FREIWILLIGENARBEIT | «Freiwilligenarbeit in der Schweiz nimmt nicht ab»

24.07.2024 Salomé Zimmermann

Freiwilligenarbeit bringt Menschen zusammen, schafft Kontakte und eröffnet Partizipationschancen. Der Wert der ehrenamtlichen Arbeit umgerechnet in Zahlen würde Milliardensummen ergeben, sagt Markus Lamprecht. Er ist verantwortlich für den Schweizer Freiwilligen-Monitor – und gibt im Interview Auskunft darüber, wie zufrieden Ehrenamtliche mit ihrer Tätigkeit sind.  

Herr Lamprecht, wie definieren Sie Freiwilligenarbeit?  

Im Freiwilligen-Monitor wird Freiwilligenarbeit anhand von drei Kriterien definiert. Diese Kriterien sind auch in der Definition des Bundesamtes für Statistik enthalten. Erstens ist Freiwilligenarbeit freiwillig und unbezahlt. Damit grenzen wir Freiwilligenarbeit von der Erwerbsarbeit ab. Kleinere Spesen- und Aufwandsentschädigungen sind allerdings auch in der Freiwilligenarbeit gang und gäbe. Zweitens muss das freiwillige Engagement Menschen ausserhalb des eigenen Haushalts zugutekommen. Dies unterscheidet Freiwilligenarbeit von der familiären Care-Arbeit. Drittens muss die Freiwilligenarbeit für andere Personen einen Nutzen haben und einen gemeinnützigen Beitrag leisten. Zusätzlich unterscheiden wir im Monitor zwischen informeller und formeller (oder institutioneller) Freiwilligenarbeit. Letztere findet im Rahmen von Vereinen und Organisationen statt. Wenn es sich dabei um ein klar definiertes Amt handelt, spricht man von ehrenamtlicher Arbeit. 

 

Welche Bedeutung hat ehrenamtliche Arbeit in der Schweiz?  

Eine Schweiz ohne Freiwilligenarbeit kann man sich kaum vorstellen. In der Politik, bei den Hilfswerken und Kirchen, in sozialen Bewegungen, bei vielen Freizeitaktivitäten, im Pflegebereich oder bei der Nachbarschaftshilfe. Wo wir auch hinblicken: Überall spielt Freiwilligenarbeit eine wichtige Rolle.  

 

Wie steht die Schweiz im Vergleich zu anderen Ländern da? 

Internationale Vergleiche sind nicht ganz einfach, weil es unterschiedliche Definitionen gibt und Freiwilligenarbeit unterschiedlich erhoben wird. Und bei den grossen EU-Studien zu Volunteering ist die Schweiz nicht dabei. Gemäss Freiwilligen-Monitor leisten 39 Prozent der Schweizer Bevölkerung im Alter ab 15 Jahren formelle Freiwilligenarbeit. Damit würden wir leicht hinter den EU-Spitzenreitern Schweden, Niederlande und Österreich, aber noch vor Dänemark, Deutschland und Finnland liegen. Der Spitzenplatz der Schweiz erklärt sich auch mit der sehr hohen Vereinsdichte hierzulande. In der Schweiz gibt es je nach Schätzung 80'000 bis 100'000 Vereine, die alle auf Ehrenamtliche und freiwillige Helfende bauen.  

 

  «Auffällig ist die hohe Zufriedenheit der Ehrenamtlichen. Die grosse Mehrheit würde das jetzige Amt nochmals übernehmen, wenn sie erneut wählen könnten.» Markus Lamprecht

 

Wie sähe die Schweiz ohne Freiwilligenarbeit aus und welchen Wert hat die Freiwilligenarbeit, emotional und finanziell?  

Ohne Freiwilligenarbeit würde eine tragende Säule unseres Gemeinwesens wegbrechen, die Folgen wären verheerend. Freiwilligenarbeit ist aber nicht nur für die Gesellschaft und den sozialen Zusammenhalt von unbezahlbarem Wert, sie kann auch für die Freiwilligen selbst ein grosser Gewinn sein. Freiwilligenarbeit bringt Menschen zusammen, schafft Kontakte und Freundschaften, erweitert den Horizont, stärkt das Selbstwertgefühl und eröffnet Partizipationschancen. In Freiwilligenorganisationen kann man nicht nur seine Kenntnisse und Fähigkeiten erweitern, man lernt demokratische Spielregeln, Solidarität und Kompromissbereitschaft und gewinnt Vertrauen in seine Mitmenschen und in die Institutionen. Die vielen positiven Effekte eines freiwilligen Engagements konnten auch im Freiwilligen-Monitor nachgewiesen werden. Dagegen haben wir bewusst darauf verzichtet, den Wert von Freiwilligenarbeit monetär zu beziffern. Würde man es machen, käme man zweifellos auf Milliardensummen.  

