FREIWILLIGENARBEIT | Sie ermöglichen Betagten, zuhause zu wohnen

24.07.2024 Tanja Aebli

Die Idee, ältere Menschen in deren eigenen vier Wänden zu unterstützen, sei während der Covid-Pandemie entstanden, erinnert sich Steven Weill, der die Aareperle seit fünf Jahren leitet. Die anvisierte Nachbarschaftshilfe in der Region wollte bestehende Angebote anderer Anbieter wie Pro Senectute nicht konkurrenzieren, sondern Lücken schliessen. Mit dem Ziel, dass Betagte so lange wie möglich in einem Umfeld wohnen können, mit dem sie vertraut sind.

In enger Zusammenarbeit mit Benevol AG und der kantonalen Fachstelle für Altersfragen reichten die Verantwortlichen der Aareperle bei Swisslos ein Gesuch ein. Und zogen das grosse Los: Mit dem zugesicherten Betrag konnte während dreier Jahre eine 30-Prozent-Koordinationsstelle für die Freiwilligenarbeit finanziert werden. Mehr als die Hälfte dieser Zeit ist um. Zeit für eine Zwischenbilanz.

Kaffee trinken, spazieren, vorlesen

«Das neue Angebot kommt bei der Zielgruppe gut an; gerade die Nachfrage im Bereich Nachbarschaftshilfe steigt kontinuierlich», freut sich Steven Weill. Manchmal sind es die erwachsenen Kinder, die anrufen oder eine E-Mail schreiben, manchmal die Betroffenen selbst. Die enge Zusammenarbeit mit Sozialdiensten und Hausärztinnen und -ärzten hilft ebenso, dass das kostenlose Angebot in der Region immer bekannter wird. Aber auch in der Aareperle selbst sind die Plakate der Freiwilligen-Koordinationsstelle nicht zu übersehen. Gesellschaft leisten oder kleinere Hilfestellungen im Alltag erbringen, insbesondere im administrativen oder digitalen Bereich – das sind die aufgelisteten Interventionsfelder im Rahmen der Nachbarschaftshilfe.

«Die Menschen werden immer älter. Aber auch immer einsamer. Hier sind wir als Gesellschaft, aber auch als Pflegeinstitution gefordert.» Steven Weill, Institutionsleiter Aareperle

«Wir sehen uns als offenes Haus, als einen Ort der Begegnung», umreisst Steven Weill die Philosophie der Aareperle. Mit der Freiwilligenvermittlung will die Institution, die nach einer Totalsanierung im Jahr 2023 einen neuen Namen trägt, auch einem sozialen Auftrag nachkommen. «Die Menschen werden immer älter. Aber auch immer einsamer. Hier sind wir als Gesellschaft und als Pflegeinstitution gefordert», so Weill. Das neue Freiwilligenprojekt soll Vorzeigecharakter haben und innovative Ansätze im Umgang mit dem demografischen Wandel liefern. Die Nachbarschaftshilfe und die Freiwilligeneinsätze innerhalb der Institution seien zwar kein Ersatz für Fachkräfte, schafften aber dennoch einen klaren Mehrwert für Betagte, zeigt sich der Institutionsleiter überzeugt.

Sinnstiftende Tätigkeit nach der Pensionierung

Derzeit sind rund 70 Personen im Freiwilligenpool der Aare­perle aktiv. Der Grossteil davon engagiert sich direkt vor Ort in der Lese-, Strick-, Sing- oder Lottogruppe, im Mahlzeitendienst oder bei Projekten, die sie selbst ins Leben rufen, wie den kürzlich initiierten Männerstammtisch. Der «klassische» Freiwillige ist pensioniert, pflegt einen aktiven Lebensstil, will einer sinnstiftenden Tätigkeit nachgehen, sich aber auch nicht allzu stark binden, um weiteren Interessen nachgehen zu können.

