GEWALT | Neu für alle: Digitaler Bündner Standard

08.02.2023 Claudia Weiss

Der Bündner Standard, 2011 in Institutionen des Kinder- und Jugendbereichs entstanden, unterstützt diese darin, Grenzverletzungen zu vermeiden und Geschehenes aufzuarbeiten. Jetzt entwickelt er sich: Ab Frühjahr ist der Standard online verfügbar und kann neu auch für Institutionen im Bereich Alter oder Behinderung, aber auch für Sportvereine und Regelschulen genutzt werden.

Eingebettet in eine schöne Garten­anlage, mit Blick auf die umliegenden Bündner Berge, liegen das Schulheim und die Verwaltung der Stiftung «Gott hilft» in Zizers. In den verschiedenen Institutionen der Stiftung finden seit 100 Jahren Kinder und Jugendliche aus schwierigen Verhältnissen oder mit besonderen Bedürfnissen ein neues Zuhause. In Graubünden, unter dem Bündner Spital- und Heimverband, entstand vor einem Dutzend Jahren auch ein Instrument namens «Bündner Standard», welches mittlerweile schon unzähligen Institutionen Richtlinien für einen professionellen Umgang mit Grenzverletzungen im Kinder- und ­Jugendbereich gibt. Dieses hat sich in der Praxis sogar derart gut bewährt, dass es künftig nicht nur für sozial­pädagogische Einrichtungen, sondern auch für Regelschulen, Sportvereine, Alterspflege- und andere Institutionen angewandt werden soll.

Dafür geht der Standard, der bisher als gedrucktes Handbuch in Form ­eines grossen Ordners bestellt werden konnte, neue Wege: Das Angebot wird künftig digital verfügbar gemacht. Die Website ist bereits als «Lightversion» online und wird laufend ergänzt. ­Damit die Lancierung im Frühjahr stattfinden kann, arbeiten die Mitglieder des Kernteams zurzeit intensiv ­daran: Sie bereiten die Unterlagen für die Digitalisierung auf und adaptieren sie, damit der erweiterte Bündner Standard neu in verschiedenen Bereichen genutzt werden kann.

Digital heisst auch flexibel

Diese Modernisierung sei nötig, erklärt Bässler: Der Ordner sei zwar praktisch handhabbar gewesen, aber eben auch statisch. «Die Digitalisierung erlaubt uns jetzt, die Inhalte laufend weiterzuentwickeln und beispielsweise auch eine Plattform zum Erfahrungsaustausch anzubieten.» Und, wie sich gezeigt hat, ist auch eine konstante Begleitung sehr gefragt: «Diese hilft uns, die Qualität zu erhalten, indem wir Einführungs- und Weiterbildungsangebote zum Standard aufschalten können», erklärt Bässler.

Die grösste Stärke des Standards bleibe aber auch in Zukunft, dass er dank seiner Rundumsicht für alle beteiligten Personen präventiv wirke, ergänzt Beat Zindel, Mitglied des Kernteams. «Ausserdem funktioniert er ganz einfach, nach dem Prinzip aus der Praxis für die Praxis.» Neuerdings aber soll er flexibel auf die Bedürfnisse und Gegebenheiten der jeweiligen Zielgruppen angepasst werden können. Im Lauf der Jahre ist zudem unübersichtlich geworden, wie viele Institutionen den Standard überhaupt anwenden – und in welcher Form.

«Der Bündner Standard soll ein Mittel zur Prävention und Aufarbeitung sein und nicht als Bestrafung oder als ­Druckmittel eingesetzt werden.»

Martin Bässler, der wie alle Mitglieder des Kernteams bereits die Grundlagen des ursprünglichen Bündner Standards erarbeitet hat, findet allerdings wichtig, dass alle den Standard auch so anwenden, wie er gedacht ist: «Er soll ein Mittel zur Prävention und Bearbeitung sein und nicht als Bestrafung oder als Druckmittel eingesetzt werden.» Insgesamt sei die Schwelle für Grenzverletzungen heute niedriger als vor Jahren, der Druck grösser, die Frustrationstoleranz geringer. Das, findet Bässler, sind gute Gründe dafür, ein Instrument zu verfeinern, das hilft, die Grundhaltung einer Institution zu prägen und sie im Handhaben schwieriger Situationen zu unterstützen.

Bis alles online ist, werden Martin Bässler und Beat Zindel mit den anderen Mitgliedern des Kernteams noch unzählige Stunden Denkarbeit in ihr Projekt stecken. Grundlage des Standards bleibt zwar weiterhin die Einteilung von Grenzverletzungen in vier Stufen von «Alltägliche Situationen» über «Leichte Grenzverletzung» und «Schwere Grenzverletzung» bis «Massive Grenzverletzung».

