INNOVATIONEN | «Eine grundlegende und nachhaltige und dauerhafte Verbesserung»
Soziale Innovation betrifft sämtliche Lebensbereiche. In der Sozialen Arbeit, erklärt Anne Parpan-Blaser, geht es um neuartige Konzepte, Programme, Methoden, Organisations- und Finanzierungsformen, «welche die Soziale Arbeit grundlegend verändern und den Klientinnen und Klienten einen Mehrwert bringen».
Frau Parpan, soziale Innovationen betreffen sämtliche Bereiche unseres Alltags von Mobilität über Wohnen bis Arbeiten. Beispiele sind Car Sharing, Generationenwohnen, Repair Café oder Urban Gardening. Was aber können wir uns unter «Innovationen in der Sozialen Arbeit» vorstellen?
Während es bei sozialen Innovationen im Allgemeinen um fundamentale Veränderungen des gesellschaftlichen Handelns und Zusammenlebens geht, kann man hinsichtlich Sozialer Arbeit zwischen Innovationen in der Sozialen Arbeit und durch die Soziale Arbeit unterscheiden. Während es bei Ersteren um Entwicklungen im Fachbereich geht, steht bei Letzteren der Einfluss auf den sozialen Wandel im Fokus. In beiden Fällen können verschiedene fachliche und gesellschaftliche Ebenen unterschieden werden.
Von welchen Ebenen reden wir?
Auf einer ersten Ebene finden wir Programme, Methoden und Konzepte, die sehr nah beim konkreten Handeln sind. Ein Beispiel ist die Krisenintervention «Speckdrum» für Menschen mit Autismus, ein niederschwelliges und bedürfnisorientiertes Angebot für Betroffene und Angehörige. Auf einer mittleren Ebene geht es um die soziale Versorgung in einem Praxisfeld – beispielsweise im Kindesschutz – oder im regionalen Kontext, beispielsweise die Vernetzung von Diensten rund um medizinische Versorgung und Spitex. Auf einer übergeordneten Ebene sind es dann grosse sozialpolitische Themen wie Alterssicherung oder die Drogenpolitik des Bundes.
Es geht also um grosse Politik und um kleine Projekte. Insgesamt ist es nicht einfach, soziale Innovation einzugrenzen …
Ja, sie umfasst tatsächlich ein sehr breites Gebiet. Und dann kann mit sozialer Innovation erst noch entweder ein Prozess, ein als neuartig zu bewertendes Entwicklungsergebnis oder die Art, wie wir ein Thema oder ein Problem angehen, gemeint sein.
Das klingt sehr komplex!
Wichtig ist: Eine gute Idee ist noch keine Innovation. Das wird sie erst, wenn sie umgesetzt wird und die Praxis grundlegend und umfassend und dauerhaft verändert. Genau das macht es aber schwierig: Genau genommen kann man nämlich erst im Nachhinein feststellen, ob sich etwas wirklich Wichtiges verändert hat, also und ob es sich daher um eine «echte» Innovation handelt. Es bietet sich deshalb an, vom Innovationsgrad zu sprechen: Etwas kann mehr oder weniger innovativ sein. Im Vordergrund steht für mich ohnehin, dass gestützt auf bestes Wissen und Gewissen eine Verbesserung der Praxis angestrebt wird – ob dies dann in eine Innovation mündet, spielt eine zweitrangige Rolle.
Wie sieht eine grundlegende und dauerhafte Verbesserung aus?
Im besten Fall kann eine soziale Innovation auch die Entstehungsbedingungen für ein Problem verändern. Ich denke da beispielsweise an gemeinschaftliche Wohnformen im Alter wie die Genossenschaft Zusammen_h_alt in Winterthur: Entstanden ist eine genossenschaftliche Wohnform, die Tätigsein und Wohnen im Übergang vom agilen zum fragilen Alter verbindet. Bündeln der – nachlassenden – Kräfte, gemeinschaftliche Unternehmungen und Aktivitäten, Solidarität, gegenseitiges Profitieren vom reichen Erfahrungs- und Wissensschatz sind dabei Orientierungspunkte. Bei solchen Beispielen geht es nicht darum, nur zu reagieren, sondern zu transformieren. Aber das ist ein hoher Anspruch. Innovation in der Sozialen Arbeit muss sich immer an den Grundwerten der Profession orientieren und einen Mehrwert insbesondere für Klientinnen und Klienten erbringen.
Lassen sich Ihre Erkenntnisse auch auf unsere drei Fachbereiche Kinder & Jugendliche, Erwachsene mit Behinderung und Alter anwenden?
In allen Bereichen gab es in den letzten Jahren in der Tat Innovationen. Im Bereich Kinder und Jugendliche nimmt beispielsweise der Ansatz der Partizipation einen immer grösseren Stellenwert ein: Kinder, Jugendliche und ihre Familien werden viel stärker in die Soziale Arbeit mit einbezogen und die Konzepte – zum Beispiel für Kindeswohlabklärungen oder im stationären Bereich – entsprechend angepasst.
Wie sieht das im Bereich Erwachsene mit Behinderung aus?
Hier ist die UN-BRK eine sehr wichtige Treiberin für soziale Innovation: Der Inklusionsgedanke zwingt dazu, alle Dienste und Angebote durch eine völlig neue Brille anzusehen, und gibt den Menschen mit Behinderungen zunehmend mehr Mitsprachemöglichkeiten. Im Zuge dieser Bewegung entstehen neue Konzepte, beispielsweise das Modell Assistenzwohnen, aber auch Finanzierungsmodelle wie die Subjektfinanzierung.
