GRENZVERLETZUNGEN | Die Stimme der ­Bewohnenden findet Gehör

19.09.2024 Anne-Marie Nicole

Im «Le Foyer» in Lausanne, einem Kompetenzzentrum für ­Sehbehinderungen, gibt es zwei Instanzen, die sich problematischer Situationen annehmen: die Kommission Bientraitance und das Tandem Madame und Monsieur SOS. Mithilfe des Dispositivs «Prävention von Misshandlung – Förderung von Bientraitance», das 2016 offiziell eingeführt wurde, soll die Stimme der Bewohner­innen und Bewohner bei internen Beschlussfassungen des Heims mehr Gehör finden.

An der Route d’Oron 90 oberhalb von Lausanne ist das alte Gebäude, das über ein Jahrhundert den Verein Le Foyer beherbergt hatte, einem Neubau gewichen. Der Verein wurde 1900 auf Initiative einer Waadtländer Primarschullehrerin gegründet. Sie wollte dem Mangel an Plätzen für blinde oder sehbehinderte Kinder mit geistiger Beeinträchtigung entgegenwirken. Heute ist «Le Foyer» ein anerkanntes Kompetenzzentrum für Sehbehinderungen. Ungefähr hundert Erwachsene leben in Wohngruppen und arbeiten in Werkstätten. Seit rund 15 Jahren gibt es auch mehrere spezielle Angebote für etwa 30 Kinder und Jugendliche mit einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS).

Die Eingangstür des neuen Gebäudes führt in eine grosse, lichtdurchflutete Halle, die auf beiden Seiten in breite Gänge übergeht. Gegenüber geben Panoramafenster den Blick auf eine Terrasse und einen Park frei, in dem sich drei kleine Gebäude befinden. Sie wurden einige Jahre zuvor errichtet und beherbergen Wohngruppen und Tageszentren. Das Hauptgebäude umfasst eine Rezeption, Verwaltungsräume, Werkstätten, ein Geschäft, ein Restaurant, vier Wohnbereiche und einen Mehrzweckraum. Im Erdgeschoss hängt noch der Geruch von frischer Farbe in der Luft. Das Ockerrot einer Wand kontrastiert mit dem makellosen Weiss des restlichen Raums. Bisher gibt es noch keine Beschilderung, sieht man von den Handläufen aus hellem Holz ab, die als Wegweiser dienen. Nur ein kleiner Sessel und ein Aufsteller mit ein paar Broschüren nehmen eine Ecke der Eingangshalle nicht weit von der Rezeption ein. «Wir sind erst vor ein paar Wochen eingezogen und brauchen noch Zeit, um die zahlreichen Details endgültig zu gestalten», erläutert Marie-Anne Cristuib, Heilpädagogin, Bereichsleiterin und Koordinatorin des Dispositivs «Prävention von Miss­handlung – Förderung von Bientraitance». Die Einweihung des Gebäudes ist für Mitte September geplant.

«La Pinte à Didi»

Im Untergeschoss ist Frédéric Lüscher, genannt Freddy, ungeduldig. Er inspiziert den Inhalt der Schränke und des Kühlschranks, wo bald «La Pinte à Didi» eröffnet wird: ein Kiosk, dessen Name auf die phonetische Endung von Freddy und seinem Kollegen Hansruedi anspielt. Die beiden sind für diesen künftigen Ort der Begegnung und Gemeinschaft verantwortlich. Freddy – ein Mann in den Siebzigern – kam mit 19 Jahren ins «Le Foyer». Vorher war er seit seiner frühesten Kindheit in anderen Heimen, «als Ohrfeigen und Anbrüllen noch kaum jemanden schockierten», erzählt er. Hansruedi hingegen, 94, wohnt schon seit 1941 im «Le Foyer»! Die beiden Heimbewohner leiten nicht nur den Kiosk, sondern gehören auch der Kommission Bientrai­tance an.

Im Verein Le Foyer machte man sich bereits zu Beginn der 2000er-Jahre über das Thema Misshandlung Gedanken. Damals erliess der Kanton Waadt Gesetze zu freiheitseinschränkenden Massnahmen bei Menschen mit Behinderung: Zuvor war es in Waadtländer Heimen zu Misshandlungen gekommen, die damals für Schlagzeilen sorgten. «Le Foyer» setzte die verschiedenen Massnahmen zur Prävention von Misshandlung und Förderung von Bientraitance (frei übersetzt: «gute Behandlung») ab 2006 um. Das Dispositiv «Bientraitance» wurde jedoch erst 2016 offiziell dokumentiert und im Qualitätssystem des Vereins verankert.

