finanzierung der Heime, zu entlasten. Es ist zu hoffen, dass dies auch tatsächlich eintrifft.
Die zu vergütenden Leistungen sollen gemäss der Bundesvorlage ein Notrufsystem, Haushaltshilfe, Mahlzeitendienst und einen Fahr- und Begleitdienst umfassen: Genügen diese Leistungen aus Ihrer Sicht?
Wir würden sehr gerne psychosoziale Leistungen in die Vorlage aufnehmen. Dabei ist es wichtig, Leistungen zu ermöglichen, die die älteren Menschen im Alltag stärken und nicht nur bei ausserordentlichen Aktivitäten ausserhalb des Hauses. Wir wünschen uns hier eine eindeutigere psychosozialere Ausrichtung und gleichzeitig Spielraum für die Kantone, das dann möglichst auf die individuellen Bedarfe und regionalen Gegebenheiten abgestimmt umzusetzen. Die Frage wird sein, ob dies als Zielbestimmung ins Gesetz aufgenommen werden soll oder als zusätzlicher Punkt im Leistungskatalog. Im Idealfall formuliert man im Gesetz einleitend einen psychosozialen Zielbeschrieb und definiert in einem zweiten Schritt die anzubietende Leistung.
Braucht es aus Ihrer Sicht ein gemeinsames Verständnis von Betreuung? Und: Wie kann ein solch gemeinsames Verständnis entwickelt werden?
Die Diskussionen in den letzten Jahren zwischen den Akteuren und auch mit dem Bund und den Kantonen haben dazu geführt, dass über die Bedeutung von Betreuung und Begleitung eine gewisse Einigkeit besteht. Unterschiede bestehen sicher, wenn es darum geht, was gute und richtige Betreuung ist. Die Diskussionen müssen weitergeführt werden, das Verständnis dafür müssen wir immer weiter schärfen. Ich verspreche mir auch einiges von den Erfahrungen, die an verschiedenen Orten gemacht werden.
Auch Personen ohne EL benötigen Betreuung. Wie können wir angesichts des demografischen Wandels gute Betreuung für alle älteren Menschen sicherstellen?
Das ist eine sehr berechtigte und gleichzeitig schwierige Frage. Wir haben unsere Überlegungen hierzu noch nicht abgeschlossen. Es ist sicher sinnvoll zum jetzigen Zeitpunkt, zunächst bei den EL-Beziehenden die Kosten für Betreuungsleistungen zu übernehmen. Darüber hinaus gibt es die Möglichkeit, wie das jetzt die Stadt Bern gemacht hat, auch Personen zu berücksichtigen, die knapp keine EL beziehen können. Wichtig ist, dass man Erfahrungen über best practices austauscht. Wir können hierzu noch keine Lösung präsentieren. Sobald man den Personenkreis erweitert, steigen natürlich die Kosten, was in der aktuellen angespannten finanziellen Situation schwierig ist. Aber sicher, man muss hier weiterdenken.
Gesprächspartner: Remo Dörig ist stv. Generalsekretär der SODK
Autor:innen: Alexander Widmer (Pro Senectute Schweiz) und Elisabeth Seifert (ARTISET)
Foto: zvg