«Eine gute Idee ist noch keine Innovation. Das wird sie erst,
wenn sie umgesetzt wird und die Praxis grundlegend und umfassend und dauerhaft verändert.»
Bleibt noch der Bereich Alter …
Auch dort hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden: Eine steigende Lebenserwartung führt dazu, dass «altern» verstärkt nicht mit «pflegebedürftig» gleichzusetzen ist. In diesem Bereich geht es heute oft um die Bildung von stützenden Netzwerken, um die Koordination und Zugänglichkeit von Diensten, um eine Gemeinwesenorientierung, um Caring Communities. Man könnte auch sagen, dass traditionelle Formen gemeinschaftlichen Lebens unter veränderten Vorzeichen wieder innovationsträchtig werden. Daneben ergeben sich durch die demografische Entwicklung auch neue Fragen, beispielsweise zu Themen wie Alter und Behinderung oder Alter und Drogenabhängigkeit.
Sie forschen seit 15 Jahren zu Innovation in der Sozialen Arbeit. Hat Sie ein Ergebnis überrascht?
Nicht eigentlich überrascht. Aber es machte mich betroffen zu beobachten, wie ein Innovationsprozess, in den viel Geld investiert wurde, zu einem sehr bescheidenen Ergebnis führt. Nicht weil keine gute Idee darin steckte oder weil das Fachwissen nicht ausreicht, sondern weil die falschen Personen zusammenarbeiteten, keine ausreichende Durchschlagskraft gesucht wurde oder Vorgaben einer Verwaltung wichtige Schritte blockierten.
«In den Organisationen des Sozial- und Gesundheitswesens geschieht Entwicklung, und es ist schade, wenn diese nicht zum Fliegen kommt.»
Braucht es deshalb auch ein Förderprogramm zur Weiterentwicklung von Dienstleistungen im Sozial- und Gesundheitsbereich?
Ja, um Entwicklung im Gesundheits- und Sozialbereich voranzutreiben, braucht es Geld. Es muss investiert werden, es braucht «Risikokapital», denn zu entwickeln heisst auch, möglicherweise zu scheitern. Der Innovation Booster «Co-Designing Human Services» bietet eine wichtige Anschubhilfe in diesem Sinn. In den Organisationen des Sozial- und Gesundheitswesens und in der Zusammenarbeit mit Nutzerinnen und Nutzern sozialer Dienste gibt es ein grosses Potenzial für Entwicklung, und es ist schade, wenn diese keinen Ort hat oder nicht zum Fliegen kommt.
Hilft es, solches Wissen auch in die Ausbildung junger Sozialarbeiterinnen und Sozialpädagogen einzubringen?
Unbedingt. Kompetenz zur Innovation ist wichtig, und die Frage lautet: Wie kann ich mich aus meiner Arbeit heraus aktiv an der Entwicklung der Sozialen Arbeit beteiligen? Es geht hier um die Mitarbeit in Projekten, aber auch darum, die Schnittstelle von Wissenschaft und Praxis fruchtbar zu machen, was insbesondere im Masterstudium vermittelt wird. Es geht darum, dass Soziale Arbeit das Wissen aus Forschung, Praxis und den Erfahrungen betroffener Personen nutzt, um zu gestalten. Es ist sehr wichtig, dass man einen guten Boden schafft für neuartige Entwicklungen: Dass man eine gute Idee gut einfädelt, rechtzeitig kommuniziert und überlegt, wer das Projekt unterstützen, aber auch, wer es kippen könnte.
Welche Probleme werden uns künftig besonders beschäftigen?
Soziale Arbeit befasst sich seit je mit sozialen Ungleichheiten. Auch künftig werden uns Fragen rund um Armut, Zugang zu Arbeit und Erwerbstätigkeit sowie angemessene soziale Sicherung beschäftigen. Ein wichtiger Entwicklungsbedarf ist bereits zur Sprache gekommen: Es sind die gesellschaftlichen Veränderungen und sozialen Probleme, die sich aufgrund einer alternden Gesellschaft ergeben. Ein anderes Thema ist die Koordination bereits bestehender spezialisierter Dienste im Sozial- und Gesundheitswesen. Hier geht es um Fragen rund um integrierte Dienste und Leistungen. Schliesslich möchte ich noch erwähnen, dass sich gewisse Entwicklungsbedarfe und -möglichkeiten auch aufgrund neuer Forschungserkenntnisse ergeben. Sie erlauben es, soziale Fragestellungen genauer und wirksamer anzugehen.
Was möchten Sie Fachleuten aus dem sozialen Bereich mitgeben?
Schafft euch Platz, denkt mutig, bündelt eure Kräfte! Ressourcen zusammenzulegen, bedeutet auch mehr Hebelkraft bei Entwicklungen und Veränderungen. Dabei muss man das Rad nicht immer neu erfinden; man kann Innovatives auch übernehmen, anpassen und voneinander lernen. Fachpersonen, Nutzerinnen und Nutzer von sozialen Diensten, Bürgerinnen und Bürger und Forschende sollten sich zusammentun und gemeinsam herausfinden, was nötig und möglich ist. In der Sozialen Arbeit steckt noch viel Potenzial für Innovationen.
Unsere Gesprächspartnerin
Prof. Dr. Anne Parpan-Blaser ist Dozentin am Institut Integration und Partizipation der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW. Sie engagiert sich im Management Board des Innovation Booster des Schweizerischen Vereins zur Förderung der sozialen Innovation.