Wichtige Kernelemente wie der Raster zur Einstufung von Grenzverletzungen bleiben bestehen, ebenso die Einteilung in die verschiedenen Ebenen – also beispielsweise die Ebene Jugendliche untereinander, Jugendliche gegenüber Betreuungsperson oder Betreuungspersonen gegenüber Jugendlichen – sowie die zu den jeweiligen Grenzverletzungen definierten Massnahmen. Aber die Begriffe sind neutral gewählt, in der Basisversion heisst es nun «Adressat» oder «Person in Verantwortung», je nach Bereich können in den auf die Zielgruppe adap­tierten Versionen dafür die Begriffe «Schülerin und Schüler» und «Lehrperson» eingesetzt werden oder eben «Bewohnerin und Bewohner» und «Betreuungsfachperson».

Basisversion zum Anpassen

Die bisherigen Grundlagen des Standards haben Bässler und Zindel mit dem Kernteam ergänzt und genauer definiert. Dazu gehören beispielsweise «Werte und Haltungen», «Kodex der nicht tolerierbaren Handlungen», Instrumente wie «Erfassungsformulare» oder «interne und externe Meldestelle». Diese insgesamt elf Faktoren bilden die Kernelemente der neuen Basisversion, die neu speziell auf bestimmte Zielgruppen angepasst werden können. Beispielsweise für Kinder- und Jugend­institutionen, Institutionen für Menschen mit Behinderung, Schulen, Sportvereine oder Institutionen für Menschen im Alter. Ist die Zielgruppe definiert, lässt sich der Standard noch weiter verfeinern und auf die jeweilige Organisation anpassen.

Diese Feinanpassung für die einzelnen Institutionen und Organisationen, schon bisher zentral, wird umso wichtiger, damit der Standard auch ausserhalb des sozialpädagogischen Rahmens Sinn macht: Während beispielsweise eine Betreuungsperson in einer Sonderschule für schwer autistische Kinder mit herausforderndem Verhalten damit rechnen muss, dass ein Kind aus der Not heraus körperlich aggressiv reagiert oder an den Haaren reisst, ist das in einer Regelschule nicht zu erwarten.

«Das heisst natürlich nicht, dass in einer Sonderschule im Stellenbeschrieb steht ‹darf angegriffen werden›», stellt Martin Bässler klar. Aber den Tatsachen müsse Rechnung getragen werden und die Abhilfe in einem anderen Schritt folgen: «Eine wichtige Rolle spielt, wie die Betreuungsperson mit ihrem Problem aufgefangen wird. Und was sie an Unterstützung erhält, damit die Situation für sie ertragbar wird.»

«Nur schon über Grenzverletzungen zu reden, ist ein wichtiger Fortschritt und wirkt präventiv.»

Neu Stiftung Bündner Standard

Beat Zindel wurde auch schon gefragt, ob es nicht schade sei, dass das Instrument nur reaktiv eingesetzt werden könne. Dann erklärt er jeweils: «Der Standard soll zeigen, wie man mit einer Grenzverletzung umginge, wenn sie passieren würde, was man unternehmen soll, wenn sie passiert ist – aber auch, was es braucht, damit keine Grenzverletzung passiert. Er ist also unbedingt auch präventiv.»

Nur schon, über Grenzverletzungen zu reden und sich intern Gedanken zur Hand­habung zu machen, sei schon ein wichtiger Fortschritt, betont Zindel: «Institutionen müssen sich weitreichende Gedanken über ihre Abläufe machen und wissen, welche Werte bei ihnen zählen.» Weil die neue Version für diverse Institutionen gelten soll, passt der Bündner Standard nicht mehr in das Haupt­geschäft des ursprünglichen Herausgebers, des Bündner Spital- und Heimverbands. Ausserdem ist die neue Plattform nicht nur punkto Finanzen intensiv, sondern auch was den Aufwand anbelangt, denn sie muss stets weiterentwickelt und betreut werden.

Um die Erweiterung aufzufangen und die Sicherung der Finanzen zu gewährleisten, wurde letztes Jahr neu die «Stiftung Bündner Standard zur Prävention und Bearbeitung von grenzverletzendem Verhalten – zum Schutz der Integrität von Menschen» gegründet.

Ein amüsantes Detail am Rande: Zindel, Präsident des neuen Stiftungsrats, kommt aus dem Kanton St. Gallen, Bässler, der Vize, ursprünglich aus dem Bernischen Beatenberg. Eigentlich entstand also der Bündner Standard einst aus den Ideen eines St. Gallers und eines Berners – unterstützt von der Bündnerin Angela Hepting und dem Zürcher Jörg Leeners.

Für klare Handlungssicherheit

Das allerdings ist längst irrelevant, denn der Standard hat sich inzwischen weit über die Grenzen von Zizers verbreitet und ist in der ganzen Deutschschweiz und sogar in Deutschland und Österreich bekannt geworden.

