KOORDINIERT BETREUEN | Vom Leben im «Gedächtnishotel»

11.12.2024 Anne-Marie Nicole

Im Genfer Alters- und Pflegeheim Les Charmettes für ­Menschen mit Demenz sind alle in die Betreuung ­ein­gebunden: von der Pflegehelferin bis zur Heimleiterin. Die Pflegefachfrau genauso wie der Koch, der Aktivierungsfachmann und die Rezeptionistin. Agilität, Flexibilität  und Anpassungsfähigkeit bilden die Grundlage der Betriebs­philosophie.

Die ersten Oktobertage waren kalt und verregnet. Aber jetzt scheint endlich wieder die Sonne: ein gutes Omen für das Kastanienfest, das gerade vorbereitet wird. Einige Bewohnende nutzen den milden Herbsttag für einen Spaziergang im Garten, bevor es wieder hinein zum Mittagessen geht. Im Heim herrscht eine entspannte Atmosphäre. Zwischen den Räumen im Erdgeschoss herrscht ein reges Kommen und ­Gehen.

Im Restaurant beginnt das Gespräch mit Juliette Dumas, der Ausbildungsbeauftragten, und Alexandre Quintero, dem klinischen Koordinator und Qualitätsbeauftragten. Mario und Marcel setzen sich ganz selbstverständlich mit an unseren Tisch. Sie beobachten, hören zu, von Zeit zu Zeit nicken sie oder schütteln den Kopf. Dann stehen sie auf und begeben sich in ihre jeweilige Wohngruppe, wo das Essen serviert wird. «Schon am Tag seines Einzugs bei uns hat mir Mario geholfen, mein Qualitätsaudit vorzubereiten», erzählt Alexandre Quintero. Vor seinem Ruhestand war Mario nämlich Beauftragter für die Entwicklung von Qualitätskonzepten für Heime.

Die Geschichte des Alters- und Pflegeheims Les Charmettes in Bernex auf dem Land beginnt 1953. Sechzig Jahre später steht dort nach umfangreichen Abriss- und Umbauarbeiten ein ganz neues Gebäude in einem warmen, beruhigenden Ockerton inmitten eines schön gestalteten Parks mit vielen Bäumen. Er entspricht ganz den heutigen Bedürfnissen und Wünschen: Bänke, ein Weg, der zu einem Spaziergang einlädt, eine Hütte für ein gemeinsames Fondue oder einen Glühwein, eine Voliere, ein Kaninchenstall, eine Futterstelle für die Schafe, die gelegentlich vorbeikommen und das Gras abweiden. Daneben gibt es auch ein Holzhäuschen, in dem sich die Bibliothek eines Bewohners – eines ehemaligen Universitätsprofessors – mit den 700 Büchern befindet, von denen er sich nicht trennen wollte.

Hier leben 84 Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen. Sie sind entsprechend ihrer Persönlichkeit und ihren Ressourcen auf sechs unabhängige Wohngruppen aufgeteilt, die jedoch über breite Gänge miteinander verbunden sind. Das Erdgeschoss ist um eine grosse Halle herum angeordnet, in der sich beidseits bequeme Sessel und Sofas befinden. Daneben befinden sich das öffentlich zugängliche Restaurant und die Chaumière, der Mittelpunkt des Heims. Hier trifft man sich, hier finden Diskussionen und Aktivitäten statt.

«Die hier lebenden Menschen bringen ihren eigenen Lebensrhythmus mit, und die Beeinträchtigungen verschlechtern sich. Wir müssen daher ständig antizipieren und uns an die jeweilige Situation anpassen.» Juliette Dumas, Ausbildungsbeauftragte

Berührung und Umarmungen sind wichtig

Offiziell ist Les Charmettes zwar ein Alters- und Pflegeheim (APH). In den Augen jener, die dort leben oder arbeiten, ist es jedoch ein «Gedächtnishotel». Hier gibt es keine Bewohnenden, sondern nur hier Lebende. Die Wohngruppen sind Häuser. Die Zimmermädchen und Serviceangestellten sind Haushaltsfeen. Es soll keine Angst machende Diagnose im Mittelpunkt stehen. Daher spricht man hier nicht von Demenz, sondern von Gedächtnisbeeinträchtigungen. Man geht nicht auf und ab, man geht spazieren. Es gibt keine aggressiven Verhaltensstörungen, sondern nur defensive, um sich vor einem möglicherweise Angst einflössenden Umfeld zu schützen. «Die Wortwahl ist wichtig. Sie ermöglicht einen anderen Umgang mit Beeinträchtigungen», bekräftigt Alexandre Quintero. Und wenn die Worte ausgehen, sprechen alle «Charmettisch», einen Mix aus Wörtern verschiedener Sprachen, nonverbaler Zeichen, Gesten und Tonfällen.

Im Les Charmettes sind Verfügbarkeit, Flexibilität, Anpassungsfähigkeit, ein offenes Ohr und ein gutes Auge oberstes Gebot bei der Betreuung. «Agilität ebenso», unterstreicht Juliette Dumas. «Die hier lebenden Menschen bringen ihren eigenen Lebensrhythmus mit, und die Beeinträchtigungen verschlechtern sich. Wir müssen daher ständig antizipieren und uns an die jeweilige Situation anpassen.» Was heute gut funktioniert, geht morgen vielleicht nicht so gut. «Eine gute Betreuung bedeutet, dass jede Person, die zu uns kommt, sie selbst bleiben und sich entsprechend ihren Ressourcen und Fähigkeiten einbringen kann.» So fasst es die Heimleiterin Mikaela Halvarsson zusammen. Diese Art der Betreuung setzt eine gute Kenntnis der Lebensgeschichte der Person voraus, ohne sie jedoch darauf festzuschreiben.