«Wir sprechen lieber von fehlender Bientraitance als von Misshandlung, zum Beispiel unangemessenes Verhalten von ­Fachkräften, das auf Machtmissbrauch, Nachlässigkeit oder mangelndem ­Respekt beruht.» Marie-Anne Cristuib,
Koordinatorin des Dispositivs «Bientraitance»

Diese Dokumentation führt die Grundprinzipien auf und beschreibt die Möglichkeiten zur Meldung von Misshandlungssituationen sowie die drohenden Folgen. Sie ­enthält auch eine Definition von Misshandlung, die vom Europarat übernommen wurde. Dazu gehören freiwillige oder unfreiwillige Handlungen sowie körperlicher und sexueller Missbrauch, psychologische Schäden, finanzieller Missbrauch, Vernachlässigung sowie materielle oder emotionale Vernachlässigung. «Wir sprechen lieber von fehlender Bientraitance als von Misshandlung», präzisiert Marie-Anne Cristuib und nennt als Beispiel unangemessenes Verhalten von Fachkräften, das auf Machtmissbrauch, Nachlässigkeit oder mangelndem Respekt beruht: Bewohnende ohne deren Zustimmung duzen, ihnen Spitznamen geben, ein Päckchen anstelle der Person öffnen, an die es adressiert ist, oder draussen in Anwesenheit von Bewohnerinnen und Bewohnern rauchen, ohne sich Gedanken darüber zu machen, ob es sie stört. «Diese Verhaltensweisen sind per se nicht schlimm. Aber sie sind Machtmissbrauch und mangelnde Rücksichtnahme, die gemeldet und angegangen werden müssen.»

Monsieur und Madame SOS

Im «Le Foyer» gibt es zwei Instanzen, die sich problematischer Situationen annehmen: die Kommission Bientrai­tance und die Meldestelle in Form von Madame und Monsieur SOS. Das SOS-Tandem, eine Funktion, die von Fachkräften aus dem «Le Foyer» übernommen wird, ist die Exekutive in diesem Dispositiv. Es behandelt Beschwerden – sei es von Heimbewohnenden, die sich misshandelt fühlen oder misshandelt wurden, oder von Mitarbeitenden, die ihnen zufolge von Bewohnenden misshandelt wurden. Bei der Einführung dieses Dispositivs gab es noch zahlreiche Beschwerden. Mittlerweile jedoch bearbeiten die beiden nur noch eine Handvoll jährlich, berichtet Marie-Anne Cristuib. Auch sie war Madame SOS, bevor sie die Leitung des gesamten Dispositivs übernahm.

Einmal wöchentlich ist das SOS-Tandem am Kiosk und steht den Bewohnerinnen und Bewohnern zur Verfügung. Die gemeldeten Situationen beziehen sich im Allgemeinen auf Unzufriedenheit mit dem Heimalltag, eine wenig respektvolle Haltung oder Sorgen hinsichtlich ihrer Rechte. Je nach Art und Schweregrad des Falls sucht das Tandem direkt im Gespräch mit den betroffenen Personen eine Lösung durch Mediation oder Wiedergutmachung. Bei komplexen Situationen und nachgewiesener Misshandlung melden Madame und Monsieur SOS den Fall den Verantwortlichen, um den Übergriffen ein Ende zu setzen und wieder für ein gutes Zusammenleben zu sorgen. Bewohnenden, die sich sprachlich nicht verständigen und nicht eigenständig an Madame und Monsieur SOS wenden können, stehen demnächst Botschafterinnen und Botschafter der «Bientraitance» zur Verfügung.