Martin Bässler, selber Sozialpädagoge, weiss aus dem Berufsalltag, wie schnell Grenzverletzungen passieren können. «In einer Institution mit Jugendlichen, die oft extreme Geschichten hinter sich haben, geschieht das leider nur allzu rasch», sagt er. Eine Schlägerei unter Jugendlichen oder impertinentes Verhalten von Jugendlichen gegenüber Betreuungspersonen – einige Arten von Grenzverletzung liessen sich kaum verhindern. «Sie müssen aber professionell behandelt und aufgearbeitet werden.» Andere Grenzverletzungen hingegen – jene von Betreuungspersonen gegenüber ihren Schützlingen – sollen gar nie aufgearbeitet werden müssen: «Diese gilt es unbedingt zu verhindern.» Diese Gefahr zu minimieren, gelingt erst, wenn sich Institutionen über ihre Werte und Haltungen im Klaren seien.

«Vor 20 Jahren war das Thema bei Institutionen und Aufsichtsbehörden noch kaum präsent, vor 10 Jahren geriet es erst so richtig ins Bewusstsein.»

Werte und Haltungen waren in den Institutionen zwar vorhanden. Aber dass die Urversion des Bündner Standards im sozialpädagogischen Bereich entstand, hatte einen konkreten Anlass: In den Schulheimen war es zu einem Vorfall von sexueller Gewalt unter ­Jugendlichen gekommen, und nachdem der «Fall H. S.» in Bern die sozialpädagogische Welt erschüttert hatte, kam es in der betroffenen Institution ebenfalls zu einem ziemlichen Medienrummel. Da zeigte sich, dass auch dort zu dieser Zeit ein geeignetes Instrument fehlte, um eine solche Situation souverän zu meistern. «Vor 20 Jahren war das Thema bei Institutionen und Aufsichtsbehörden noch kaum präsent, vor 10 Jahren geriet es erst so richtig ins Bewusstsein», erklärt Martin Bässler.

In verschiedenen Institutionen – auch in denen der Stiftung «Gott hilft» – hatte er zwar bereits im Lauf der vorhergehenden Jahre nach und nach einzelne Abläufe für den Fall von Grenzverletzungen erarbeitet. Aber klar definierte Schritte, die allen Mitarbeitenden echte Handlungssicherheit verliehen, fehlten dennoch.

«Der Standard verleiht allen eine gemeinsame Sprache.»

Online und stets «up to date»

Das sollte sich ändern, verlangte die Konferenz Kinder und Jugend des Bündner Spital- und Heimverbands: Ein einheitliches Instrument war gefordert, mit dem Vorfälle erfasst, bewertet und verschiedenen Schwere-Kategorien zugeordnet werden können.

2011 publizierte der Bündner Spital- und Heimverband zusammen mit der Konferenz Kinder und Jugend die erste Version des Handbuchs. Längst müssen sich im Kanton Graubünden alle Institutionen im Kinder- und Jugendbereich an dessen Standards halten. Auch der Kanton Bern empfiehlt inzwischen den Bündner Standard in seinen «Richtlinien zur Meldung, Bewilligung und Aufsicht von stationären und ambulanten Leistungen für Kinder und Jugendliche» als «erprobtes Instrument». Der grosse Vorteil sei, erklärt Bässler: «Der Standard verleiht allen eine gemeinsame Sprache.»

Inzwischen ist die zweite, aktualisierte und erweiterte Auflage von 2017 ausverkauft. Und der neue digitalisierte Standard wächst weit über seine anfängliche Bestimmung hinaus. Er war bei seiner Erscheinung 2011 richtungsweisend und bleibt dank der Online-­Version auch künftig «up to date».

Inmitten der massiven und beständigen Bergketten im Kanton Graubünden entstand so ein Bündner Produkt, das jung und flexibel bleibt und soziale ­Institutionen darin unterstützt, Grenzverletzungen zu vermeiden. Oder ­zumindest professionell damit umzugehen.


Digitalisierter Bündner Standard

Damit der Bündner Standard künftig als digitale Lösung für vielfältige Zielgruppen angeboten werden kann, wird er an die Anforderungen einer digitalen Lernplattform adaptiert. Das Kernteam ist dasselbe geblieben, mit Martin Bässler und Beat Zindel haben Angela Hepting und Jörg Leeners gemeinsam die ursprüngliche Version entwickelt. Heute sind sie unter anderem für die Weiterentwicklung innerhalb der Stiftung ­Bündner Standard zuständig. 

Die Website ist als Lightversion bereits online. Sie wird laufend ergänzt und aktualisiert. Ab dem Frühling können Interessierte den Standard abonnieren und damit Angebote wie Aus- und Weiterbildungen und fachlichen Austausch nutzen.

www.buendner-standard.ch


Auf dem Foto: Die Gesichter hinter dem Bündner Standard: Beat Zindel, Angela Hepting und Martin Bässler (von links) prägten die ursprüngliche Version und arbeiten auch im Kernteam des digitalen neuen Standards mit.

Foto: CW