Rund ein Dutzend Personen aus diesem Pool leisten ihre Einsätze im Rahmen der Nachbarschaftshilfe. Wo liegen die Unterschiede? Die Frage geht an Nadia Zanchi, die umtriebige Freiwilligenkoordinatorin im Haus, deren Türen immer offenstehen. «Unsere Freiwilligen, die Betagte zuhause aufsuchen, sind bei ihren Einsätzen stärker auf sich allein gestellt. Sie tragen eine grössere Verantwortung», sagt sie. Die ausgebildete Kulturmanagerin hat ihre Tätigkeit im März 2022 aufgenommen, schreibt im Rahmen ihres 30-Prozent-Pensums Konzepte, schaltet Inserate, führt Gespräche, nimmt Anfragen entgegen, organisiert die Einsätze, kümmert sich um kurzfristige Vakanzen – kurz: Sie ist die Anlaufstelle für alle Fragen und Anliegen rund um Freiwilligenarbeit. Und von diesen gibt es viele.

Intuition und Information

Wie findet sie heraus, ob ein Freiwilliger den Anforderungen gerecht wird und wie aus zwei Individuen ein Team wird? «Wichtig sind die Erstgespräche», sagt sie. «Hier versuche ich herauszufinden, wieso sich jemand engagieren will. Ich zeige auf, welches die schönen Seiten, aber auch die Herausforderungen dieses Engagements sind.» Einige springen wieder ab, andere bleiben im Rennen. Für sie sucht Nadia Zanchi einen Ort, wo ihre Fähigkeiten zum Tragen kommen – direkt in der Aareperle oder in der Nachbarschaftshilfe.

«Die Freiwilligen sind nicht für das Leben von jemand anderem verantwortlich. Es ist wichtig, Nein sagen zu können und sich vor Überforderung zu schützen.» Nadia Zanchi, Freiwilligenkoordinatorin Aareperle

«Ein gut begleiteter Einstieg ist wichtig, gerade bei Einsätzen im Rahmen der Nachbarschaftshilfe», weiss Nadia Zanchi. Beim ersten Treffen zuhause sind idealerweise auch Angehörige zur Stelle, damit wichtige Informationen fliessen und die gegenseitigen Erwartungen geklärt werden. ­Merkblätter und weitere Tools, die laufend eingeführt bzw. optimiert werden, vereinfachen die Abläufe ebenso. Manchmal gingen «Basics» vergessen, wie etwa einem Freiwilligen ein Glas Wasser oder einen Sitzplatz anzubieten, so Zanchi, die hier mit einem neuen Merkblatt für Leistungsbezüger Gegensteuer geben will.

Eigene Grenzen wahrnehmen

Nadia Zanchi gibt den Freiwilligen dort, wo nötig, Rückendeckung und ist zur Stelle, wenn es knifflig wird. «In 90 Prozent der Fälle tauchen keine Probleme auf», so ihre Erfahrung nach über zwei Jahren in dieser Position. Ein Thema, das bei den Einsätzen immer wieder zur Sprache kommt, ist die Abgrenzung. «Die Freiwilligen sind nicht für das Leben von jemand anderem verantwortlich. Es ist wichtig, auch Nein sagen zu können und sich vor Überforderung zu schützen», hält sie fest.

Was die Freiwilligen auch rege nutzen, sind die Veranstaltungen, die die Aareperle eigens für sie organisiert, wie den jährlichen Ausflug, das Neujahrsapéro oder die regelmässigen «Freiwilligenkafis» im Bistro der Aareperle, wo plaudern und sich austauschen angesagt ist. Vergünstigungen, In-house-Weiterbildungen oder Gratistickets sind weitere Formen der Anerkennung. Nadia Zanchi: «Wir versuchen, den Freiwilligen immer wieder Wertschätzung zu zeigen, leisten sie doch einen ungeheuer wichtigen Einsatz für Menschen im hohen Alter und im Kampf gegen Isolation und Einsamkeit.»
 


