KOORDINIERT BETREUEN | Den Alltag selbst bestimmen und das soziale Leben pflegen

11.12.2024 Von Gaby Wyser und Miriam Wetter (Paul Schiller Stiftung)

Viele ältere Menschen brauchen Unterstützung im Alltag. Oft geht es dabei um das Aufrechterhalten von sozialen Kontakten, um ihr Sicherheitsgefühl und das psychische Wohlbefinden, ­lange bevor sie auf Pflege angewiesen sind. Hier setzt die psychosoziale Betreuung an. Doch was ist darunter zu verstehen? Und wie kann das Potenzial der Betreuung besser genutzt werden?

Die gängige Wahrnehmung des Alters ist von Defiziten geprägt: Weil die körperliche und geistige Verfassung nachlässt, erfahren ältere Menschen mehr und mehr Einschränkungen. Ihr Bewegungskreis wird kleiner, ihre sozialen Kontakte nehmen ab. Sie benötigen für diese und jene alltägliche Handlung Unterstützung. Mit Therapien wird versucht, Einschränkungen hinauszuzögern. Doch dieser Unterstützungsansatz greift zu kurz.

Der alternde Mensch muss als Ganzes betrachtet werden – in allen Lebensbereichen und der ganzen Vielschichtigkeit eines jeden Menschen: mit seiner Lebensgeschichte, seinen Erfahrungen, Stärken, Interessen. Nebst der körperlich-geistigen Verfassung ist das Augenmerk deshalb genauso auf das soziale Umfeld, den kulturellen Hintergrund und die wirtschaftliche Situation zu richten. Was sind Stärken und Ressourcen, die der ältere Mensch nutzen und einbringen kann? Was sind Einschränkungen und Schwierigkeiten, die zu beachten sind?

Psychosoziale Betreuung wirkt

Gehen wir von einem ressourcenorientierten Altersbild aus, ist Altwerden viel mehr, als nicht zu stürzen oder einen sauberen Haushalt zu haben. Es geht darum, befriedigende, alltagsstrukturierende Aktivitäten zu ermöglichen und Mut zu machen. Ältere Menschen sollen ihre Lebenskompetenzen, ihre Selbstbestimmung und soziale Teilhabe erhalten und stärken können, auch wenn sie auf Unterstützung angewiesen sind. An dieser Zielsetzung orientiert sich gute Betreuung im Alter. So trägt sie dazu bei

die psychische Gesundheit und die Selbstbestimmung zu fördern

die Lebensqualität zu verbessern

soziale Isolation, Einsamkeit und Verwahrlosung zu verhindern.

Es ist nicht von der Hand zu weisen: Dank guter Betreuung wird die Autonomie von älteren Menschen gefördert, Heim­eintritte werden hinausgezögert oder vermieden, und es wird gesundheitlichen Beeinträchtigungen vorgebeugt – bei den älteren Menschen genauso wie bei betreuenden Angehörigen. Das entlastet letztlich das Gesundheitssystem und reduziert die Kosten. Unterschiedliche Studien in den letzten Jahren haben gezeigt, dass in der Schweiz eine Versorgungslücke besteht und der Betreuungsbedarf der älteren Menschen nicht gedeckt wird.

Eine eigenständige Unterstützungsform

Gute psychosoziale – auf die psychische und soziale Gesundheit ausgerichtete – Betreuung ist eine eigenständige Unterstützungsform im Alter, neben der Pflege und der Hilfe. So unterschiedlich die Bedürfnisse betreuter Menschen, so unterschiedlich die Betreuung. Ein abschliessender Katalog von Betreuungsleistungen greift im Grunde zu kurz, um gute Betreuung zu definieren. Aussagekräftiger sind gemäss dem «Wegweiser für gute Betreuung» sechs Handlungsfelder, die mögliche Betreuungsleistungen aufzeigen: Selbstsorge, sinnstiftende Alltagsgestaltung, soziale Teilhabe, Beratungs- und Alltagskoordination sowie gemeinsame Haushaltsführung und Betreuung in Pflegesituationen.

Was Betreuung in allen Wohnformen – zu Hause, in Tagesstrukturen und in Alters- und Pflegeheimen – konkret bedeuten kann, zeigen die im Heft beschriebenen Beispiele aus der ganzen Schweiz. Viele unterschiedliche Organisationen erbringen hierzulande Betreuungsleistungen angelehnt an das beschriebene Verständnis. Dabei ist das Zusammenspiel zwischen diesen Anbietenden und weiteren Engagierten in der Betreuung zentral.

Heute wird der Löwenanteil der Betreuung im Alter von Angehörigen geleistet, oft unterstützt von Nachbarn, Freunden und Freiwilligen. Doch der gesellschaftliche Wandel führt dazu, dass immer weniger Familienmitglieder die Betreuung übernehmen können – weil sie zu weit weg wohnen oder beruflich eingespannt sind oder weil der ältere Mensch keine Angehörigen (mehr) hat. Zudem können die Beziehungen zu Angehörigen auch problembelastet sein oder die familiäre Betreuung zu Überlastung und Überforderung führen.

Betreuung kann nur in der Zusammenarbeit unterschiedlicher Berufsgruppen und im Zusammenspiel von Organisationen, Angehörigen und Freiwilligen erfolgreich umgesetzt werden. Je nach Phase und je nach Fall sind die verschiedenen Akteure unterschiedlich stark gefordert. Gerade in komplexen Fällen sind die Herausforderungen grös­ser und es braucht professionelle Fachpersonen.