Das Herz des Dispositivs «Bientraitance»

Die Kommission Bientraitance mit ihren zehn Selbstvertretenden bildet die Legislative. «Es ist das Herz des Dispositivs», fasst Marie-Anne Cristuib zusammen, die die wenigen jährlichen Sitzungen der Kommission leitet. Diese Instanz spielt in der Tat eine zentrale Rolle: Sie bearbeitet Themen im Zusammenhang mit der Prävention von Misshandlung und Förderung von «Bientraitance», um die Rücksichtnahme auf die Bewohnerinnen und Bewohner sowie gute berufliche Praktiken zu fördern. Sie wählt Madame und Monsieur SOS, unterstützt sie und bewertet deren Arbeit. Sie validiert Änderungen von Texten oder Verfahren des Dispositivs. Vor allem leiten die Mitglieder der Kommission Beschwerden oder Vorschläge der Bewohner weiter und weisen das SOS-Tandem auf persönliche Situationen oder Situationen in der Einrichtung hin, die sie als misshandelnd empfinden.

Frédéric Lüscher ist seit der Gründung 2010 Mitglied der Kommission Bientraitance. Er ist ein besonnener, aufmerksamer und entgegenkommender Mann, dem viel am guten Zusammenleben und gegenseitigen Verständnis liegt. Er mag Menschen und setzt sich entschieden für sie ein. Er beobachtet und hat stets ein Ohr für seine Mitbewohnenden. Schwere Misshandlung hat er noch nie erlebt. «Ich bin vor allem da, um zu sensibilisieren und die Wogen zu glätten», meint er. Er berichtet auch von zwei Massnahmen der Kommission, die zeigen, wie sehr «Bientraitance» oder fehlende «Bientraitance» manchmal eine Frage der Sensibilität ist, die nicht unterschätzt werden darf. Die erste betrifft eine Umbenennung: Die Bewohnerinnen und Bewohner fühlen sich als Erwachsene, die keine Erziehung mehr benötigen. Daher haben sie darum gebeten, dass die Erzieherinnen und Erzieher künftig Begleiterinnen und Begleiter genannt werden. Die zweite Massnahme bezieht sich auf die Einführung eines schriftlichen Verfahrens zur Handhabung beruflicher Anrufe, die das Personal während der Mahlzeiten entgegennimmt – aus Rücksicht gegenüber den Bewohnenden.

Ein Machtwechsel

Mit Freude stellt Frédéric Lüscher fest, dass die Bewohnenden seit der Einführung des Dispositivs «Bientraitance» mehr Gehör finden und bei Beschlussfassungen stärker berücksichtigt werden. Marie-Anne Cristuib spricht ohne Zögern von einem Machtwechsel. «Die Institutionalisierung als solche ist eine Quelle der Misshandlung. Die Bewohnerinnen und Bewohner haben sich die Personen, mit denen sie zusammenleben, nicht ausgesucht. Daher ist es wichtig, dass sie frei ihre Ablehnung äussern können, sagen, was ihnen nicht passt, und ihre Erwartungen vorbringen können.» In ihren Augen erfolgt «Bientraitance» auch dadurch, dass die Lebensgewohnheiten der einzelnen Menschen entsprechend dem Modell der menschlichen Entwicklung – Entstehungsprozess Behinderung (MDH-PPH), das die Einrichtung übernommen hat, respektiert werden. Das Ganze ist umso schwieriger, als die nicht immer miteinander kompatiblen Lebensgewohnheiten der beiden im «Le Foyer» lebenden Personengruppen miteinander vereinbart werden müssen. «Manche Gewohnheiten sind atypisch», erklärt Marie-Anne Cristuib. «Personen mit ASS äussern ihre Freude durchaus auch durch Schreie. Diese Schreie können jedoch Ängste und gewaltsame Reaktionen bei blinden und sehbehinderten Menschen mit geistiger Beeinträchtigung hervorrufen.»

Es ist also viel Informations- und Sensibilisierungsarbeit erforderlich, um das gegenseitige Verständnis zu fördern und Krisen und komplexe Situationen zu verhindern. Aber die Koordinatorin des Dispositivs «Bientraitance» zeigt sich optimistisch. Eines Tages kam ein Bewohner zu ihr und sagte: «Wenn Sie nichts unternehmen, werde ich ihn schlagen.» Er bezog sich dabei auf jemanden aus dem ASS-Sektor, dessen Schreie er nicht mehr ertrug. «Das Bewusstsein, dass er das Recht hat, uns zu sagen, dass das nicht mehr geht – dass er kein Opfer ist, sondern durchaus Aggressor werden könnte: Das ist ein gutes Beispiel für den Erfolg unseres Dispositivs «Bientraitance».
 


 

Foto: amn