GRENZVERLETZUNGEN | Gewalt ­vorbeugen: Hürden ­hochhalten

19.09.2024 Salomé Zimmermann

Grenzverletzungen und sexualisierte Gewalt sind in Kinder- und Jugendinstitutionen wichtige Themen und verlangen eine wiederkehrende Auseinandersetzung damit. Der Institutionsleiter ­Patrick Seigerschmidt von der GO DEF erläutert, welche Grundsätze in den neuen Verhaltenskodex seiner Organisation einfliessen und welche Massnahmen getroffen werden, damit ein Schutzraum für die Kinder und Jugendlichen sowie die Angestellten aufrecht­erhalten werden kann.

Es ist kein Geheimnis, doch die Fakten erschrecken trotzdem: Jedes siebte Kind erlebt sexualisierte Gewalt, und über die Hälfte der betroffenen Kinder und Jugendlichen erzählt nichts davon – und wenn, dann erst im Erwachsenenalter. Unterschiedlichste Formen von grenzverletzendem Verhalten und sexualisierter Gewalt sind auch Thema in jeder sozialen Institution – insbesondere dort, wo Kinder- und Jugendliche leben. Mittlerweile gibt es gute Leitfäden – darunter derjenige von YOUVITA, der im Kasten vorgestellt wird –, an denen sich Institutionen orientieren können, um ein eigenes, angepasstes Konzept zu entwickeln. Solche Richtlinien bedeuten einen ersten entscheidenden Schritt, noch wichtiger ist jedoch die konkrete Umsetzung im Alltag, die viel Sorgfalt und Aufwand erfordert. Patrick Seigerschmidt ist Institutionsleiter der Gesamtorganisation Dialogweg – Eichbühl – Fennergut (GO DEF), welche sozialpädagogisches Wohnen anbietet und zur Stiftung Zürcher Kinder- und Jugendheime (zkj) gehört. Er teilt seine Erfahrungen und erzählt, wie er und seine Mitarbeitenden mit dem heiklen Thema umgehen.

Nähe und Distanz lernen

«Wir befinden uns mitten im Prozess der Überarbeitung unseres Verhaltenskodex, den wir neu mit den Vorgaben des Bündner Standards kombinieren», sagt Patrick Seigerschmidt. Die GO DEF teilt sich auf drei Standorte auf, und in den gemischten Wohngruppen leben Kinder und Jugendliche aus belasteten Familien ab fünf Jahren bis zum Ende der Erstausbildung zusammen. «So müssen unsere Schutzbefohlenen fortlaufend lernen, was in welchem Alter möglich ist und wo die Grenzen liegen», sagt Seigerschmidt. Der Umgang mit Nähe und Distanz sowie Intimität werde in den Wohngruppen immer wieder thematisiert und sei ein wichtiger Teil der pädagogischen Arbeit. «Prävention steht weit oben auf der Agenda, und das Setzen und Akzeptieren von Grenzen gehört zum Zusammenleben», sagt der Institutionsleiter. Für die Erarbeitung des neuen Verhaltenskodex, der bald finalisiert wird, hat er Unterstützung von der Fachstelle Limita geholt. Zudem hat er die Gruppe der Mitwirkenden möglichst breit gefächert abgestützt, damit verschiedene Perspektiven einfliessen und der Leitfaden praxisnah und hilfreich ist. «Der ganze Prozess ist eine Teamarbeit», betont Seigerschmidt. Sobald der Verhaltenskodex in der Endfassung vorliegt, gibt es Schulungen für das gesamte Personal von rund 80 Personen, «das ist aufwendig, denn wir haben einen 365-Tage-Betrieb». Der fertige Leitfaden wird zudem zu gegebener Zeit auf der Website aufgeschaltet.

Fluktuation erschwert Situation

Welche Grundgedanken prägen den neuen Verhaltenskodex der GO DEF? «Wir setzen die Latte absichtlich hoch, um ein deutliches Signal zu geben», erläutert Patrick Seigerschmidt. Denn: In Zeiten von Fachkräftemangel sei die Fluktuation hoch, und so seien anspruchsvolle Richtlinien noch wichtiger, um einen gewissen Standard zu halten. Dazu gehört bei der GO DEF etwa, dass Körperkontakt grundsätzlich nur von den Schutzbefohlenen und nicht von den Mitarbeitenden ausgehen soll. «Wir beschränken den Körperkontakt aufs Minimum, sind aber trotzdem für die uns anvertrauten Kinder und Jugendlichen da», so Seigerschmidt. Mitgefühl beispielsweise könne auch verbal ausgedrückt werden. «Wir sind nun einmal keine Familie, auch wenn wir familienähnlich funktionieren», so der Institutionsleiter. Für jeden Schützling wird ein tägliches Journal geführt, in dem auch vermerkt wird, wenn Körperkontakt stattgefunden hat. «Diese Transparenz ist uns wichtig, deshalb betreiben wir den Zusatzaufwand», erläutert Seigerschmidt. Im Kodex sind zudem ganz konkrete Risikosituationen beschrieben – etwa Gute-Nacht-Rituale, Fahrten im Auto oder Ausflüge ins Schwimmbad. Diese gehören einerseits zum Alltag, andererseits sollen sie reflektiert und im Team besprochen werden, da solche Situationen ausgenutzt werden könnten. «Das Bewusstsein der eigenen Rolle, der damit verbundenen Macht und Verantwortung sowie der Abhängigkeit der Kinder und Jugendlichen ist entscheidend», merkt Seigerschmidt an. Entsprechend werde der Verhaltenskodex von allen Mitarbeitenden unterschrieben und spiele auch in Vorstellungsgesprächen und bei der Einführung neuer Kolleginnen und Kollegen eine wichtige Rolle. «Im pädagogischen Bereich sind auch schwarze Schafe unterwegs, das kann man nicht beschönigen, und wir versuchen, die Hürde für Grenzverletzungen möglichst hoch zu legen», so Seigerschmidt.