Mehrwert durch soziale Berufe

Doch wer kann die professionelle Betreuung erbringen? Aus dem oben beschriebenen Betreuungsverständnis wird klar, dass Soziale Berufe einen zentralen Beitrag leisten können, um gute und koordinierte Betreuung zu realisieren. Was Soziale Berufe wie Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen, Fachpersonen Betreuung, soziokulturelle Animatorinnen und Animatoren, Sozialbegleiterinnen und Sozialbegleiter sowie viele mehr in unterschiedlichen Ausbildungsstufen an Kompetenzen und Methoden mitbringen, passt geradezu ideal zur psychosozialen Ausrichtung der Betreuung. Die interdisziplinäre Arbeit in Teams und Leitungspersonen mit einem Hintergrund aus Sozialen Berufen sind wichtig, um die koordinierte Betreuungsarbeit zu stärken und in den Betrieben zu verankern.

Das Potenzial nutzen

Bis die psychosoziale Betreuung als logischer Bestandteil des Service public im Sozial- und Gesundheitswesen anerkannt und umgesetzt ist, sind Politik, Verwaltung und Praxis gleichermassen gefordert. Die drängendsten Entwicklungen:

  • Finanzierung: Auch wer wenig Geld und kein funktionierendes soziales Umfeld hat, soll Betreuung in Anspruch nehmen können. Entsprechende Finanzierungsmodelle liegen auf dem Tisch. Die Sparbemühungen dürfen die politische Debatte dazu nicht behindern, sonst bezahlen wir den Preis in den nächsten Jahrzehnten.
  • Zugang: Ungenügend geklärt ist heute, wer über den Bedarf und passende Formen von Betreuung entscheidet. Hier sind Zuständigkeiten und Abläufe zu definieren, die den alten Menschen direkt einbeziehen. Hinzu kommt, dass das heute minimale Angebot an psychosozialer Betreuung bedarfsgerecht auszubauen ist.
  • Kompetentes Personal, Verankerung im Management: Soziale Berufe sind ein Schlüssel für die Umsetzung der psychosozialen Betreuung – und es braucht sie auf allen Hierarchiestufen. Vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels ist ein Umdenken in Gang gekommen, das sowohl in der Ausbildung als auch in der Praxis weiter bestärkt werden muss. Ebenso wichtig ist, Grundlagen zu psychosozialer und agogischer Betreuung in den Organisationen schriftlich zu verankern: in Leitbildern, Strate­gien, Betriebskonzepten und Stellenplänen.
  • Koordiniertes Wirken: In der Betreuung ist die Koordination unter den Leistungserbringenden und insbesondere auch mit Familien und Freiwilligen ein Erfolgsfaktor für eine wirkungsvolle Unterstützung. Entsprechend sind Case Management, gemeinsame Angebotsplanung und koordinierte Angebote mit nahtlosen Übergängen in der Facharbeit zu fördern.
  • Entlastung der Angehörigen: Es braucht gute Lösungen, um ihre Belastung sowie gesundheitliche und finanzielle Risiken zu verringern. Denn sie spielen auch in Zukunft eine zentrale Rolle im Akteursgefüge für die gute Betreuung.
  • Qualitätssicherung: Ziel ist eine qualitativ gute Betreuung, die den angestrebten Wirkungszielen wie soziale Teilhabe und psychische Gesundheit und damit auch Einsparung von Gesundheitskosten erreichen kann. Dazu braucht es ein Qualitätsverständnis und entsprechende Überprüfung und Weiterentwicklung der Angebote.

Damit schweizweit ein Angebot an qualitätsvollen Betreuungsleistungen entsteht, zu dem Menschen in allen Wohnformen Zugang haben, brauchen wir die notwendigen Finanzierungsmodelle, Strukturen und Konzepte und müssen das Potenzial der Sozialen Berufe auf allen Ebenen nutzen. Denn die nachfolgenden Beiträge und die vielen Beispiele aus der ganzen Schweiz zeigen: Die psychosoziale Betreuung – durch Profis erbrachte genauso wie die im Freiwilligenbereich organisierte – kann einen enormen Beitrag zur Lebensqualität der älteren Menschen und für die aktuellen gesellschaftlichen und politischen Diskussionen leisten. 

gutaltern.ch


Der Fokus dieses Hefts

Lange war «Betreuung» ein unklar verwendeter Begriff. Heute liegen wissenschaftlich fundierte Definitionen vor, die mit Fachleuten aus der Praxis entwickelt und konkretisiert worden sind. Eine vom Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) 2023 herausgegebene Studie definiert Betreuung wie folgt:

«Betreuung im Alter unterstützt ältere Menschen, ihren Alltag selbstbestimmt zu ge­stalten und am gesellschaftlichen Leben teil­zuhaben, wenn sie das aufgrund der Lebenssituation und physischer, psychischer und/oder kognitiver Beeinträchtigung nicht mehr gemäss ihren Vorstellungen selbständig können.»

In der Studie werden vier Eigenschaften genannt, die eine qualitativ gute Betreuung auszeichnen: personenzentriert, umfassend, koordiniert, zugänglich. Das vorliegende Heft beleuchtet, welch hohen Wert eine «koordinierte Betreuung» für die älteren Menschen und die Gesellschaft hat und wie sie realisiert werden kann.

Wegen ihrer Ausrichtung auf die psychische und soziale Gesundheit ist heute die Rede von psychosozialer Betreuung. Diese nimmt älteren Menschen nicht einfach Aufgaben im Alltag ab und sorgt für eine effiziente Erledigung. Gute Betreuung zielt vielmehr darauf ab, dass die älteren Menschen ihr Können und ihre Fähigkeiten (wieder) einsetzen und stärken, Neues erlernen und Beziehungen pflegen.

Die Studie: Betreuung im Alter – Bedarf, Angebote und integrative Betreuungsmodelle. Büro BASS, 2023, im Auftrag des BSV.


 

Foto: Darin Vanselow