 

Welche Bedeutung hat ehrenamtliche Arbeit im Dienst von Menschen mit Unterstützungsbedarf? Und sind die Freiwilligen hauptsächlich mit alten oder eingeschränkten oder jugendlichen Menschen tätig?  

Sie hat eine sehr grosse Bedeutung. Wir haben die Personen, die Freiwilligenarbeit innerhalb von Vereinen und Organisationen leisten, gefragt, für welchen Personenkreis oder für welche Zielgruppe sie sich hauptsächlich engagieren würden. Ein Achtel der formell Freiwilligen engagiert sich für behinderte und pflegebedürftige Menschen. Dazu engagieren sich 10 Prozent für Migrantinnen und Migranten und Flüchtlinge und 9 Prozent für finanziell oder sozial schlechter gestellte Personen. Schliesslich engagieren sich 21 Prozent generell für ältere Personen und sogar 39 Prozent für Kinder. Dazu kommt die informelle Freiwilligenarbeit ausserhalb von Vereinen und Organisationen. Hier steht die Betreuung von Kindern an erster Stelle vor der Betreuung und Pflege von Betagten, der Pflege von Kranken sowie der Betreuung von Menschen mit einer Behinderung.  

 

Arbeiten Freiwillige auch in Institutionen für Menschen mit Unterstützungsbedarf?  

Zweifellos, allerdings haben wir dazu keine handfesten Zahlen. Wir sehen aber zum Beispiel wo und von wem Ehrenamtliche und freiwillige Helfende gesucht werden. Da gibt es sehr viele Institutionen für Menschen mit Unterstützungsbedarf, die Freiwillige für die unterschiedlichsten Aufgaben suchen. Sehr viele Freiwillige werden für gemeinsame Freizeitaktivitäten und Fahrdienste gesucht, aber auch für andere Aufgaben wie zum Beispiel Treuhanddienste.  

 

Wer organisiert freiwillige Arbeit im institutionellen Bereich in der Schweiz?  

Zuerst sind es einmal die unzähligen Vereine und Non-Profit-Organisationen. Diese werden ihrerseits unterstützt durch staatliche und private Förderer. Eine wichtige Rolle für die Vernetzung und die Suche nach Freiwilligen spielt beispielsweise «benevol» – die Dachorganisation der regionalen Fachstellen für freiwilliges Engagement in der Schweiz. Schliesslich kann ich auch die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft erwähnen, welche zusammen mit dem Migros-Kulturprozent und der Beisheim-Stiftung den Monitor finanziert, und sich auch sonst für die Förderung der Freiwilligenarbeit einsetzt. Gerade bei Institutionen für Menschen mit Unterstützungsbedarf ist eine sorgfältige Planung und Koordination der Freiwilligenarbeit wichtig, damit die Freiwilligen die richtigen Fähigkeiten und Kenntnisse mitbringen. 

 

Welche Motive haben Leute, freiwillig zu arbeiten und wie sieht es mit Entlöhnung aus? 

An erster Stelle stehen der Spass und die Freude an der jeweiligen Tätigkeit. An zweiter Stelle folgen soziale Motive: Man kann bei der Freiwilligenarbeit andere Menschen treffen, man möchte anderen Menschen helfen oder etwas mit anderen bewegen. Danach kommen persönliche Motive: Man möchte bei der Freiwilligenarbeit seine Kenntnisse und Fähigkeiten erweitern, sich persönlich weiterentwickeln oder ein persönliches Netzwerk pflegen. Finanzielle Gründe werden nur von ganz wenigen Freiwilligen ins Feld geführt, was natürlich auch daran liegt, dass nur wenige substanzielle Entschädigungen erhalten. Auffällig ist die hohe Zufriedenheit der Ehrenamtlichen. Die grosse Mehrheit würde das jetzige Amt nochmals übernehmen, wenn sie erneut wählen könnten.  

 

Wer arbeitet freiwillig in der Schweiz? Und in welchen Bereichen vor allem? 