Rita Spuhler: «Die richtige Balance finden»

Jeden Montag von 14 bis 17 Uhr ist Rita Spuhler ganz in ihrem Element. Kleine Strasse, Dreierpasch, Full House: Die 90-jährige Frau, die Rita Spuhler seit rund einem halben Jahr wöchentlich aufsucht, würfelt fürs Leben gern. Dass sie mit jemandem «pläuderlä» und spielen kann, weiss die vife, unternehmenslustige Seniorin ungemein zu schätzen. Denn seit Sehkraft und Hörsinn weiter nachgelassen haben, hat sich ihr Aktionsradius nochmals dramatisch verkleinert. Weil es zuhause nicht mehr klappte, wohnt die betagte Frau seit kurzem in einer Institution in Zurzach. Doch so richtig heimisch ist sie dort noch nicht geworden: Rita Spuhler, die sie bereits im eigenen Domizil aufgesucht hat und jetzt auch am neuen Ort zur Stelle ist, bildet eine der wenigen Konstanten in diesen von Umbrüchen geprägten Zeit.
Für Rita Spuhler ist klar: Den Montag möchte sie keinesfalls missen. «Es kommt so viel zurück, es ist so viel Dankbarkeit da.» Und doch sei es auch wichtig, eine gewisse Distanz zu wahren, damit das Engagement nicht zur Belastung werde. Vielen Hochbetagten fehlten die sozialen Kontakte und Möglichkeiten, um mit andern zu reden.
Diese Erkenntnis ist nicht nur einfach: «Zu wissen, dass die Person, die ich begleite, sich viel mehr Aussenkontakt und Austausch wünscht, kann zu einem gewissen Druck führen.» Ihr helfe es, nach dem Einsatz jeweils mit ihrem Mann zu sprechen, um schwierige Themen zu verarbeiten. Und sich selber nicht zu viel aufzubürden – weder zeitlich noch emotional. Froh ist sie auch, dass es unter den Freiwilligen immer wieder Anlässe zum informellen Austausch gibt und sie sich bei Problemen an die Freiwilligen-Koordinatorin der Aareperle wenden kann.
 


Klaus Wolter: «Ich möchte etwas zurückgeben»

«Als ich mich vor zwei Jahren frühpensionieren liess, wollte ich mich in irgendeiner Weise engagieren», erinnert sich Klaus Wolter, ein passionierter Sportler und Familienmensch, der zeit seines Lebens vollzeitlich gearbeitet hat. «Ich möchte so etwas zurückgeben, weil es das Leben mit mir bisher wirklich gut gemeint hat.» Seit einigen Monaten begleitet er eine 91-jährige Frau aus der Region auf ihren Spaziergängen mit Rollator. Eine anspruchsvolle Aufgabe, zumal ihr Gang wegen Knieproblemen unsicher ist und sich ihre Altersdemenz zusehends verschlimmert.

«Ich muss wirklich voll und ganz bei der Sache sein», so Wolter. Mit seinen Einsätzen entlastet er auch den 94-jährigen Ehemann und die drei Söhne, die sich aufgrund eigener gesundheitlicher Probleme oder beruflicher Verpflichtungen nicht um die Eltern kümmern können. Und hin und wieder springt er auch in anderer Mission beim Ehepaar ein, wie unlängst, als er half, eine Einladung am Computer zu finalisieren.

Klaus Wolter kommt seine Erfahrung im Umgang mit Demenz jetzt zugute – bereits seine Mutter hatte damit zu kämpfen. «Ich spreche auf den Spaziergängen viel von früher, das mag sie», umreisst er seine Strategie. Dennoch: Einiges sei auch belastend und gehe nicht spurlos an ihm vorbei, räumt er ein. Gedanken ans eigene Älterwerden mache er sich schon. Aber Aufhören ist keine Option: «Die Frau ist wirklich froh, dass ich komme.»

Doch damit nicht genug: Klaus Wolter hat noch einen zweiten Freiwilligenjob in der Aareperle selbst. Einmal im Monat heisst es, Karten und Abdeckplättchen verteilen, Zahlen überprüfen und sich um «seine» Leute am Tisch kümmern. Ein Einsatz, der ihm viel bedeutet: «Die freuen sich jedes Mal so aufs Spielen und halten mir immer den gleichen Platz frei», sagt er lachend. Er gilt an seinem Tisch als Glücksbringer par excellence.
 


 

Foto: Marco Zanoni