Besonders viel Aufmerksamkeit und Verständnis ist nötig bei Kindern und Jugendlichen, die in ihrer Herkunftsfamilie Grenzverletzungen und Missbrauch erfahren haben. Allerdings wird die Institution nur informiert, wenn ein Strafverfahren stattgefunden hat – und das ist verhältnismässig selten der Fall. «Wir haben manchmal einen Verdacht bei bestimmten Verhaltensweisen, aber wir wissen das meistens nicht mit Bestimmtheit», so Seigerschmidt. «Umso wichtiger, dass die Erwachsenen die Verantwortung für das richtige Mass an Nähe und Distanz übernehmen», betont er.

«Das Verhalten der Kinder und ­Jugendlichen untereinander stellt für uns die grösste Heraus­forderung im ­Bereich der Grenz­verletzungen dar.» Patrick Seigerschmidt, Institutionsleiter GO DEF

Mehr Prävention, weniger Vorfälle

Ein klarer Verhaltenskodex ist wichtig, aber noch wichtiger ist, dass er auch gelebt wird, sonst verstaubt das Dokument in der Schublade oder auf der Website. «Es geht in erster Linie um eine Kultur und eine Haltung», verdeutlicht Seigerschmidt. «Auch mit dem besten Leitfaden ist es nicht einfach, eine gemeinsame Kultur der Offenheit und Transparenz herzustellen und so einen Schutzraum für die Schützlinge und die Angestellten zu entwickeln», weiss der Institutionsleiter. Es heisst, Sensibilisierungsarbeit fortlaufend zu betreiben und das Thema immer wieder aufzugreifen – und zwar auf allen Ebenen. «Das Verhalten der Kinder und Jugendlichen untereinander stellt für uns quantitativ und qualitativ die grösste Herausforderung im Bereich der Grenzverletzungen dar», sagt Seigerschmidt. Ein sorgsamer verbaler und physischer Umgang miteinander bedeutet einen Effort für alle Beteiligten. «Unsere Hoffnung ist, dass wir weniger problematische Vorfälle haben, je mehr wir in die Prävention investieren – wir wollen das Risiko möglichst kleinhalten», so Seigerschmidt. Und was passiert, wenn ihm ein Verdacht oder eine Beobachtung gemeldet wird? «Wenn ein Vorkommnis, in das ein Mitarbeitender involviert ist, bis zu mir gelangt, dann nehmen wir die Person situativ aus dem Dienst heraus, bis alles geklärt ist. Wir arbeiten in solchen Fällen auch mit externer Begleitung zusammen, etwa mit der Beratungsstelle Castagna», so Seigerschmidt. Er fügt hinzu: «Zum Glück habe ich diese Situation sehr selten erlebt in den 15 Jahren, die ich nun in der Institution GO DEF tätig bin.»

Der Institutionsleiter gibt zu bedenken, dass im Bereich sexualisierte Gewalt die Social Media eine zunehmende Rolle spielen. Ein aktuelles Beispiel betreffe etwa eine Heranwachsende, die per Instagram von einer vermeintlichen anderen Jugendlichen aufgefordert wurde, durch Treffen mit Männern viel Geld zu verdienen. Die junge Frau wandte sich an ihre Vertrauensperson, und in der Folge nahm eine Leitungsperson Kontakt mit der Polizei auf. Da die Jugendliche den Chatverlauf jedoch gelöscht hatte, fehlte der Nachweis, damit die Polizei aktiv werden konnte.

Zwei neue Meldestellen

Die Stiftungsleitung der Zürcher Kinder- und Jugendheime (zkj), der GO DEF angehört, hat entschieden, für alle ihre Institutionen den Bündner Standard einzuführen. «Im Zug dieser Implementierung gibt es neu für unsere drei Standorte zwei Meldestellen für Vorfälle, die für einen jeweils anderen Standort zuständig sind», erläutert Seigerschmidt. So gebe es keine direkten Verflechtungen und tiefere Hürden. Die entsprechenden Mitarbeitenden werden derzeit ausgebildet. Die Idee ist, dass diese dann später einmal mit Personen von anderen Meldestellen der Stiftungsinstitutionen einen regelmässigen Austausch pflegen und gegenseitige Intervision betreiben.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Auseinandersetzung mit Grenzverletzungen und sexualisierter Gewalt immer wieder angegangen werden muss. «Dies», so Patrick Seigerschmidt, «bedeutet im Alltag harte Knochenarbeit.»
 


Leitfaden zur Prävention von Grenzverletzungen

Jede Institution funktioniert anders und braucht deshalb einen eigenen Verhaltenskodex, um grenzverletzendes Verhalten und sexualisierte Gewalt zu verhindern. Der Leitfaden «Prävention von Grenzverletzungen und sexueller Ausbeutung» von YOUVITA, der in Zusammen-arbeit mit Limita entstanden ist, verweist auf die zentralen Aspekte, die es dabei zu berück-sichtigen gilt. Ausserdem stellt der Leitfaden praktische Vorlagen zur Verfügung und enthält eine Sammlung von weiterführenden Links und Informationen.
 


 

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