Freiwilligenarbeit wird von den verschiedensten Bevölkerungsgruppen geleistet. Bei der formellen Freiwilligenarbeit finden wir etwas häufiger Männer, Personen im Alter von 45 bis 74 Jahren sowie Personen mit höherer Bildung, höherem Einkommen und einem Schweizer Pass. Bei der informellen Freiwilligenarbeit sind die Frauen klar in der Mehrheit. Das Profil der Freiwilligen in Vereinen und gemeinnützigen Organisationen dürfte sich in den nächsten Jahren allerdings ändern. Bei Frauen, jüngeren Personen und den in der Schweiz lebenden Ausländerinnen und Ausländern finden wir eine besonders hohe Bereitschaft, sich zukünftig zu engagieren.  

 

Besteht die Gefahr, dass Politik und Wirtschaft Arbeiten auf Freiwillige abzuwälzen versuchen? 

Ja, die Gefahr besteht und dazu gibt es auch Beispiele. Etwa wenn eine Grossveranstaltung «Recycling-Heros» sucht, welche bei der Abfallentsorgung helfen sollen. Solche Initiativen sind aber häufig wenig erfolgreich. Freiwilligenarbeit muss auch für die Freiwilligen gewinnbringend sein, eben Spass machen oder Sinn und Wertschätzung beinhalten. Das Zusammenspiel von Freiwilligen und bezahlten Mitarbeitern hat sicher seine Fallstricke, klappt in aller Regel aber sehr gut. Nicht vergessen darf man zudem, dass auch viele Aufgaben, die früher von Freiwilligen getragen wurden, professionalisiert und in bezahlte Arbeit überführt wurden. 

 

Wie kann Freiwilligenarbeit gefördert werden?  

Wertschätzung und Anerkennung sind sicher wichtig. Seitens der Kantone, aber auch von Organisationen und Medien werden dazu verschiedene Preise und Auszeichnungen vergeben. Die Vergaben helfen den Wert von Freiwilligenarbeit besser zu würdigen und uns bewusst zu machen, was alles freiwillig und unentgeltlich geleistet wird. Wenn wir die Freiwilligen selbst fragen, stehen öffentliche Anerkennung und Wertschätzung allerdings nicht an erster Stelle. Als Bedingungen für die Übernahme eines Amtes werden häufiger genügend Zeit, ein gutes Thema, eine interessante, erfüllende Aufgabe sowie Flexibilität und ein tolles Team genannt. Als Hinderungsgrund wird neben der mangelnden Zeit auch häufig die Angst vor Verpflichtungen genannt. Das heisst, genauso wichtig wie die gesellschaftliche Anerkennung, ist die Wertschätzung im Team, flexible und angepasste Angebote sowie die Förderung von Partizipation und Integration. Entscheidend ist auch, dass die Freiwilligen persönlich angefragt und überzeugt werden. 

 

Was sind die wichtigsten Resultate des Freiwilligen-Monitors 2020? Und welches sind die überraschendsten Resultate?  

Vieles wurde ja bereits gesagt. Etwas kann ich aber noch hinzufügen: Allen Unkenrufen zum Trotz nimmt die Freiwilligenarbeit in der Schweiz nicht generell ab. Die Suche nach Freiwilligen ist sicher nicht einfacher geworden, es gibt aber nach wie vor ein beträchtliches Potential an Personen, die sich freiwillige engagieren wollen – gerade auch bei jüngeren Leuten oder bei Personen unmittelbar vor der Pensionierung.   

 

Derzeit ist ein aktueller Freiwilligen-Monitor in Entstehung, sind da bereits erste Tendenzen erkennbar? 

Die Erhebung wurde eben erst abgeschlossen. Wir beginnen gerade mit den Analysen und sind sehr gespannt auf die neuesten Ergebnisse und Entwicklungen.  

 

Haben Sie selber schon einmal freiwillig gearbeitet? 

Ja, verschiedentlich: In meiner Jugend war ich als Pfadileiter aktiv, später viele Jahre als Trainer im Volleyball und als Leiter in Jugend-Skilagern. Seit 30 Jahren koordiniere ich ehrenamtlich ein Forschungskomitee der Schweizer Gesellschaft für Soziologie. Und schliesslich kümmere ich mich auch etwas um meine 97-jährige Mutter, wobei ich letzteres nicht wirklich als Freiwilligenarbeit sehe – obwohl es gemäss einer weiten Definition so wäre – und die Hauptarbeit ohnehin von den Pflegenden in ihrem Alterszentrum geleistet wird.  

 


Markus Lamprecht, Dr. phil, studierte Soziologie und Psychologie. Er ist Verwaltungsratspräsident der Sozialforschung und Beratung AG Lamprecht und Stamm. Das Forschungsinstitut leitet in Zusammenarbeit mit dem Befragungsinstitut Link die Erhebung wissenschaftlich.


 

Foto: zvg