«Wir müssen agil und kreativ sein: Wir möchten ein Umfeld bieten, das die Personen nie in Schwierigkeiten bringt und sie auch nicht mit ihren Beeinträchtigungen konfrontiert.» Es wird damit zu einer Gedächtniswerkstatt, die alle Sinne anspricht und die Lust weckt, zu berühren, auszuprobieren, zuzuhören, miteinander zu reden. «Wir nehmen uns an der Hand, wir umarmen uns viel. Berührungen sind wichtig», hebt Juliette Dumas noch einmal hervor. Hier spricht man sich auch mit dem Vornamen an, und die meisten duzen sich. Die Beziehungen zueinander sind so persönlicher, authentischer – und der Respekt bleibt trotzdem stets gewahrt.

Eine fragile Person bleibt eine vollständige Person

Neben dem Wohlergehen und der Lebensqualität soll die Betreuung auch die Autonomie und die Selbstbestimmung der Personen bestmöglich erhalten. Dazu werden die hier Lebenden als Partner betrachtet – übrigens ebenso wie die Familien und Angehörigen, die im Heim eine wichtige Rolle spielen. «Eine fragile Person bleibt für uns eine vollständige Person, die uns etwas geben kann. Statt ihr zu helfen, schlagen wir ihr vor, dass sie uns hilft und zeigt, wie sie betreut und gepflegt werden möchte. Das ändert die Situation völlig», merkt Mikaela Halvarsson an. «Wenn uns die Person sagt, dass sie keine Dusche benötigt, müssen wir das ernst nehmen und eine andere Möglichkeit finden, sie dazu einzuladen, etwa durch eine Veränderung beim Umfeld.»

Von der Pflegefachperson bis zum Koch, vom Aktivierungsfachmann bis hin zur Haushaltsfee, von der Heimleiterin bis hin zur Pflegehelferin, von der Rezeptionistin bis hin zum Ausbildner: Alle hier begleiten den jeweiligen Moment und die Situation – unabhängig von ihrem Beruf. «Die Menschen sind hier zu Hause. Alles ist offen: die Büros, die Wäscherei, die Küche, die Rezep­tion … Sie sind überall willkommen», erklärt Juliette Dumas. «Die Organisation passt sich an die hier Lebenden an und nicht umgekehrt.» Und wenn sich eine Bewohnerin in ihr Büro setzt, während sie einen Bericht schreibt, oder ins Büro ihres Kollegen, der mit der Wochenplanung beschäftigt ist: «Dann lassen wir unsere Arbeit liegen und kümmern uns um die Person.» Interaktion ist das Wichtigste, und alle nehmen sich Zeit dafür – ganz im Sinne der Philosophie des Heims. «Wir haben nicht mehr Zeit als in anderen Heimen», betont Mikaela Halvarsson. «Wir setzen nur unsere Prioritäten anders, und unsere Organisation ist flexibler gestaltet.»

«Wir haben nicht mehr Zeit als die Mitarbeitenden in anderen Alters- und Pflegeheimen. Wir setzen nur unsere Prioritäten anders, und unsere Organisation ist flexibler gestaltet.» Mikaela Halvarsson, Heimleiterin

Der Alltag ist von Interaktion und Begleitung geprägt

Das gesamte Umfeld ist so gestaltet, dass es eine harmonische, entspannte und beruhigende Atmosphäre gewährleistet, «wie zu Hause», und so Angst reduziert. «Wir sind Stimmungsschöpfer», fasst es Juliette Dumas sehr schön zusammen. Natürlich gibt es punktuelle und regelmässige Aktivierungen, die das Sozial- und Kulturteam organisiert. Aber der gesamte Alltag ist von Begleitung und Interaktion geprägt: Frühstück vorbereiten, Kuchen backen, Maniküre mit Musik, Schultern massieren. Auch die Körperhygiene wird so zu einem ganz persönlichen Moment.

Das Gedächtnishotel Les Charmettes ist in Bewegung. Es verändert sich, entwickelt sich fortlaufend weiter. Dazu tragen die hier Lebenden viel bei. «Sie sind wichtige Impulsgeber und zeigen uns sehr schnell, wenn wir etwas falsch machen», versichert die Heimleiterin. «Sie und ihre Bedürfnisse sind unsere Grundlage. Auf diese Weise entwickeln wir auch keine Konzepte, die in der Praxis nicht umsetzbar sind. Das bedeutet, dass alle sich anpassen und darauf einlassen müssen.» Regelmässige Sensibilisierungssitzungen ­dienen dem Monitoring. Das interdisziplinäre Gespräch je­­den Montagnachmittag bietet die Gelegenheit, besondere Situationen anzusprechen, Unvermögen, Zweifel, ­Unverständnis zur Sprache zu bringen, an andere zu übergeben, wenn es ­notwendig ist. «Wir müssen vertrauensvoll arbeiten und manchmal den Mut haben, mit Normen zu brechen, um den Blick zu ändern», so die Heimleiterin.
 


Autorin: Anne-Marie Nicole (ARTISET)
Foto: Stefan Vos